Ein älterer Herr hält sich eine Bild-Zeitung vor die Augen.
08. September 2014 Lesezeit: ~5 Minuten

Herzklopfen

Manchmal frage ich mich, was mich antreibt zu fotografieren. Welche Momente es eigentlich ausmachen, täglich aus dem Haus zu schleichen und morgens, nachdem ich die werte Tochter im Kindergarten abgegeben habe, meine Radtour in die Stadt fortzusetzen, die Kamera umzuschnallen und nach Motiven zu suchen.

Es gibt viele davon. Gründe, meine ich. Viele sind sehr offensichtlich und präsentieren sich gerne, wenn nach Ihnen gefragt wird. Zuerst kommt, wer hätte es gedacht, der Spaß in den Sinn, wobei ich den gerne wieder zurück auf seinen Platz stelle, denn Spaß ist ein oberflächlicher Grund.

Darunter verborgen liegt eine Begegnung mit mir selbst. Spaß ist nur ein Ettikett, das nicht tief genug geht, um zu definieren, was in mir vorgeht, wenn ich durch die Straßen von Karlsruhe flaniere.

Ich könnte noch viele weiter Gründe aufzählen, aber ich hege eine starke Abneigung gegenüber Listen, denn sie klingen so verkehrt, militärisch und kalt. Wenn aufgeführte Punkte dann auch noch nummeriert werden, komme ich mir als Leser ein bisschen für dumm verkauft vor.

Nein, ich möchte recht schnell zum Hauptpunkt meiner Reflexion kommen. Es handelt sich dabei um eine Gemütsregung, die mit keiner anderen vergleichbar ist.

Im Titel schon angerissen springt das Wort Herzklopfen ähnlich hysterisch auf wie der Spaß, wenn es angesprochen wird und räkelt sich im Scheinwerferlicht, um hier einmal Titelmusik spielen zu dürfen.

Da lasse ich es nun und schaue es mir etwas genauer an. In dem Wort steckt nämlich, ebenso wie in Spaß, noch mehr.

Es ist ein kurzer Moment, wie ein Nadelstich so dünn, ebenso so intensiv, wie ein Auto, das viel zur knapp und in hohem Tempo an mir vorbeirast und dann blitzartig verschwunden ist.

Müsste ich all das, was ich zu umschreiben versuche, in einen Satz fassen, wäre es dieser:

DAS IST ES.

Es ereignet sich, wenn ich auf der Straße plötzlich etwas sehe, das ich fotografieren möchte. Zwei, drei oder tausend Dinge passen gut zusammen. Die Bewegung einer Person, eine Geste, ein Lächeln, zwei Farben korrelieren miteinander, oder etwas ganz anderes erregt meine Aufmerksamkeit.

Ich komponiere kurz aus (viel Zeit habe ich auf der Straße selten), suche fix eine gute Perspektive und stelle mit der linken Hand das Objektiv scharf. Ich drücke sofort ab.

Dann passiert es. Das was ich sehe und das was ich tue harmoniert so miteinander, dass sich in mir etwas regt. Aus dem Innersten meiner Seele pulsiert eine Bewegung, die nach draußen drängt – und äußert sich als Herzklopfen.

Und im Denken des Satzes:

DAS! IST! ES!

Dieser Satz ist nicht heuchlerisch, klopft sich nicht gönnerhaft selbst auf die Schulter, als ob ich, Martin, ein so toller Fotograf wäre.

Nein, dieser Satz ist die Aussprache meiner zentralen Motivation, meiner tiefsten Lust an der Sache und zugleich Jubel über das, was jetzt gerade geschieht.

Ich bin einfach glücklich, im Jetzt und Hier, ganz bei mir selbst.

Das ist es.

An dieser Stelle wird der Artikel viele Leute, die bis hierhin mitgeschwärmt haben, enttäuschen. Denn dieser Moment ist sehr, sehr selten.

Er scheint sich manchmal sogar vor mir zu verstecken, sodass ich versuche, ihn einzufangen. Das Verb jagen wird nicht zufällig mit der Straßenfotografie in Verbindung gebracht.

Doch je mehr ich diesen Moment greifen will, ihn vielleicht sogar erzwingen will, desto weiter entfernt er sich von mir. Es scheint mir sogar, dass er immer seltener wird.

Damals, als ich anfing zu fotografieren hatte ich bei jedem Klick das Gefühl, ein tolles Bild zu machen. Überall machte ich aus allen möglichen Perspektiven ein Foto, ganz im Rausch der Möglichkeiten gefangen.

Stunden später am Rechner bemerkte ich enttäuscht, dass meine Euphorie beim Fotografieren nicht deckungsgleich war mit dem, was ich fühlte, wenn ich mir die Bilder in groß auf dem Bildschirm ansah.

Heute drücke ich seltener ab. Ich bekomme in einer Stunde höchstens einen Kleinbildfilm mit 36 Bildern voll.

Fotografieren bedeutet gleichzeitig und innerhalb von Sekundenbruchteilen zu erkennen – einen Sachverhalt selbst und die strenge Anordnung der visuellen wahrnehmbaren Formen, die ihm seine Bedeutung geben. Es bringt Verstand, Auge und Herz auf eine Linie. – Henri Cartier-Bresson

Verstand, Auge und Herz auf einer Linie. Das ist – bei mir – eine Ausnahme. Doch wenn es passiert, weiß ich wieder, warum ich fotografiere.

Bevor ich geneigt bin, ungeduldig diesen Text abzuschließen, möchte ich noch eines hinzufügen: Manchmal fotografiere ich vor mich hin und bemerke gar nicht, dass mir ein Foto gelungen ist.

Doch spätestens beim Sichten der Negative trifft mich dann wortwörtlich ein kleiner Schlag und ich bekomme Herzklopfen. Mal mehr, mal weniger. Aber wenn ich achtsam bin, spüre ich es.

Wenn ich weder beim Fotografieren noch hinterher von einem Bild berührt bin (und das ist bei mir die Regel), dann soll es eben nicht gewesen sein.

Ich fotografiere weiter, immer weiter, und warte. Auf den entscheidenden Moment.

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