27. August 2014 Lesezeit: ~7 Minuten

Ein Bild, hundert Möglichkeiten

Dies soll ein kleines Plädoyer dafür sein, sich über einen längeren Zeitraum mit ein und demselben Foto zu beschäftigen. Zu experimentieren, zu kombinieren, zu schauen, was alles aus einem Foto rauszuholen ist.

Denkt man an „ein Bild, hundert Möglichkeiten“ kommt einem vielleicht erst einmal Photoshop in den Sinn. Digitale Bildbearbeitung kann aus einem Ursprungsfoto so viele neue Versionen schaffen, man braucht nur genügend Ideen und ein bisschen Handwerk. Doch ich glaube, das funktioniert auch analog.

Photoshop habe ich nicht. Ich habe einen Scanner, ein einfaches Umsonstbearbeitungsprogramm, das meine gescannten Vorlagen beschneiden und ein bisschen an den Kontrasten drehen kann, und eine Dunkelkammer. Das reicht mir, um aus einem Foto das Beste rauszuholen und verschiedene Versionen durchspielen zu können.

Auch der Drogeriemarkt an der Ecke tut mit seinem Fotoservice ungewollt sein Möglichstes. Denn – analog Fotografierende werden es kennen – egal wie oft man sein Negativ dort abgibt, man bekommt stets eine andere Version des Abzugs zurück: Mal sind die Ränder beschnitten, mal sind es gesättigtere Farben, mal andere Kontraste. Und manchmal ist das Foto sogar spiegelverkehrt abgezogen worden. Unwissend leistet CEWE schon den ersten Schritt für meine hundert Möglichkeiten. Trotzdem ist das Selberscannen das Erste, was ich zuhause mache, denn den Abzügen traue ich nie so wirklich.

Eines meiner absoluten Lieblingsbilder ist vor sechs Jahren in einer Lagerhalle entstanden. Ich habe mit einer befreundeten Fotografin eine Tour gemacht, meine Kiev hat schnell aufgegeben, ihre Canon hat den Tag über alleine durchgehalten, später haben wir die Negative geteilt. Eines dieser Bilder zeigt mich schräg und von hinten im Licht stehen. Und obwohl es unspektakulär ist: Ich mag dieses Bild sehr.

In den letzten Jahren habe ich es immer wieder für verschiedene Ideen verwendet, habe es in der Dunkelkammer benutzt, um Chemie oder Einstellungen zu testen und im Laufe der sechs Jahre sind, ohne es geplant zu haben, viele Versionen des selben Ursprungsnegativs entstanden.

Und auch, wenn es keine hundert geworden sind, ist es für mich dennoch ein schönes Beispiel, wie sich dieses Foto als roter Faden durch meine fotografische Entwicklung zieht. Ich zeige Euch meine liebsten Versionen dieses Fotos, ohne Wertung oder Reihenfolge, welches nun die beste ist, denn eine „richtige Version“ hat dieses Foto für mich nicht.

Zuerst zeige ich Euch die einfache gescannte Version. Kleinbild, Farbfilm. Welcher, weiß ich nicht mehr, aber ISO 200 steht auf den Streifen. Da ich im Fotolabor bisher nur schwarzweiß abziehe, ist es auch die einzige Version in Farbe. Alles, was ich fortan mit den Abzügen angestellt habe, ist schwarzweiß.

Die Rückenansicht eines Mädchens mit wirren Haaren.

Eine meiner liebsten Möglichkeiten in der Dunkelkammer ist das Abwedeln. Ich habe mir einen kleinen Fächer gebastelt, mit dem ich ab und an Ecken von Bildern verwische und schöne weiß zerfließende Übergänge schaffe. Auch dieses Selbstportrait braucht für mich zerfließende Ränder. Ich lese viel und lasse mich dabei auch in meiner künstlerischen Denkweise oft von Litartur leiten, inspirieren und beeinflussen.

Literatur ist neben der Kunst meine zweite Quelle der Inspiration, der Ruhe, der Gedanken und ziemlich oft kreuzen sich diese Wege und treten in Symbiose. Ich habe mal ein wundervolles Zitat in Günter Grass’ „Der Butt“ gelesen, was mich seither beschäftigt und mich direkt an diesen Handabzug erinnert hat:

Jetzt zerfaser ich von den Rändern her.

Diese Botschaft, am äußersten Punkt angreifbar zu sein, sich dort aufzulösen, dieses Gefühl habe ich, wenn ich das Foto ansehe. Auch, wenn es für Außenstehende natürlich schwer nachvollziehbar ist, aber sechs Jahre sind eine lange Zeit, seitdem ist viel passiert und all das projiziere ich in dieses Bild mit seinen zerfasernden Rändern.

Die Rückenansicht eines Mädchens in schwarzweiß.

Das gleiche Gefühl hatte ich, als ich vor zwei Jahren meine Examensarbeit schreiben sollte. Verwirrt, unklar, wo es hinführen soll, ein großes Thema auf kleinen Schultern. Am Ende ist alles nochmal gut gegangen, ich habe das Thema zu fassen gekriegt und mich intensiv mit Schrift und Bild auseinander setzen können.

Aber ein Foto aus dieser im Zuge des Schreibens entstandenen Reihe spiegelt passend mein Gefühl wider: Das Selbstportrait in der Fabrik. Ich habe damals angefangen, mit Folien in der Dunkelkammer zu experimentieren, um auf ganz analoge Art und Weise Schriftzüge in das Foto zu bringen. Es ist ein Zitat von Finn-Ole Heinrich aus seinem „Räuberhände“-Roman geworden, mit der prägnanten Zeile „Nur ich irre umher“.

Abgetippt mit der Schreibmaschine auf weißes Papier, kopiert auf Folien, aufgelegt in der Dunkelkammer auf das Fotopapier, steht es nun im Bild. Auch, wenn die Lesbarkeit ein bisschen gelitten hat, ist es in die Mappe zur Abschlussarbeit gewandert und gefällt mir auch zwei Jahre später noch.

Beschriftete Folien mit einem Zitat.

Die Rückenansicht eines Mädchens mit einem Zitat.

Dann kam eine Zeit, in der ich mich intensiver mit der Möglichkeit des Kombinierens auseinandergesetzt habe. Kombinierte Bilder als Sammlung von Geschichten.

Das Selbstportrait in der Fabrik hat in der Dunkelkammer und Zuhause auf dem Schreibtisch viele andere Fotos kennenlernen dürfen. Am Ende habe ich mich für die Kombination mit einem Knallerbsenstrauch entschieden. Das Foto hat an der linken unteren Ecke eine helle Überbelichtung, der Deckel der Kamera war etwas lichtdurchlässig.

Zusammengeschoben ergeben die beiden Fotos eine ganz neue Geschichte, jedes für seinen Teil, aber in der Mitte ist der helle Fluchtpunkt, in dem alles zerfließt. Auch das Format habe ich geändert. Da die Knallerbsen im Mittelformat fotografiert sind, habe ich das Kleinbild beschnitten und angepasst. So ist ein bisschen mehr weiße Wand und ein bisschen weniger Ich im Mittelpunkt.

Ein Knallerbsenstrauch mit Knallerbsen und Ästen.

Eine Kombination aus der Rückenansicht eines Mädchens und dem Knallerbsenstrauch.

Neben all diesen Versionen existieren noch viele weitere, die in meinem Fotokoffer liegen. Nur ein Abzug des Selbstportraits in der Fabrik hat es neben meinem Schreibtisch an die Wand geschafft und das nicht, weil er der schönste ist, ganz im Gegenteil: Eigentlich ausrangiert ist in der Dunkelkammer ein unfixierter Testreifen auf ihm gelandet und hat seine Säure überall verteilt.

Eine Rückenansicht eines Mädchens auf einem Handabzug der fleckig ist.

Aber gerade das macht ihn für mich zur persönlichsten Version, weil es zeigt, wie kleine Fehler, Unaufmerksamkeiten und Zufälle Einfluss auf die Arbeit nehmen, wenn man nicht damit rechnet. Und mit den kaffeeähnlichen Flecken mag ich ihn fast noch lieber als ohne.