Unsichtbar
Vor ein paar Wochen kam mein Bürokollege Denis Holzmüller zu mir und fragte mich, ob mir der Name Rex Hohlbein etwas sage. Er habe einen Radiobericht über den Fotografen gehört, der Obdachlose fotografiere und unterstütze. Ich war sofort begeistern von Rex‘ Philosophie und seinen fotografischen Arbeiten. So kam eines zum anderen und nach regem E-Mail-Austausch fand ein Interview statt, das im Folgenden zu lesen ist.
Hey Rex. Warum fotografierst Du Obdachlose?
Menschen, die ein Zuhause haben, sehen die ohne Zuhause nicht, sondern nur das negative Stereotyp und diese Blindheit hält uns davon ab, in Kontakt mit unserer Empathie zu sein. Sie erlaubt uns, eine andere Person zu entmenschlichen, um ihr Leiden nicht zu spüren. Ohne die Verbindung zum Gefühl wird es einfach, an denen, die leiden, vorbeizugehen.
Ich hoffe, dass meine Fotos ungeachtet der Umstände die Schönheit jeder Person zeigen. Ich möchte mit der eingefangenen Schönheit die negativen Meinungen über Obdachlose abbauen und eine menschliche Verbindung herstellen.
Interessant. Hast Du von Leuten Rückmeldungen bekommen, die ihre Meinung über Obdachlose überdacht haben?
Es ist ein langsamer Prozess, Perspektiven zu verändern, die in der Kultur und tief in unserer Person eingebettet ist. Aber ja, ich höre jeden Tag wunderbare Geschichten der Veränderung von Menschen, die sich zuvor niemals Obdachlosen genähert hätten, wie sie Obdachlose sehen und mit ihnen interagieren.
Jede Person muss für sich selbst beantworten, wie oder wo sie dem Problem der Obdachlosigkeit ins Gesicht sehen will. Als Minimum sollten wir jeder Person Würde und Respekt zeigen und sie wissen lassen, dass wir sie sehen und mit ihnen empfinden.
Um diesen Prozess der Kenntnisnahme leichter zu machen, bitten wir auf Facebook: „Sag einfach hallo“, einen Augenkontakt herzustellen oder einfach zu lächeln und zu sagen „ich sehe dich“.
Wenn jeder von uns eine Verbindung herstellt, wird der Prozess des Heilens sowohl der Person auf der Straße, als auch des Vorrübergehenden, in Gang gesetzt.
Wie gehst Du auf Menschen ohne Obdach zu?
Ich möchte den Menschen mit der Idee begegnen, einen neuen Freund zu treffen, die Kamera bleibt in der Tasche. Ich möchte nur ein Bild machen, wenn sie das wollen. Ich glaube, dass es bei allen Portraits wichtig ist, dass die Person, die fotografiert wird, Teil des Prozesses sein möchte, das kann man in den Fotos spüren.
Ich frage nur, ob ich sie fotografieren darf, wenn genügend Verbindung hergestellt wurde und es sich natürlich anfühlt. Weiter ist es für mich in diesem Projekt wichtig, dass die Person direkt in die Kamera sieht, denn so muss jemand, der das Foto ansieht, ebenfalls in die Augen der Person sehen, die obdachlos ist.
Wenn du jemandem in die Augen siehst, wird das ein Austausch zwischen zwei Menschen, ganz anders, als jemanden anzusehen, der nicht zurückschaut – und das ist mehr wie das Studieren oder Beobachten einer Person.
Das hört sich nach harter Arbeit an. Was hat Dich inspiriert, diesen Weg zu gehen?
Für mich ist es keine harte Arbeit. Es fühlt sich gut an, so viele interessante und schöne Menschen zu treffen. Und es hört sich an wie ein Klischee, aber diese Arbeit hat mein Leben verändert. Ich arbeite seit 26 Jahren als Architekt und muss sagen, dass das viel härtere Arbeit ist.
Ich starte jetzt eine nicht-kommerzielle Organisation, um mit den Menschen auf der Straße weiterzuarbeiten, ihr Name wird „Facing Homelessness“ sein. Wir sind eine kleine Gruppe und haben jetzt gerade den Entwurf der Regierung zur Bestätigung vorgelegt. Wenn das alles offiziell wird, werde ich meine Zeit in der Architektur auf 25% reduzieren und den Rest meiner Zeit „Facing Homemelessness“ widmen.
Ganz am Anfang kam die Inspiration direkt von den Leuten auf der Straße. Die Echtheit und Offenheit der Menschen, die ich traf, bewegte mich. Damals traf ich einen Künstler namens Chiaka. Er schlief außerhalb meines Büros in einem Wagen. Es war immer noch dunkel und so sagte ich ihm, dass er nach dem Aufwachen gern auf einen Kaffee hereinkommen und falls nötig das Bad benutzen könne.
Als er dann hereinkam, fragte er mich, ob ich eine Geschichte, die er gerade für ein Kinderbuch schrieb, hören wolle. Natürlich. Als er las, fing ich zu weinen an, so schön war es. Ich sagte zu ihm: „Ich möchte Dir helfen, Deine Geschichte zu veröffentlichen, Deine Botschaft der Liebe ist wirklich etwas wert.“ Danach fragte ich ihn, ob er die Hütte draußen benutzen wolle, um seine Kunst-Sachen aufzubewahren und dort zu schlafen, wenn das Wetter schlecht ist.
Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Er blieb dort ungefähr vier Monate. Jeden Morgen kam er mit den Bildern, die er am Vortag gemacht hatte, herein. Ich fotografierte sie ab und stellte seine Werke auf eine Facebook-Seite, die ich für ihn erstellt hatte.
Eines Morgens las ich auf der Chiaka-Seite, dass eine Frau geschrieben hatte, Chiaka sei ihr Vater. Dann schrieb ihre Schwester: „Ja, das ist unser Papa!“ Auf einmal waren Chiakas Schwestern auf der Seite und sagten alle hallo.
Als Chiaka hereinkam und ich ihm die Sachen vorlas, fing er an, unkontrolliert zu weinen. Er hatte seine Töchter zehn Jahre zuvor verlassen, verschwand einfach, an einer psychischen Krankheit leidend.
Er sah mich an und sagte: „Ich muss heimgehen.“ Ich sprach am Telefon mit einer seiner Schwestern und sie kaufte eine Fahrkarte für ihn. Er verbrachte die Nacht an unserem Haus, um 4 Uhr morgens fuhr ich ihn an den Flughafen und sagte „Goodbye“ zu einem Fremden, der ein sehr guter Freund geworden war. Diese Freundschaft hatte einen großen Einfluss auf mich.
Am nächsten Tag entschied ich, dass ich eine weitere Seite für Leute auf der Straße starten würde: Homeless In Seattle.
Sehr bewegend. Ich denke, dass Du sehr viele herzzerreißende Geschichten mitbekommst. Wie gehst Du mit all dem um?
Ja, da sind schon sehr viele Emotionen involviert. Manchmal war das auch recht schwer, aber es ist immer echt und bedeutend. Die Bedeutsamkeit ist Teil der Schönheit und macht es sehr lohnenswert. Meistens muss ich mich selbst daran erinnern, dass dieses Projekt niemanden verändern oder „richtig“ machen soll. Ich komme nicht mit Lösungen.
Ich schaue nur nach Schönheit, um zu helfen, wie wir das größere Problem der Obdachlosen sehen. Dadurch, dass ich keine Veränderung erwarte, bin ich teilweise emotional geschützt. Die meisten ziehen sich zurück, wenn sie merken, dass jemand ein anderes Motiv, eine Agenda hat.
Wenn Du raus gehst, mit dem einzigen Interesse, Freund zu werden, dann verändert das die Beziehung vom Helfen oder „Fixen“ hin zu einer Erfahrung, bei der beide Individuen etwas davon haben.
Das glaube ich sofort. Wie reagieren die meisten Menschen auf eine Kamera?
Das war eine der Überraschungen für mich. Denn fast jede Person, mit der ich Zeit verbrachte, wollte, dass ich sie fotografiere. Ich denke, dass dies damit zusammenhängt, dass sie sich in unserer Gesellschaft unsichtbar fühlen. Wenn jemand ein Foto von ihnen macht, ist das der Beweis dafür, dass sie da sind und gesehen werden.
Ich habe eine große Wand im Büro, auf der ich von jeder Person ein kleines Foto habe. Viele kommen mit ihren Freunden herein, um ihnen das Portrait zu zeigen und oft sagen die Freunde dann zu mir: „Kannst Du mich fotografieren? Ich wäre gern an der Wand.“
Was waren oder sind die größten Schwierigkeiten in diesem Prozess?
Bisher gab es recht wenig Schwierigkeiten. Wenn, dann waren sie unwesentlich und hatten mehr damit zu tun, wie das Projekt mein Leben verändert hat.
Verständlich. Welche Pläne hast Du für die Zukunft?
Momentan ist „Facing Homelessness“ im Entstehungsprozess, womit wir ein größeres Publikum erreichen können. Ich habe außerdem eine Tochter, die gerade ihr Studium in Architektur abgeschlossen hat und wir hoffen, in ein paar Jahren eine neue Architektur-Firma zu gründen.
Meine Zukunft ist also unsicher. Ich weiß, dass die Erfahrung mit Obdachlosen mich auf eine wundersame Weise verändert hat und immer ein Teil von mir sein wird, gleichgültig, was ich in der Zukunft tun werde.
Ich danke Dir, Rex, und wünsche Dir viel Erfolg!