25. September 2012 Lesezeit: ~7 Minuten

Eiterquellen

Im Projekt „Eiterquellen“ beschäftige ich mich mit Wiener Imbissbuden und der etwas anderen Wiener Imbisskultur. Wiener Würstelstände sind oftmals inselhaft anmutende, isolierte Nahrungsquellen inmitten geschichtsträchtiger Umgebung mit einem Schuss kulturellem Erbe. Isoliert sowohl im Sinne des Erscheinungsbildes als auch im tagtäglichen Kampf gegen global agierende Fastfood-Ketten. Aber so unpassend modern manche Architektur erscheinen mag, so geschichtsträchtig geht es im Grunde hinter den Kulissen zu.

Wiener Würstelstände wurden während der Österreichisch-Ungarischen k. u. k. Monarchie um 1870 etabliert, um Kriegsinvaliden ein Einkommen zu sichern. Sie entwickelten sich zu einem essenziellen Bestandteil der urbanen Kultur – nicht nur, um Speisen feilzubieten, sondern auch als Treffpunkt quer durch alle Gesellschaftsklassen.

Zudem ist der Wiener Dialekt ein eher rauer Zeitgenosse und wird genau an diesen Orten ausgiebig zelebriert – deshalb auch der Titel „Eiterquellen“. Der erfinderische Wiener schuf im Laufe der Zeit einige fragwürdige Synonyme für die Speisen, wie zB. die „Eitrige“ für die Käsekrainer, deren Käsefülle auf dem heißen Grill herausquillt. Mit etwas Vorstellungskraft mag das wohl wie Eiter aussehen. Vorzugsweise wird die Eitrige dann mit „G‘spiebenem“ (Senf) und „Buckel“ (Brötchen) serviert…

Natürlich mussten die alteingesessenen und traditionellen Würstelstände mit der Zeit gehen, um internationalen Fastfood-Ketten, Dönerbuden und asiatischen Take-Aways die Stirn bieten zu können. Man bediente sich dabei zeitgenössischer Architektur (was den amerikanischen Diners aus den 60er Jahren übrigens nicht unähnlich sieht), polierte das Äußere auf, serviert aber dasselbe wie vor fast 150 Jahren.

Und so entstanden diese wunderbaren, teils skurrilen Eiterquellen, die manchmal vielleicht mit der Geschichte hadern und doch Teil selbiger sind.

Eiterquelle 1

Hintergrund

Anfänglich übten wohl die starke, visuelle Präsenz und der mit der Geschichte verbundene Konflikt der Würstelstände eine starke Anziehung aus. Ergänzt mit meiner Sympathie und dem Interesse an der Stadt und den Bewohnern Wiens, machte es für mich Sinn, mich näher mit der Thematik zu beschäftigen.

Der allererste Funke sprang aber schon zwei Jahre vor Projektstart über; also 2008, als ich bei einem nächtlichen Streifzug durch die Stadt einen Schnappschuss eines Würstelstandes machte. Damals war es für mich aber nicht mehr oder weniger als ein nettes Foto – nichts, was sich weiter zu verfolgen lohnte.

Bis ich dann 2010 an einem Abend an derselben Stelle mit meiner alten Hasselblad vorbeikam. Erneut beeindruckte mich die aus buntem Neonlicht geschmiedete Fassade, eingebettet in das Schwarz der Nacht. Es sprach mich aber auch die Diskrepanz mit dem Burger-Laden gegenüber und dem Stil-Altbau dahinter an und nach einem Blick durch den fantastischen Schachtsucher der alten Mittelformatkamera, beschloss ich, das Projekt „Eiterquellen“ zu starten.

Ziel des Projektes war natürlich nicht, eine die Vollständigkeit beanspruchende Sammlung an Würstelständen zu erarbeiten. Es gibt Hunderte mehr, aber ich habe mich für ein paar wenige, aussagekräftige Exemplare entschieden, die es mir ermöglichten, meine Bildidee zu verwirklichen. Das heißt auch, dass sie mir auf eine unkomplizierte und kontrollierbare Art und Weise eine technisch saubere Belichtung ermöglichten.

Eiterquelle 2

Komposition und Bildsprache

Ich wurde oft gefragt, warum ich die Würstelstände so isoliert darstelle und die oppositionierende Architektur der Umgebung nicht mit einbeziehe, obwohl diese ein gewichtiges Argument im Projekt darstellt. Nun, die augenscheinliche Isolation von selbst leuchtenden Objekten umgeben von natürlicher Dunkelheit ist einem Spot-Scheinwerfer in der Manege nicht unähnlich.

Einsamkeit oder Verlassenheit zu projizieren wäre aber nicht richtig, denn nüchtern betrachtet bewirkt dieser „natürliche“ Fokus lediglich eine Verstärkung des kompakten, zentralen Motives.

Die Beziehung mit der Umgebung habe ich aus zwei guten Gründen nicht visualisiert: Erstens zu Gunsten einer einheitlichen Bildsprache und zweitens wird – besonders international gesehen – Wien bereits mit Sissi und der k. u. k. Monarchie assoziiert. Ich bin überzeugt, dass diese kitschige Vorstellung und Assoziation ausreicht, um den Gegenpart der sonst isoliert abgebildeten Würstelstände abzudecken.

Und zwar beim Rezipienten. Umso weniger jemand Wien wirklich kennt, desto besser funktioniert das natürlich – auch ein Grund, warum ich gerade aus den Staaten sehr viel positives Feedback bekomme.

Den Würstelständen wurde auch schon ein gewisser Anachronismus unterstellt, da sie weder im Originalgewand auftreten, noch ein Abbild zeitgenössischer, moderner Fastfood-Ketten sind. Ich denke aber, dass die Architektur bzw. das Design dem zitierten Anachronismus im Grunde ja gerade entgegenwirken will.

Und was den Charakter der Speisekarte betrifft, so ist dieser genauso wenig in der Gegenwart verortet: Die Speisen erfreuen sich starker Nachfrage und überlebten den Wandel der Zeit beinahe unverändert.

Um den Stil steriler Architekturfotografie zu brechen, versuchte ich schlussendlich, stets Menschen mit ins Bild zu bekommen. Egal ob nur in Form einer Silhouette, durch die längere Verschlusszeit verwischt oder im Inneren des Würstelstandes versteckt.

Eiterquelle 3

Workflow

Die Würstelstände fand ich meistens tagsüber und eher zufällig. Ich notierte mir ihre Positionen und sobald ich eine Handvoll zusammen hatte, fuhr ich dann frühabends los und fotografierte sie mit meiner Hasselblad 503cx auf Kodak Portra 400 Negativ-Tageslichtfilm. Das funktionierte übrigens nur im Spätherbst und Winter, da einige Würstelstände bereits um 19 Uhr schließen und es im Sommer draußen noch hell gewesen wäre.

Beim Fotografieren gab es nur selten Interaktionen mit den Betreibern oder Gästen. Ich befestigte in aller Ruhe die Kamera auf dem Stativ, führte Lichtmessungen durch und belichtete zwei, drei Frames. Also eine Angelegenheit von maximal zehn Minuten, wenn alles passte. Die Negative ließ ich im Fachlabor entwickeln, die hochauflösenden Scans fertigte ich dann selbst an.

Die anschließende Bearbeitung war aber äußerst anspruchsvoll und zeitraubend, da ich Tageslicht-Negativfilm mit mittelhoher Empfindlichkeit verwendete. Es mussten filigrane Farb- als auch Tonwertkorrekturen vorgenommen und dabei immer auf das Korn geachtet werden. In den Schatten war der Film entsprechend dünn und der Dynamikumfang umfasste selten weniger als zehn Blenden.

In der Retusche entfernte ich dann neben dem üblichen Staub auch störende Lichtquellen, Geäst, Autos oder ganze Häuserfronten im Hintergrund. Dabei war natürlich zu beachten, dass sich beim Stempeln keine Muster bildeten – oft musste ich daher die Prozedur mehrmals wiederholen. Alles in allem steckt in einem Bild etwa ein Tag Nachbearbeitung.

Eiterquelle 4

Ausstellung

Im November stelle ich das gesamte Projekt im Rahmen von „Eyes On – Monat der Fotografie“ in Wien aus. Dabei sein werden zehn plus zehn noch unveröffentlichte Arbeiten in den Formaten 80 x 80 cm und 50 x 50 cm.

Die Ausstellung wird am 30. Oktober 2012 um 18 Uhr in der Galerie 33 Temporary [Con] Temporary im stilwerk Wien, Praterstrasse 1 eröffnet und ist bis zum Samstag, 11. November 2012 zu sehen.

Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag: 10 – 19 Uhr
Samstag: 10 – 18 Uhr

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