Allein unter Menschen
Mit der Fotografie kam ich in meinem 17. Lebensjahr in Kontakt, als ich die Fotoausrüstung und Dunkelkammer meines verstorbenen Vaters im Keller entdeckte. Seitdem setze ich mich mit der analogen und später mit der digitalen Fotografie auseinander.
Ich konnte mich nie konkret für ein Fotogenre entscheiden, da mich die Vielfalt der Fotografie faszinierte. So kommt es auch, dass ich noch heute in verschiedenen fotografischen Gebieten tätig bin und viel experimentiere.
Zu EXPOSE als Fotoserie kam es, da ich wohl in einer kleinen Midlife-Crisis stecke, in der ich in meine Vergangenheit blicke und mich mit meiner Entwicklung als Person auseinandersetze. In einem früheren Abschnitt meines Lebens gab es eine Phase, in der ich Probleme mit Menschen und Menschenansammlungen hatte. Manchmal stand ich an einer Bushaltestelle und fühlte mich entblößt, beobachtet, beurteilt und sehr fehl am Platze.
All das gehört mittlerweile zum Glück der Vergangenheit an. Diese Gefühlserinnerungen, aber auch meine Tätigkeit als Psychiatriepflegefachmann, bei der ich immer wieder Personen betreue, die ähnliche Probleme beschreiben, inspirierten mich, diese Erinnerungen in eine Fotoserie zu verpacken.
In der Serie EXPOSE hat die Bushaltestelle für mich verschiedene Bedeutungen: Zum Beispiel ist es ein Ort, an dem sich Menschen aus diversen Gesellschaftsschichten mit unterschiedlichen Haltungen zum Leben treffen, ohne dass sie das konkret wollen. In einer solchen Situation ist es ganz normal, dass wir anfangen, andere Menschen zu studieren und sie manchmal auch in Schubladen zu stecken, in die sie vielleicht gar nicht gehören.
In meinen Fotos sind die Bushaltestellen verlassen. Das zeigt die Einsamkeit, die unter Menschen entstehen kann. Um dem Entblößten und dem Verletzlichen mehr Gewicht zugeben, stand für mich fest, dass die Serie mit Aktaufnahmen umgesetzt wird. Dennoch wollte ich der nackten Haut nicht zu viel Gewicht geben.
So sollte der Körper mit dem Bild verschmelzen und auch den Prozess des Entblößens zeigen. Mittels Langzeitbelichtungen konnte ich all das erreichen. Angekleidet steht das Modell Isa an der Bushaltestelle. Sie entkleidet sich, die Verletzlichkeit macht sich breit und sie bleibt nackt zurück. Allein unter Menschen.
Für die Umsetzung der Serie benötigte ich unterschiedliche Bushaltestellen, an denen Aktfotos möglich waren. Die Suche nach den passenden Orten war also nicht immer einfach und es gab ein paar Kriterien: Passendes Umgebungslicht musste vorhanden sein, die Bushaltestelle durfte nicht vollgepackt mit großen Werbeplakaten und zudem nicht extrem belebt sein.
Mit diesen Vorgaben und meiner Kamera im Rucksack fuhr ich in einer Nacht alle Buslinien in Luzern und Umgebung ab. Oft reichte mir ein kurzer Blick aus dem Auto und ich wusste, ob die Haltestelle passte oder nicht. In dieser Nacht besichtigte ich wohl 100 Haltestellen.
Oft waren sie sehr gleich konstruiert, die typischen Bushaltestellen eben. Schlecht ausgeleuchtet und voll mit Werbung für Telefone oder schuppenfreie Haare. Dennoch fand ich eine Auswahl an Orten, die durchaus meinen Vorstellungen entsprachen.
Die eigentlichen Fotos entstanden ebenfalls in einer einzigen Nacht. Für die von mir ausgewählten Haltestellen erstellte ich einen Ablaufplan. Wir starteten an einem gewöhnlichen Werktag um 21 Uhr mit dem Fotografieren und nahmen uns als erstes die entlegenste Haltestelle vor. Je später der Abend, umso näher kamen wir der Stadt.
Durch diese Vorgehensweise fanden wir meistens verlassene Bushaltestellen vor. An zwei Orten wurden wir trotzdem von Anwohnern beobachtet, die das Ganze sehr spannend fanden. Ich löste die Situation, indem ich den Blitz in das Sichtfeld der Zuschauer setzte, so dass Isa vor ihren neugierigen Blicken geschützt war.
Was wird mir oder den Betrachter*innen durch die Fotoserie EXPOSE bewusst? Dass wir uns immer geschützt, behütet und selbstsicher fühlen können? Oder bleibt uns in Erinnerung, dass es manchmal auch Momente gibt, in denen wir nackt, verletzlich, unsicher und einfach menschlich sind? Für mich stellt EXPOSE die Relativierung der Verletzlichkeit dar.