Berührte Orte und Gedankenräume
Jeder Ort ist darauf angewiesen, ständig neu von uns erfunden zu werden, ihm einen persönlichen Stellenwert zu geben und ihm eine eigene Bedeutung beizumessen. Manchmal ist es eine Busfahrkarte, Zeit und Ort abgestempelt, oder nur ein Geruch und die leise Ahnung von einem Leben.
Mich fasziniert der Gedanke, dass alles seinen Platz hat und dennoch losgelöst ist vom Geschehen der Zeit. In dem Moment, in dem man begreift, dass vieles nicht zu kontrollieren ist, kann dies Angst machen und dennoch unglaublich befreien.
Eine Sekunde zu erwischen, die bedeutungsschwer war und nur noch ein emotionales Echo hinterlässt, ist für mich unter anderem das Besondere an der Fotografie. Sie lässt so viel Raum für Interpretationen, Gedanken, Träume und Wünsche. Ein Ort, der sanft berührt wird durch das Leben, hinterlässt Erinnerungen. Schmerzliche, schöne, aber auch völlig belanglose.
Ein Spaziergang durch die Stadt, eine Fahrt mit dem Fahrrad durch die Nacht oder das Sitzen vor dem Küchenfenster lässt die Regisseure in meinem Kopf nicht schlafen. Da sind Fenster und hinter Fenstern Menschen und in diesen Menschen stecken Geschichten, eine oder mehrere Sprachen, Ängste und Fähigkeiten.
Dies alles wird sichtbar, wenn es ganz tief verschlossen scheint. Es ist der Raum, der entsteht, wenn etwas geschehen ist, was man nur noch erahnen kann. Jeder Ort ist Mittäter und unfreiwilliger Voyeur. Mit meiner Kamera versuche ich, diese Orte in ihrem Berührtsein einzufangen und einen Moment zu konservieren, der sich fernab der Fotografie längst verflüchtigt hat.
Oft habe ich das Verlangen, Menschen zu fotografieren, eine Menge Menschen, damit ich ihre Gesichter und das Gefühl, das sie mir vermittelten, behalten darf. Doch meistens sind es die Plätze, die bleiben, die besser durch die Linse passen, weil sie mich in ihrer Präsenz nicht so nervös machen.
Menschen machen mich neugierig, so neugierig, dass ich es manchmal nicht aushalte, nichts zu fragen oder mich nicht noch einmal umzudrehen. Festhalten möchte ich sie und wissen, woher sie kommen, wohin sie gehen, was sie treibt, zerrt und zieht. Ich fühle mich ihnen so verbunden und dennoch so weit von ihnen entfernt.
Eine Bank, ein Blick aus einer bestimmten Perspektive, das Bett in einem Hotel, all das sind Geheimnisse, die ich mit Fremden teilen kann. Dann baue ich mir in meiner Vorstellung einen Menschen mit ganz zufälligen Gesichtszügen und Gedanken.
Neben der Fotografie schreibe ich und versuche, eben diese Momente literarisch festzuhalten. In meinen Texten spielen ähnliche Themen eine entscheidende Rolle. Wenn wir in das Treiben der Welt geschmissen werden, sind wir nicht nur den eigenen Erfahrungen und Emotionen ausgesetzt, sondern auch denen der anderen um uns herum.
Ähnlich wie bei einem Diaprojektor fallen uns Bilder in unser Blickfeld und die Helligkeit belichtet sie, macht sie sichtbar für uns. Persönliche Gefühle, aber auch ganz neue Ideen werden wiederbelebt und neu geboren.
Dies ist ein Raum, der entsteht und nur durch unsere Gedanken und unsere Sicht der Dinge Gestalt annimmt. Ein Souvenir, das unserer Fantasie entspringt und dennoch einen Teil des tatsächlich Erlebten widerspiegelt.
Doch unabhängig von der künstlerischen Inspirationsquelle ist so ein Foto ein großer Trost für mich und ich glaube ebenfalls, dass es ganz vielen anderen Menschen ebenso geht.
Es gibt Zeiten im Leben, die das Licht in einen trüben Schimmer verwandeln und uns taub für die Liebreize des Geschehens um uns herum machen. In solchen Momenten den Auslöser zu drücken oder den Stift zu bewegen, gibt uns die Chance, genau diesen Augenblick später in dem Licht, das ihn tatsächich gebührte, noch einmal erstrahlen zu lassen.