27. Juli 2010 Lesezeit: ~8 Minuten

Solargraphie – Extreme Langzeitbelichtung

Die Möglichkeit,  Momente in einem Bild festzuhalten, macht einen großen Teil der Faszination aus, welche von der Fotographie ausgeht. Der Moment der Aufnahme kann dabei den Bruchteil einer Sekunde umfassen, sich aber auch über Minuten und Stunden erstrecken. So lassen sich Dinge sichtbar machen, welche dem menschlichen Auge normalerweise verborgen bleiben: Die Details beim Zerplatzen eines Luftballons oder die kreisförmigen Bahnen des Sternenhimmels.

Seit einiger Zeit fasziniert mich ein Extrem der Langzeitbelichtung, übertrieben ausgedrückt: Das Einfangen halber Ewigkeiten, die Solargraphie. Bilder mit Belichtungszeiten von Tagen, Wochen und Monaten.

Was ist Solargraphie und wie macht man das?

Die Technik ist einfach und billiger als jede Digitalknipse. Eine Lochkamera, ein Gehäuse mit einem einfachen Loch statt eines Objektivs, wird mit Schwarzweißfotopapier beladen und los geht’s. Am Ort der Belichtung wird diese simple Art der Kamera fest installiert, der Verschluss geöffnet und dann braucht man nur noch Geduld, Geduld und… vor allem Geduld. Und ein bisschen Glück ist nötig, etwas Geschick, ein Scanner und etwas Bildbearbeitung.

Solargraphie - Extreme Langzeitbelichtung

Seit dem Beginn der Fotographie werden lichtempfindliche Materialien dem Licht ausgesetzt. Mehr oder minder komplexe Techniken lassen dann ein Bild entstehen. So wird Schwarzweißfotopapier nach der Belichtung normalerweise mit Entwickler und Fixierer behandelt, um das Bild dauerhaft sichtbar werden zu lassen. Bei längerer, intensiver Belichtung wird jedoch auf Fotopapier auch ohne Entwickler ein Negativ des Motivs sichtbar. Diese Eigenschaft nutzt die Solargraphie. Während der extrem langen Belichtungszeiten ‚brennt’ sich hier das Motiv direkt in das Fotopapier und ist damit später deutlich sichtbar, ohne weitere Schritte. Vor allem die Bewegung der Sonne hinterlässt dabei markante Spuren, welche für die Solargraphie so charakteristisch sind.

Diese Technik ist nicht neu und die Verwendung von Lochkameras um die Bewegung der Sonne abzubilden, lässt sich bis in 70er Jahre des letzen Jahrhunderts zurückverfolgen (Dominique Stroobant). Slawomir Decyk, Paweł Kula und Diego Lopez Calvin führen diese Technik im Jahr 2000 zu einer Renaissance und belegen sie mit dem griffigen Schlagwort Solargraphie.

Die Bemühungen von Tarja Trygg und eine Popularisierung durch Flickr haben nun dazu geführt, dass ich in meiner Freizeit immer mehr Lochkameras baue. Mit fortlaufender Nummerierung versehen, verfolgen etliche meiner Kameras an den unterschiedlichsten Orten den Lauf der Sonne. Mittlerweile bin ich bei Nummer 84 angekommen und habe einige Erfahrungen gesammelt.

Solargraphie - Extreme Langzeitbelichtung

Ein Großteil meiner Lochkameras ist aus leeren Filmdosen gebastelt, billig, klein, unauffällig und vermutlich das Standardmodell in der Solargraphie. Sie lassen sich leicht mit Tape oder Kleber überall befestigen. Ein paar davon habe ich auf jedem Fototrip dabei. Andere Kameras mache ich aus Tee-, Keks- und Konservendosen, Bier- und Whiskydosen, wobei das innere mit matter schwarzer Farbe ausgesprüht wird, um interne Reflexionen zu vermeiden.

Die Löcher für die Kameras mache ich mit einer sehr spitzen Nadel in das Blech von Getränkedosen, welches passgenau über einem größeren Loch im Kameragehäuse befestigt wird. Dieses Blech ist dünn genug, um noch ein passables Loch zu bekommen und stabil genug, um nicht gleich bei geringster Einwirkung zu zerknittern. Da das Loch für die Bildqualität einer Lochkamera entscheidend ist, gebe ich mir hier viel Mühe und prüfe mit einer Lupe dessen Eigenschaften. Im Netz gibt es jede Menge Anleitungen und weitere Details, um Lochkameras zu bauen.

Solargraphie - Extreme Langzeitbelichtung

Nach der Belichtung ist die Solargraphie, ein fragiles Geschöpf. Das Bild ist in höchstem Maße lichtempfindlich und für die Nachwelt nur durch Scannen oder Abfotografieren zu erhalten. Die herkömmliche, chemische Fixierung führt bei Solargraphien zu einem Verlust an Details und Kontrasten und kommt daher nicht in Frage. Aber auch das Scannen zerstört die Solargraphie, so dass gleich der erste Versuch gelingen muss.

Etliche mehrmonatige Belichtungen habe ich so schon in den Sand gesetzt. Mittlerweile verzichte ich sogar auf einen Vorscan und scanne das Papier direkt mit hoher Auflösung und drücke die Daumen, dass alles gut geht. Obwohl also die Solargraphie aus Licht geboren wird, ist Licht auch gleichzeitig ihr Tod. Dieses Ungleichgewicht zwischen Dauer der Erzeugung und gleichzeitiger Unbeständigkeit macht die Solargraphie fast zu etwas Lebendigem.

Solargraphie - Extreme Langzeitbelichtung

Meine ersten Lochkameras habe ich mit glänzendem Schwarzweißfotopapier von Tetenal bestückt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass mattes Ilford Multigrade IV-Papier wesentlich mehr Details in den dunklen Bereichen darstellen kann. Auch gefällt mir die Farbigkeit dieses Papiers etwas besser. Hier muss sicherlich jeder seine eigenen Erfahrungen machen. Was? Wie? Schwarzweißpapier mit Farbe? Ja, genau. Erstaunlicherweise sind viele Solargraphien bunt, manche schillern sogar in Regenbogenfarben. Wie genau die Farbe ins Bild kommt, ist mir nicht ganz klar, allerdings spielen Zufall und die Belichtungsbedingungen (z.B. Feuchtigkeit) sicherlich eine Rolle.

Meist werden auch in der Nachbearbeitung der Scans die Kontraste stark angehoben, was eine gesteigerte Farbsättigung mit sich bringt. Überhaupt kommt der Nachbearbeitung eine wichtige Rolle zu. Da das Motiv nur als Negativ sichtbar wird, muss das Bild invertiert werden, um unseren Sehgewohnheiten zu entsprechen.
Meist sind die Sonnenbahnen sehr prominent, aber andere Details nur schwach sichtbar. Selektive Tonwertkorrekturen und Farbanpassungen sind daher immer auch Teil meiner fertigen Solargraphien.

Solargraphie - Extreme Langzeitbelichtung

Besonders kontrastreiche Kompositionen lassen sich gut mit dieser Technik abbilden. Stark reflektierende Häuserwände, Landschaften im Schnee oder spiegelnde Wasserflächen sind ideale Motive. Um die vollständige Ekliptik, den Lauf der Sonne über den Himmel, abzubilden, ist eine 6-monatige Belichtungszeit nötig. Am 21. Juni steht die Sonne am höchsten Punkt, am 21. Dezember am niedrigsten Punkt des Himmels. Diese beiden Daten sind daher fest eingeplant für Ernte und Neuinstallation meiner Kameras. Beim Ausbringen der Lochkameras sollte die Neugier unserer Mitmenschen nicht unterschätzt werden.

Etwa ein Drittel meiner Kameras verschwindet während der Belichtungszeit. Wenn ich Glück habe, finde ich sie noch in unmittelbarer Umgebung und die Anzahl der Sonnenbahnen lässt erahnen, wann sich jemand dafür interessiert hat…

Aber auch von unerwarteter Seite droht den Sonnenbeobachtern Gefahr: Das Blech für die Löcher meiner ersten Kameras leuchtete prominent zwischen schwarzem Tape hervor, offenbar eine unwiderstehliche Verlockung für Vögel, welche dann neugierig auf dem Loch herumhackten… Die Resultate waren allenfalls abstrakt zu nennen. Jetzt achte ich darauf, dass das Loch nicht mehr allzu sehr ins Vogelauge springt und male das Blech einfach schwarz.

Solargraphie - Extreme Langzeitbelichtung

Die Ergebnisse der Belichtung sind kaum vorhersagbar, Überraschung ist immer garantiert. Ist die Kamera noch da? Ist was auf dem Papier zu sehen? Ist das Motiv getroffen? Wie viele Details sind sichtbar? Welche Farbe hat das Bild?
Von den fertigen Bildern geht etwas Geheimnisvolles aus. Und immer wieder versuche ich dieses Etwas zu fassen, ohne es recht zu verstehen. Solargraphien erschaffen unsere Umgebung in ungewohnter Weise neu. Der Lauf der Zeit wird komprimiert, das Flüchtige, Kurzlebige ist nicht von Bestand für diesen Blick.

Das Blattwerk der Bäume wird zu einer nebligen Masse, pflanzliches Werden und Vergehen wird zu Unschärfe zusammengefasst. Was bleibt ist das Beständiges, sind die langlebigen Spuren, Gebäude, Strassen, aumskelette, das Gerüst der Wirklichkeit. Über allem geht unbeirrt die Sonne und nur das Wetter prägt sich durch Unterbrechungen in ihre Bahnen und bindet damit jede Solargraphie an Ort und Zeit ihrer Entstehung.

Solargraphie - Extreme Langzeitbelichtung


Links (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):


www.solargraphy.com


www.flickr.com/groups/solargraphy

http://free.art.pl/solaris/solaris/Solaris.html

http://www.pinholephotography.org

http://solarigrafia.blogspot.com

http://www.mariinda.net/solarigrafia.htm

http://www.galeriaff.infocentrum.com/2005/decyk/decyk_a.htm

30 Kommentare

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  1. Unglaublich stimmungvolle Bilder….! Wunderbare Beschreibung….animiert dazu selbst einmal herumzuprobieren, animiert nachzueifern ! Klasse Artikel !
    Dankeschön !

  2. Wow, sehr beeindruckend! Als meine Frau gerade meinte: „Hast du den Artikel bei kwerfeldein zu den Langzeitbelichtungen über Tage, Wochen und Monate hinweg schon gelesen?“ Hatte ich nicht wirklich eine Vorstellung wie das gehen soll.
    Dass das immer wieder ein Abenteuer beim „Auspacken“ ist kann ich mir sehr gut vorstellen. Bin geneigt das hier in Saudi-Arabien mal auszuprobieren. Ich fürchte nur das nötige Material krieg‘ ich hier eher nicht. Schade. Aber in jedem Fall danke für den Beitrag und v.a. auch die schon fast poetische Zusammenfassung was in einer Solargraphie steckt :)

  3. Wahnsinn…habe noch nie was davon gehört, aber die Fotos sprechen für sich. Unglaubliche Intensität, unglaublich spannende Geschichte. Ich bin fasziniert und bedanke mich für diesen tollen Beitrag!

  4. Ich liebe derart „experimentelle“ Fotografie und deine Ergebnisse sind einfach toll! Weil du ja explizit ein Bild im Wald gezeigt hast: Hast du schon mal Ärger mit einem Förster bekommen oder sagst du vorher Bescheid?

    Mag das auch mal ausprobieren :>

  5. @FC
    Ich sage niemandem Bescheid. Das wäre zuviel des Aufwands.
    Im Wald suche ich mir Stellen, die wenig begangen sind, oder Stellen, wo es schwer ist ranzukommen. Kleinere Dosen fallen auch kaum auf irgendwo…

    @all
    Danke für Zuspruch!

  6. Wow, faszinierende Bilder und interessante Technik. Sobald ich rausgefunden hab wo´s Fotopapier zu kaufen gibt, möcht ich das auch gern mal ausprobieren…kanns kaum erwarten.

    Da du Filmdosen verwendest…kann man dafür auch den dazugehörigen sw Fotofilm verwenden? Hier kanns im Winter schon mal -40°C kriegen…wieviel Kälte vertragen denn die Lochkameras bzw. das Papier? Danke für den tollen Artikel!

    Grüße aus Kanada
    Sandra

  7. Hej Stefan,

    Wenn das Licht des Scanners so schädlich ist für das Photopapier, warum nutzt du dann nicht die Digitalkamera um das analoge ins digitale zu wandeln. Und ich kann mir vorstellen, dass es für dich als experimentierfreudiger und bastelbegeisteter Mensch sicher kein Problem ist, eine Vorrichtung für die Kamera und vielleicht passende Lichtquellen (oder am Fenster) zu bauen. Ist jetzt nur die Frage, ob es den Aufwand für die Bildqualität und oder eventuellen kurzweiligen Schutz für die Bilder lohnt.

    • Hi,

      abfotografieren geht natürlich auch. Allerdings bekomme ich bessere Qualität und Auflösung mit dem Scanner. Filmdosensolargraphien scanne ich mit einer Auflösung von etwa 8000px Breite ein, das bietet mir keine Kamera (die ich mit meinen Mitteln finanzieren könnte).

      Gruß
      Stefan

  8. Unglaublich was es alles für Techniken gibt! Hab erst die Bilder überflogen und dachte mir, dies gefällt mir nicht! Doch beim durchlesen fand ich diese Technik interessant – besonders gefällt mir Bild 2! Danke für den Beitrag! lg cagi

  9. Hallo,
    ich würde gern so eine Kamera nachbauen, habe aber nicht genau verstanden wie ich sie bauen muss. Genügt eine Filmrolle, gefüllt mit Fotopapier und beklebt mit schwarzem Klebeband? Oder muss ich diese Filmrolle wieder in eine Dose tun? Wieso braucht man zwei Löcher?Ich bin 10 Jahre alt und würde das aus Interesse gern mal in der Schule zeigen. Grüße

  10. Lieber Stefan,

    veieln Dank frü diesen informativen und lesenswerten Aufsatz. Gut funde ich, dass es so beschrieben ist, dass jeder das nachmachen kann. Aber Geduld ist eine wenige verbreitete menschlische Eigenschaft, es werden wohl nicht allzuviele sein.
    Ich arbeite grad an einem Analemma (auch eine Geduldsfrage) und wende mich vielleicht auch mal der Solarigraphie zu.

    Uwe

  11. Blogartikel dazu: Kodak Brownie Target SIX-20 box camera | Sloganmaker - Clearly a better solution.

  12. Hallo
    Tolle Bilder hast du da gemacht.
    Zu Weihnachten habe ich auch eine Lochkamera geschenkt bekommen.
    Ich habe sie fest installiert nach Süden ausgerichtet um den Sonnenverlauf und mit etwas Glück das Bergpanorama einzufangen.
    Ich möchte die Kamera mindestens 6 Monate in Betreib halten.
    Macht es Sinn, die Lochkamera ein ganzes Jahr belichten zu lassen? Sieht man dann mehr Details auf dem Foto?
    Kann das Foto überbelichtet werden?

    Gruss Chris

  13. Großes Lob ! Einfach wunderschöne Bilder !
    Aber eine Frage habe ich noch :
    Wie kann man das Papier so lange belichten ohne es überzubelichten ? Ich meine die Lochkamera ist ja jeden Tag intensivem Sonnenlicht ausgesetzt

    MfG

    • Sehr schöne Bilder!
      Schon seit einigen Jahren gibt es ein Kunstprojekt (The 7th Day) zu dieser Technik. Es ist sogar möglich Kameras zu kaufen. Ich habe schon am Projekt teilgenommen und drei Fotos gemacht. Es ist nur zu empfehlen!

      Liebe Grüße

  14. Blogartikel dazu: Linktipps der Woche: Solargraphen, Blitz in Zeitlupe, Astronomie auf der #LNDW16 und vieles mehr (mit Tipps zu Podcasts und lesenswerten Artikeln aus dem Blog) - Clear Sky-Blog

  15. Blogartikel dazu: 11. Mai: Fertigstellung Lochkameras – Experimentelle Analogfotografie