aufgeschlagenes Buch
10. Februar 2023 Lesezeit: ~18 Minuten

Sabiha Çimen: unerzählte Geschichten, ungesehene Bilder

Sabiha Çimen (geb. 1986) ist eine Autodidaktin, die bisher ihren thematischen Fokus auf Frauen, islamische Kultur, Portraits und Stillleben legte. 2020 wurde sie von Magnum als Mitglied nominiert, jetzt arbeitet sie als Associate Photographer in der Agentur. Es gibt aktuell nur zwei türkische Magnum-Mitglieder: Emin Özmen und Sabiha Çimen.

Sabiha Çimen lebt und arbeitet sowohl in Istanbul als auch in New York. Ihre Fotos wurden bisher unter anderem im New York Times Magazine, Le Monde, Harper’s Bazaar, Vogue und Spiegel veröffentlicht. Eine Vielzahl von Auszeichnungen, darunter der 2. Preis beim World Press Photo Award 2020, begleiten ihre junge Karriere.

Schon vor der Pandemie hatte ich das erste Mal von ihr gelesen. Zusammen mit der armenischen Fotografin Anush Babajanyan und dem amerikanischen Fotografen John Stanmeyer (beide Mitglieder der VII Photo Agency) leitete sie einen Workshop in Dilidschan, Armenien. Unter dem Titel „Bridging Stories“ kamen dort 2019 bereits zum zweiten Mal junge Fotograf*innen aus der Türkei und Armenien zusammen, um Gemeinsamkeiten in ihren Fotografien zu entdecken und sie danach in Yerevan und Istanbul auszustellen.

Seither ließ mich das Bedürfnis nicht los, die junge Fotografin kennenzulernen, mit ihr zu sprechen. Gelegenheit dazu bekam ich während eines dreitägigen Magnum-Workshops im November 2022, den sie zusammen mit ihrem Mann Jason Eskenazi, einem amerikanischen Fotografen und Verleger, in Venedig leitete. Sie hatte den renommierten Aperture First Photobook Award im „Gepäck“, der ihr gerade in Paris für ihr Fotobuch „Hafiz“, überreicht worden war.

Ihre Fotografien und ihre Persönlichkeit – beides geprägt von Spiritualität und einem tiefen Blick in die Welt – sind beeindruckend. Ihre freundliche Geduld, mit der sie drei Tage lang Fotograf*innen aus der ganzen Welt mit Ratschlägen und ihren Erfahrungen begleitete, sollte dies noch unterstreichen. Um ihre Arbeit und ihr Buch „Hafiz“ besser verstehen zu können, ist ein Blick in ihre Biografie hilfreich.

Gruppe von Personen um einen Tisch voller Fotoabzüge

Sabiha Çimen beim Fotoediting mit Teilnehmer*innen des Magnumworkshops in Venedig am 25. November 2022.

Herkunft und Familiengeschichte

Noch immer ist die türkische Gesellschaft in Bewegung. Die Migration aus den östlichen Landesteilen in die Großstädte des Westens hält an. Menschen suchen nach Arbeit, Einkommen und sozialem Aufstieg. Spuren hinterlässt dies in Biografien, die – für uns Europäer*innen eher ungewöhnlich – innerhalb von ein bis zwei Generationen riesige soziale Sprünge machen. So begegnen wir heute einer jungen Generation von Mediziner*innen, Richter*innen, Journalist*innen, Architekt*innen oder auch Fotograf*innen, deren Eltern noch Landarbeit*innen waren, oft noch Analphabet*innen ohne Schulbesuch.

In diese bewegte Gesellschaft ist die Lebensgeschichte von Sabiha Çimen eingebettet. Auch ihre Familie aus dem südöstlichen Adıyaman (kurdisch: Semsûr) machte sich in den Westen auf, nach Istanbul, wo Sabiha zur Welt kam. So lesen wir auf der ersten Seite ihres preisgekrönten Buches „Hafiz“ die berührende Widmung: „Für meine Mutter Zehra, obwohl Analphabetin, die das Wissen der Welt in sich trug.“ Im Gespräch erläuterte sie mir:

Meine Mutter konnte keine Schule besuchen. Sie ist Kurdin. Sie arbeitete immer mit Tieren und heiratete sehr jung. So lernte sie nie Lesen und Schreiben. Dennoch besaß sie ein Herz voller Weisheit, sie war so klug. Sie machte alles auf sich allein gestellt. Deshalb wollte ich sie erwähnen, deshalb widmete ich ihr mein Buch.[1]

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Nehir (18) umarmt ihre beste Freundin bei einem Picknick. Istanbul, 2018 © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Spiritualität und Kindheit

Man muss weit zurück, um die Intensität und Eindrücklichkeit zu verstehen, die Sabiha Çimens Fotografien bei den Betrachter*innen hinterlassen. Im Nachwort ihres Buches lässt sie uns ohne Scheu an ihren Kindheitsjahren teilhaben: Sie wuchs mit ihrer Zwillingsschwester im religiös geprägten Istanbuler Stadtteil Fatih auf. An einem Sommertag – noch ein kleines Kind – verirrte sie sich auf einem belebten Markt in einem ihr fremden Stadtviertel.

Als ich mich umschaute, sah ich, dass ich nicht allein war – eine schwarz wogende See umgab mich, die zu Frauen verschmolz, die mir mit ihrer Kleidung, ihrem Duft vertraut waren. Sie alle waren meine Mutter, sie waren Mutterschöße, die mich zur Welt gebracht hatten…. Ihre Augen, die mich mit Sorge betrachteten, ihre Hände, die mein Gesicht mit Wasser netzten, ihre Lippen, die Gebete, die sie für mich sprachen. Wunderbare Frauen, umhüllt von schwarzer Seide. Dort, von ihnen umgeben, hörte ich eine Stimme aus der Mitte der Menge, die meinen Namen rief.[2]

Es sind noch tiefere Erlebnisse, Geschichten von Krankheit und Heilung, die ihre Kindheit geprägt haben: Einen Monat lang konnte sie keine Nahrung zu sich nehmen, nicht schlafen. Die vielen Besuche bei Ärzt*innen blieben ohne Erfolg. Doch dann brachte die Mutter sie zu einem Geistlichen, einem Hodscha. Nachdem er Koranverse über das Gesicht der kleinen Sabiha hauchend geflüstert hatte, gesundete sie. Sie konnte wieder schlafen und essen. Ein ähnlich tiefes Erlebnis hatte sie später, als ein Geistlicher ihre Warzen „besprach“, die sich auf ihrem Körper ausgebreitet hatten.

„Hafiz“ ist der 38. von insgesamt 99 Gottesnamen, mit der Bedeutung „der Behütende, Beschützende“. Gleichzeitig bezeichnet das Wort alle, die den Koran auswendig rezitieren können, im Sinne als „Bewahrer der heiligen Botschaft für die zukünftigen Generationen“.[3]

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Schülerinnen spielen mit rosa Leuchtfeuer bei einem Picknick. Istanbul, 2018 © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Die Koranschulen und die Hafiz-Tradition

Ab dem Alter von zwölf Jahren besuchte Sabiha Çimen mit ihrer Zwillingsschwester dreieinhalb Jahre lang eine Koranschule im Istanbuler Stadtteil Alibeyköy. Beide hatten das Privileg, während dieser Zeit zu Hause statt im Schulinternat schlafen zu dürfen. Die Schule war für sie wie ein sicheres Refugium, das sie vor einer Art „Hieronymus-Bosch-Hölle“ draußen, in ihrer Umgebung, bewahren sollte:

Sie war wie ein sicherer Ort vor den Teufelsklauen, den Hexenmeistern, Dieben, den Aktienhändlern, den Werbetreibenden, Piraten, Zudringlingen, Bankern.[2]

In der Türkei gibt es Tausende Koranschulen. Die meisten unterstehen dem Präsidium für Religionsangelegenheiten der Regierung. Andere werden von religiösen Vereinen geführt. Sie sind organisiert als Internatsschulen, in denen die Schüler*innen, – ihr Alter variiert zwischen 8 und 17 Jahren – während der mehrjährigen Korankurse leben. Für Schulen wie diese Internate gilt eine strikte Trennung nach Jungen und Mädchen.

Die Schüler*innen entstammen oft ärmeren Familien aus ländlichen Regionen, die sich auf diese Weise für ihre Kinder eine Bleibe und Bildung erhoffen. Sie setzen darauf, dass der Sohn oder die Tochter als Hodscha einmal eine Anstellung finden wird. Außerdem erhofft man sich von einem Hafiz-Kind, das den Koran auswendig rezitieren kann, gesellschaftliche Achtung und Respekt.

Gewöhnlich dauert es mehr als drei Jahre, bis die 114 Suren des Korans mit ihren 6.236 Versen auswendig gelernt sind. Bis auf die Ferien kommen die Schüler*innen an fünf bis sechs Tagen in der Woche in den Kursräumen zusammen. Dann sitzen sie an ihren Lesepulten und beginnen, halblaut vor sich hin rezitierend, Seite für Seite mit dem Memorieren.

Sabiha Çimens Recherchen ergaben, dass seit 1970 mehr als 160.000 junge Frauen den Weg zur Hafiza gegangen sind. Da ihr selbst das Memorieren sehr schwer fiel, blieb es bei der Koranlektüre sowie der Teilnahme am Unterricht in islamischer Religion und Lebensführung.

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Schülerinnen fahren Autoscooter in einem Vergnügungspark. Istanbul, 2018 © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Der Weg zur Fotografin

Die Jugendjahre der Fotografin fielen in eine Zeit politischer Spannungen. Unversöhnliche Gegensätze durchzogen die türkische Gesellschaft. Der letzte Militärputsch – es war der dritte in der jungen Republikgeschichte – lag bei ihrer Geburt erst sechs Jahre zurück.

Die herrschende politische Elite, die Klasse der Offiziere und Kemalisten, hielt an einer Kleiderordnung fest, die Mädchen und Frauen mit Kopftuch aus öffentlichen Ämtern, dem Parlament, aus Universitäten und Schulen verbannte. Damit waren junge Frauen aus religiösen Familien von höherer Bildung ausgeschlossen, in die Enge des Hauses, „an den Herd“ verwiesen.

Diejenigen, die das nicht hinnehmen wollten, fanden eine Lösung: Sie überzogen das Kopftuch mit einer großen Haarperücke und konnten damit die Universität besuchen. Erst unter Erdoğans AKP-Regierung wurde 2012/2013 das Kopftuchverbot an den Universitäten und Behörden aufgehoben. Das waren die Jahre, in denen Sabiha Çimens Interesse für Fotografie erwachte:

Auch ich konnte wegen meines Kopftuches zuerst keine Universität besuchen. So entstand für mich eine vierjährige Lücke. Ich begann in dieser Zeit, mich als Amateurin für Fotografie zu interessieren. Später gab es die Mädchen, die über ihr Kopftuch eine Perücke zogen. Ich machte das dann auch und konnte so an der Bilgi-Universität von Istanbul Internationalen Handel studieren.

Ich studierte nicht Kunst, sondern schloss 2015 mit einem Master in Cultural Studies ab. […] Fotografie kam so in mein Leben und ich kaufte eine gebrauchte Hasselblad-Kamera. Damit fing ich an, meine Gefühle zu erforschen, es wurde fast wie ein Beruf.[1]

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Vildan (8) beginnt, sich an das Kopftuch zu gewöhnen. Istanbul, 2020 © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Das Langzeitprojekt „Hafiz“

Nach ihrem Masterstudium an der renommierten Istanbuler Bilgi-Universität waren es die Erinnerungen an die Jahre in der Koranschule, die sie nicht losließen. Als Autodidaktin inzwischen mit der Fotografie vertraut, kehrte sie zurück: dieses Mal, um zu fotografieren.

Der Ausgangspunkt für das Projekt waren meine eigenen Erfahrungen, meine Kindheit, meine Erinnerungen mit meiner Zwillingsschwester. Dann waren es die Farben, die Formen – alles, was ich in der Koranschule hatte. Ich war sehr jung, die Erfahrung ließ mich nicht los. Sagen wir es so: Meine persönlichen Erlebnisse brachten mich zurück. Ich wollte mich wiederentdecken. Ich fotografierte diese Orte mit der Absicht, mich wiederzuentdecken. Will sagen, es war wie eine Reise zu mir.[1]

Das Ergebnis ihrer „Reise“ – sie fotografierte im Laufe von vier Jahren zwischen Kars, Rize und Istanbul in fünf Koranschulen – sollte zum Buch werden: Ihr Baby, wie sie sagt, das sie „Hafiz“ nannte. Der Magnum-Fotograf und somit ihr Kollege Alec Soth schreibt:

„Hafiz“ ist ein Buch von Dualitäten. Die Fotografien von Çimen und ihre Texte – beide außergewöhnlich – sind gleichzeitig analytisch und mysteriös. Das Buch ist wie ein Geheimnis, zu gut um es nicht zu teilen.[4]

Das Buch ist ungewöhnlich in der Gestaltung: Es wird geöffnet wie eine Tasche, eine mit floralen Mustern verzierte Schachtel, wie solche, in der gewöhnlich der Koran aufbewahrt wird. Die Innenseiten der Buchdeckel schmückt traditionelle Ebru-Malerei. Bei dieser Kunst werden Farben im Wasserbad zu Mustern bewegt. Es entsteht das, was im Westen als türkisches Marmorpapier bezeichnet wird.

Das Buch enthält 99 Fotos – sicher eine beabsichtigte Referenz an die 99 Gottesnamen. Über ihre Arbeitsweise, das Vorgehen beim Fotografieren erzählte mir Sabiha Çimen:

Mein Projekt folgt in einigen der Koranschulen dem Alltag der Schülerinnen. Es geht nicht nur um das Memorieren, um Hafiza zu werden, sondern auch darum, wie sie gleichzeitig ihre Träume bewahren, ihre abenteuerlustige Natur als junge Frauen in diesem Alter. Ich wollte auch die Regelverletzungen, den Jux in der Schule sehen, wenn sie nicht gerade lernten. Das Projekt gab mir die Gelegenheit, mich selbst zu sehen, wie ich damals war.

Es war ein natürlicher Prozess. Ich wusste, was ich fotografieren wollte – aber nicht, wie ich herangehen sollte. […] Ich wusste, wie mein Kopf beim Fotografieren arbeitet, es geht mir dabei auch um diesen ästhetischen Anteil. So zum Beispiel bei den Farben, sie sind so reichhaltig, sie wiederholen sich. 600 Mädchen, die dieselbe Kleidung tragen. Erst dachte ich, oh Gott, aber dann war es ein natürlicher Prozess.

Ich ließ sie nicht posieren. Es gab eher eine Übereinkunft, eine Kooperation mit ihnen. Mir war immer bewusst, was ich tat. Manchmal hielt ich sie an, sie verstanden, dass ich sie fotografiere. So etwa im Garten, dort hielt ich sie an. Ich hielt die schönen Momente an, die unerwarteten, das war wunderbar für mich. Sie wussten das, sie kooperierten und halfen mir dabei.[1]

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Zeliha (15) erholt sich im Bett wegen einer Krankheit. Kars, 2018 © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Die Fotografien: Individualität versus Kollektiv

Beim Blättern durch das Buch, beim Versuch, durch diese Fotografien das Innenleben der Koranschulen zu verstehen, stellen wir vom Westen aus gewöhnlich die Frage nach der Individualität. Wird sie nicht unterdrückt, ausgeschaltet unter der gleichen Kleidung, meist schwarz, unter dem Kopftuch und beim strikten Auswendiglernen, ohne Fragen, Diskussionen?

Die Fotografien ermöglichen Einblicke in eine uns verschlossene, unbekannte Welt. Es sind Reflexionen und Hinweise auf das Innenleben der Koranschülerinnen, die trotz äußerer Uniformität ihre jeweilige Individualität bewahren und leben. So wie auch Sabiha Çimen es zusammen mit ihrer Zwillingsschwester erfahren konnte. Beim langsamen, geduldigen Betrachten entfaltet sich die „Dualität“, die Alec Soth erwähnte. Mit den vielen Details, die wir entdecken, erkennen wir auch die Persönlichkeiten der jungen Frauen.

Aber jede von uns, von uns Hunderten Mädchen, die zusammen in der Schule lebten, schaute hinaus auf die Welt und verstand sie. – Das Mondlicht, die Blumen, die Musik, die Sonne, die Früchte – entsprechend dem Charakter jeder einzelnen. […] Es gab Mädchen, die konnten anzügliche Lieder mit der gleichen Würde singen wie die Suren des Koran.[2]

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Asya spielt mit den Vögeln im Zimmer ihrer Freundin Hodja. Rize, 2018 © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Bilderwelten, die wir brauchen

Das Fotobuch „Hafiz“ von Sabiha Çimen erscheint in einer Zeit des Aufstands im Iran. Seit Monaten erheben sich Menschen unter Einsatz ihres Lebens, oft angeführt von Frauen, gegen die Kleiderordnung, das Kopftuch, die Diktatur und das Religionsverständnis des Mullah-Regimes.

Auch in der Türkei wird beklagt: die stetige Ausdehnung der religiösen İmam-Hatip-Schulen auf Kosten einer Reform des staatlichen Schulwesens, die religiöse Durchdringung des Alltags in Behörden und der Politik. Befürchtet wird die Diskriminierung und Verfolgung alternativer Lebensweisen, die weitere Revision bereits erkämpfter Frauenrechte, wie sie mit der Aufkündigung der Istanbul-Konvention begann.

Vor diesem Hintergrund mag das Buch fast apologetisch anmuten, wie eine Verteidigung überkommener Traditionen und Rückständigkeit. Daher war zu erwarten: Die Resonanz auf den internationalen Erfolg des Buches ist in der Türkei noch verhalten bis zurückweisend, die westlich-laizistischen Kreise reagieren mit Ablehnung.

Auch war von türkischen Fotograf*innen und einer intellektualisierten Kunstszene kaum Begeisterung zu erwarten. Deren Blick geht gen Westen, man schmückt sich gern mit Zitaten deutscher Philosophen von Hegel bis Heidegger. Als aktuelles Beispiel mag die Ausstellung der bekannten Fotografin Ebru Ceylan gelten, deren soeben in Ankara eröffnete Ausstellung „Weltnacht“ Hegels „Jenaer Schriften“ als Inspiration angibt.

Den Fotografien von Sabiha Çimen wird man daher auf einer der zahlreichen Biennalen zwischen Istanbul und Adıyaman im Osten der Türkei im Augenblick keinen Platz einräumen. Doch es gibt vereinzelt auch anerkennende Signale, wie das von Orhan Pamuk, der Sabiha Çimens Arbeit in der dokumentarischen Tradition des verstorbenen Magnum-Fotografen Ara Güler sieht.[5]

mehrere Personen vor einem Tisch voller FotoabzügeFrau zeigt auf Detail eines Fotos in einem vor ihr auf dem Tisch aufgeschlagen liegenen Buch

Sabiha Çimen beim Fotoediting mit Teilnehmer*innen des Magnumworkshops in Venedig am 25. November 2022. Links mit ihrem Ehemann Jason Eskenazi.

Trotz aller Widersprüchlichkeit wäre eine Zeit der Öffnung zu wünschen, da der Bildband „Hafiz“ genau die Geschichten, Bilder und Einblicke liefert, die eine gespaltene Gesellschaft bräuchte. Unabhängig von der gegenwärtigen türkischen Regierung und ihrer Betonung der Religion, muss sich die Gesellschaft erneut über ihre religiösen Wurzeln im Islam und ihre Praxis in einer säkularen, republikanischen Türkei verständigen.

Die Tabuisierung von religiösen Lebenswelten in ihren so unterschiedlichen – und uns teilweise auch befremdenden – Spielarten steht diesem Diskurs im Wege. Auch für den Westen eröffnen Sabiha Çimens Fotografien zusammen mit ihren biografischen Anmerkungen wichtige Einsichten. In einem Magnum-Interview erläuterte sie ihren Standpunkt:

Als ich diese Mädchen portraitierte, wollte ich sie so zeigen, wie ich selbst gern dargestellt und abgebildet werden möchte: Auf eine nuancierte Weise, nicht schablonenhaft, nicht eindimensional und nicht statisch. Ich möchte diese falschen Konzepte und Interpretationen dieser sozialen Sphären ändern.

Meiner Meinung nach zeigt dieses Projekt junge Frauen dabei, wie sie ihr eigenes Bild und Aussehen selbst gestalten, ohne männliche Dominanz oder gesellschaftlichen Druck.[6]

Hand auf einem Buch

Informationen zur Ausstellung

Sabiha Çimen – Hafiz
Zeit: 14. Januar – 7. Mai 2023
Ort: Kunsthal Rotterdam, Museumpark, Westzeedijk 341, 3015 AA Rotterdam

 

Informationen zum Buch

„Hafiz“ von Sabiha Çimen
Sprache: Englisch
Einband: gebunden mit offenem Buchrücken
Seiten: 140
Abbildungen: 99
Maße: 20 x 27 cm
Verlag: Red Hook Editions
Preis: 75 USD

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Titel innen © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Quellen und Anmerkungen

1. ↑ Interview des Autors mit Sabiha Çimen vom 25. November 2022, Venedig. Geführt auf Englisch und Türkisch, anschließend vom Autor ins Deutsche übersetzt.
2. ↑ Sabiha Çimen im Nachwort zu „Hafiz“, ins Deutsche übersetzt vom Autor.
3. ↑ Sabiha Çimen im Vorwort zu „Hafiz“, ins Deutsche übersetzt vom Autor.
4. ↑ LensCulture: Favorite Photobooks 2022 – Compiled by LensCulture Editors
5. ↑ Mündliche Auskunft von Jason Eskenazi am 25. November 2022 in Venedig.
6. ↑ Magnum Photos: Sabiha Çimen’s Wins the Paris Photo-Aperture First Photobook Award

Titelbild: Hatice (9) versucht, ihrer Mitschülerin Koran-Passagen aus dem Gedächtnis zu rezitieren. Istanbul, 2021 © „Hafiz“, Sabiha Çimen

Alle Fotos vom Autor.

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