Buchcover
24. März 2021 Lesezeit: ~5 Minuten

Rezension: Mine Dal – Everybody’s Atatürk

In der Türkei kommt man nicht an ihm vorbei. In jedem Flughafen, in beinahe jedem Kiosk, in jeder Behörde und auf jedem öffentlichen Platz hängt irgendwo ein Portrait oder steht eine Büste ein und desselben Mannes. Hierbei handelt es sich nicht um den Vater des Kioskbesitzers oder den Chef des Reiseunternehmens.

Der Mann auf den Bildern ist Mustafa Kemal Paşa. Oder wie er seit 1935 fast ausschließlich genannt wurde und wird: Atatürk, was so viel heißt wie „Vater der Türken“. Dieser Mann scheint im öffentlichen Raum der Türkei überall zu sein. Und er ist das Leitmotiv von Mine Dals Buch „Everybody’s Atatürk“.

Lebensmittelladen

Wer war Atatürk?

Für diejenigen unter Euch ohne Bezug zur Türkei, ein kurzer Exkurs: 1923 gründete Atatürk nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmächte die Türkische Republik. Dabei modernisierten er und seiner Mitstreiter*innen das Land grundlegend. Unter anderem trennte er Staat und Religion.

Vor vielen anderen europäischen Staaten führte er beispielsweise das Frauenwahlrecht oder Bildung für alle ein. Seither ist sein Name, seine Person unweigerlich ins nationale Webmuster der modernen Türkei eingebunden. Atatürk genoss schon zu Lebzeiten in der Türkei und weltweit Anerkennung und war das, was der Soziologe Max Weber einen charismatischen Herrscher nennen würde.

Mensch fotografiert hoch aufgehängtes PortraitSignatur als Kettenanhänger neben Kreuz

Dabei war und ist er nicht unumstritten. Viele gesellschaftliche Konflikte in diesem hochkomplexen Land gehen auch darauf zurück, dass Atatürk mit harter Hand gegen seine Feinde im Inneren vorging, die eine Modernisierung der Türkei ablehnten oder seiner Vorstellung einer homogenen türkischen Nation im Wege standen. Aber darauf tiefer einzugehen, würde an dieser Stelle zu weit gehen.

Jemand, der übrigens nicht selten zu Atatürks Omnipräsenz in Konkurrenz treten möchte, ist der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Auch deshalb erlebt Atatürk in den letzten Jahren ein Revival – als symbolischer Kontrapunkt einer säkularen Türkei zum politischen Islam. Wenn Ihr mehr über die Türkei erfahren möchtet, sei Euch dafür die Episode „Ein gespaltenes Land“ des Podcasts „Eine Stunde History“ vom Deutschlandfunk empfohlen.

gerahmtes Portrait hinter Schaufensterpuppe

Everybody’s Atatürk

Der türkeistämmigen Schweizer Fotografin Mine Dal ist mit ihrem jüngsten Buch ein so wunderbarer wie simpler Spagat gelungen. Oft bedeutet die künstlerische Thematisierung von Atatürk eine Wahl zwischen Unmöglichkeit, Pathos und Nationalismus. Dals Bilder nehmen aber keine Wertung vor, sondern untersuchen halb soziologisch und halb ironisch die heutige Türkei. Der ikonische Atatürk dient dabei als roter Faden.

Einzig das Vorwort von Zülfü Livaneli sowie das Nachwort von Altan Öymen rahmen Atatürk und seine Bedeutung für den türkischen Nationalismus etwas zu unkritisch und wären der einzige Grund, warum man das Buch nicht mögen könnte. Denn der Kern hingegen, das fotografische Werk von Mine Dal, überzeugt.

Sofa in FrisiersalonPortrait an einer Wand neben Regal und abgehängtem Spiegel

Man sollte sich zu Beginn nicht die Hoffnung einer leichten Lektüre machen. Das Buch ist ziemlich dick und trägt mit 652 Seiten und 364 Fotos recht schwer auf. Die Bilder sind fast alle randlos auf Doppelseiten angelegt. Bei dieser Menge von Bildern und Informationen möchte man meinen, dass man das Buch bald erschlagen weglegt.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Bildgestaltung ist so unterschiedlich und teilweise so komplex, dass es nicht langweilig wird. Das hat auch mit der Konzeption selbst zu tun: Mal sieht man Stillleben des Grauens, dann einen Parkplatz. Man blättert um und sieht eine tätowierte Brust mit Atatürks Unterschrift, die übrigens auch auf vielen Heckscheiben prangt.

tätowierte Brust

An Werbefallschirmen von Turkish Airlines baumeln riesige Portraits von Atatürk im Himmel. Auf einer anderen Seite lugt Atatürk hinter Gardinen hervor, die nur den Hintergrund einer bizarren Mischung aus Wohnzimmer und Friseursalon liefern. Atatürk auf Türkeifahnen über Tischen, Atatürk im Internetcafé, Atatürk als Halskette. Atatürk heryerde, Atatürk ist überall.

Natürlich fehlen in diesem Buch die Leerstellen, die Orte ohne Atatürk. Das sollte man sich stets bewusst machen. Aber darum geht es ja auch nicht in Dals aktuellem Werk. Alle Bilder eint als verbindendes Element das Konterfei des Staatsgründers. Sie erzählen in Serie – ohne Kitsch und ohne Exotismus, dafür immer mit einem Augenzwinkern – viel mehr, als eine einfache Sammlung von Portraits bieten kann.

mehrere Portraits nebeneinander: The Joker, Frida Kahlo, AtatürkPinwand mit Portrait, daneben Pinwand mit mehreren Geldscheinen

Es ist eine Geschichte über real gelebten Wahnsinn, über Entspannung, Chaos und Selbstbewusstsein, über Alltag gewordene Übertreibung, über den Umgang mit Personenkult und über einen ikonischen Atatürk als Selbstvergewisserung.

Wer einen ersten Eindruck von der Türkei außerhalb der gewöhnlichen Tourismusregionen und Speisekarten gewinnen möchte, ist bei diesem Buch genauso gut aufgehoben wie diejenigen, die die Türkei durch Familie oder Auslandsaufenthalte schon sehr gut kennen. Für mich eine klare Empfehlung.

Informationen zum Buch

„Everybody’s Atatürk“ von Mine Dal
Sprache: Englisch, Türkisch
Einband: Broschiert
Seiten: 652 Seiten mit 364 Farbabbildungen
Maße: 19.5 × 26 cm
Verlag: Edition Patrick Frey
Preis: 68 €

Alle Abbildungen: © Mine Dal, „Everybody’s Atatürk“, Edition Patrick Frey, 2020

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