04. November 2022 Lesezeit: ~4 Minuten

Sıhhatler Olsun

Als meine Mutter im März 2020 unsere alte Wohnung verlassen musste und unter anderem für einen Monat bei mir gewohnt hat, habe ich angefangen, die ersten Bilder für das Projekt zu schießen. Unsere Zeit zusammen war ziemlich intensiv und teilweise auch herausfordernd für uns beide, nichtsdestotrotz sind wir uns aber so nah wie noch nie gekommen und für mich war es ein großer Wendepunkt in unserer Beziehung.

Sie zu fotografieren half mir, besser mit der Gesamtsituation und vor allem dem Gefühl der Überforderung umgehen zu können und ehrlich gesagt, hat es sich wie ein Spiel zwischen uns entwickelt, welches uns aufmunterte. Es erlaubte mir, einen Schritt zurückzutreten, eine andere Perspektive auf die Dinge einzunehmen und unsere Emotionen anders wahrzunehmen. Dank der Fotografie haben wir uns in einer Zeit, in der uns vieles aus der Hand geglitten ist, sozusagen etwas aufgebaut, das nur uns gehörte.

Frau im Badezimmerspiegel

Schatten über einem Bett

Wir führten auch viele Gespräche über ihre Heimat, über die Auswanderung und gingen gemeinsam durch Familienalben. Ich versuchte, ihr Leben etwas aufzuarbeiten und mir fiel auf, dass mir viele Fakten und Einzelheiten darüber, wann sie ihre Zeit wo und mit wem verbracht hatte, fehlten. Diese Details machten für mich einen großen Unterschied und halfen mir, ihre gegenwärtigen Gefühle besser zu verstehen. Abgesehen davon war es für mich auch super interessant zu sehen, wer meine Mutter war oder welche Dinge ihr abverlangt wurden, als sie in meinem Alter oder sogar noch jünger war als ich jetzt.

Ich fotografierte sie weiterhin in ihrer neuen Wohnung und fing an, meine Großeltern väterlicherseits ebenfalls zu fotografieren, da wir damals sehr eng mit ihnen zusammengelebt hatten. Insgesamt begann ich, das Projekt ernster zu nehmen, mehr Bücher zu lesen, die sich mit der Einwanderungsgeschichte Deutschlands auseinandersetzen und insbesondere die Geschichten der Gastarbeiter*innen erläutern.

Zwei Menschen sitzen auf einem Bett, Detailansicht

Familie trinkt draußen Tee

Ich wollte über die Erfahrungen und Geschichten anderer Frauen lesen und fand dabei heraus, dass es nicht so viele Bücher oder Filme gibt, die vor allem auf die Erfahrungen der Frauen hinblicken, was mich ziemlich frustrierte.

Zu dieser Zeit begann meine Mutter, ihr Leben neu aufzubauen, sie fand eine neue Arbeit und richtete sich ihr neues Zuhause ein. Von Anfang an war es für mich super wichtig, auch zur Familie meiner Mutter nach Istanbul und in ihr Heimatdorf Damal zu reisen und sie dort zu fotografieren. Es war 15 Jahre her, seitdem wir das letzte Mal im Damal waren. Dorthin zu gehen, fühlte sich wie der letzte Schritt in dem Projekt an.

Herd im Sonnenlicht mit Teekanne

Portrait einer Frau

Der ganze Arbeitsprozess war ziemlich intensiv für mich, weil ich mich mit einem Thema konfrontierte, vor dem ich mich vorher immer etwas verschlossen hatte. Nichtsdestotrotz weiß ich, dass diese Arbeit nicht nur für meine eigene persönliche Entwicklung gemacht werden musste, sondern auch, weil meine Mutter eine Frau ist, die nie genug Anerkennung bekommt für das, was sie tut. Irgendwie wollte ich mich mit dem Projekt bei ihr bedanken.

Ich habe auch an einem Kurzfilm gearbeitet, den man sich auf meiner Kickstarter-Kampagne ansehen kann. Das lohnt sich, wenn man mehr über das Projekt erfahren möchte.

Buch

Aufgeschlagenes Buch

Informationen zum Buch

Sıhhatler Olsun von Aslı Özcelik
Bindung: Hardcover
Seiten: 176 Seiten, gefüllt mit eigenen Fotografien, Fotografien aus den Familienalben und Texten meiner Mutter
Maße: 20 x 15 cm
Verlag: Eigensinn
Preis: ab 35 €
Finanzierung: via Kickstarter bis zum 20. November 2022

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