07. Januar 2022 Lesezeit: ~10 Minuten

CIRCUS NOIR

Die Fotos dieses Projekts wurden über einen Zeitraum von 15 Jahren hinter den Kulissen verschiedener Zirkusunternehmen aufgenommen. Backstage war meine „Bühne“ als Fotograf. Ich möchte die Betrachtenden in eine Welt einführen, die für das Publikum einer Zirkusvorstellung unsichtbar ist. Die Achterbahn der Gefühle der Menschen, wenn sie nicht im Rampenlicht stehen.

Das geheimnisvolle, spärliche Licht hinter der Manege. Die ruhige Intensität der introvertierten Artist*innen. Die unerwarteten, magischen Momente, die plötzlich auftauchen und sich nie wiederholen. Dieses Projekt ist eine Hommage an die Welt des Zirkus und wurde im November 2021 als Fotobuch publiziert.

Die (Schwarzweiß-)Fotografie ist schon sehr lange meine große Leidenschaft. Als kleiner Bub ging ich immer zusammen mit meiner Mutter zum Friseur. Mein Haarschnitt ging rasch, die Comics dort kannte ich bald auswendig, so dass ich dann Zeitschriften wie die Bunte oder den Stern durchblätterte, während ich auf meine Mutter wartete. Die waren in den 70er Jahren schon farbig.

Mann auf hohen Schuhen greift sich an den Hals

Es muss wohl zum 150-Jahre-Jubiläum der Erfindung der Fotografie gewesen sein, als eine dieser Zeitschriften einige Ikonen der Fotografie des 20. Jahrhunderts präsentierte, die mich total fesselten: Ansel Adams, Henri Cartier-Bresson, Eugene Smith und andere. Mir gingen diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf.

Als Gymnasiast habe ich dann einen Fotokurs in der Schule belegt und das Entwickeln von Filmen und das Anfertigen von Abzügen gelernt. Ein Freund hatte eine Dunkelkammer im Keller seines Elternhauses, wo wir viele Nachmittage experimentieren konnten. Während des Wirtschaftstudiums geriet das Ganze etwas in die zweite Reihe, da probierte ich neue Dinge aus und verfolgte parallel einige andere Interessen. Ich hatte auch keine Möglichkeit, zuhause Bilder zu entwickeln.

Damals kaufe ich jedoch bereits meine ersten Fotobücher und ließ mich davon inspirieren. Mit meinem ersten richtigen Verdienst leistete ich mir aber gleich eine gebrauchte Spiegelreflexkamera, fotografierte wieder regelmäßig und entwickelte selbst Abzüge – damals noch im Keller meiner heutigen Schwiegereltern.

Drei Frauen an einem Vorhang

Ich probierte zuerst verschiedene Stile aus, etwa Landschaften und Portraits. Richtig fasziniert hatte mich jedoch die Dokumentarfotografie und die Straßenfotografie mit Weitwinkeln. Bilder, die klar aufzeigten, dass ich als Fotograf ganz nah dran war am Geschehen. Nach vielen eher handwerklich respektive technisch orientierten Kursen und Seminaren besuchte ich 2004 meinen ersten „richtigen“ Workshop. Wo es um die Frage geht, wie man eine Geschichte mit Bildern statt mit Worten scheibt.

Dieser Workshop fand in Mexiko bei der bekannten amerikanischen Fotografin Mary Ellen Mark statt, die leider vor einigen Jahren verstorben ist. Das war für mich ein prägendes Erlebnis: Seither gibt es keinen Tag, an dem ich nicht an Fotografie denke.

Ich beschloss damals, dass ich nicht mehr nur auf Reisen und auf der Straße fotografieren möchte, sondern ein Thema benötige, an dem ich in der Schweiz regelmäßig würde arbeiten können. Ich wusste von meinem damaligen Arbeitskollegen und heutigen Freund Thomas Amiet, dass er die Zirkusszene in der Schweiz sehr gut kennt. So fragte ich ihn an, ob er mir Zugang verschaffen könne.

Clown betrachtet sich im Spiegel

Einige in der Fotoszene sagen ja, dass die Kamera ihre Ausrede sei, um neue Welten zu erobern. Ich denke, dass dies auch auf mich gut zutrifft. Die Neugier, diese magische Welt des Zirkus zu erleben, war ein ganz wichtiger Motivator.

Bereits zu Beginn stand das Ziel für mich fest: die Veröffentlichung eines Fotobuchs. Das Projekt hat sich dennoch über die Jahre gewandelt – am Anfang bestand die Absicht, möglichst viele Aspekte zu dokumentieren, einen Querschnitt zum Thema Zirkus zu zeigen. Je mehr ich aber vor Ort fotografierte, desto mehr zog mich die mystische Atmosphäre hinter den Kulissen an: die Spannung, bevor es losgeht, die Konzentration der Artist*innen. Das meist spärliche Licht – wenn ein paar Sonnenstrahlen in den Sattelgang eindringen oder die Spots der Manege kurz nach hinten leuchten – welches das Fotografieren in dieser Umgebung zur Herausforderung macht.

Über all die Jahre habe ich in diversen Zirkus-Betrieben in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, USA und Kuba genau diese Backstage-Welt dokumentiert. Es gab Phasen, in denen bin ich über mehrere Tage zu einigen Vorstellungen desselben Zirkus gegangen, teilweise war ich nur einmal dort. In gewissen Unternehmen war ich während der Jahre immer wieder anzutreffen, da mir das Ambiente dort besonders gefiel, zum Beispiel im Circus Conelli in Zürich.

Menschen tanzen

Es gab Jahre, da war ich sehr aktiv und fotografierte häufig, aber auch Perioden, in denen ich wenig Zeit fand, um mein Projekt voranzutreiben. Ich fotografiere immer instinktiv und spontan, ich lasse die Menschen nicht posieren. So habe ich jeweils genau beobachtet, wo etwas Interessantes passieren könnte und mich dann entsprechend positioniert, um im entscheidenden Moment auf den Auslöser drücken zu können.

Die Platzverhältnisse sind oft beengt, es werden Kulissen, Gegenstände und teilweise Tiere bewegt oder Artist*innen wärmen sich auf und vieles mehr. Als Fotograf ist es mir immer wichtig, den Betrieb dabei nicht zu behindern.

Mit den Menschen des Zirkus habe ich mich teilweise unterhalten, andere bevorzugten ihre Ruhe, um sich konzentrieren zu können. Wie auch in anderen Unternehmen bestehen die Teams sowohl aus kommunikativen wie auch eher introvertierten Leuten. Viele von ihnen habe ich über die Jahre hinweg auch in anderen Zirkusbetrieben erneut angetroffen. Ich fühlte mich immer akzeptiert, oft war ich wohl eine willkommene Abwechslung zum repetitiven Alltagsablauf.

Weiße Pudel und ein Frauenbein

Viele fragten mich auch nach Portraits und Gruppenbilder für ihre eigenen Social-Media-Auftritte und ihre Webseiten, die ich ihnen dann natürlich immer gern zusandte. So konnte ich jeweils rasch eine Basis des Vertrauens schaffen. Ich kann mich nur an eine Ausnahme erinnern: Eine ältere Artistin ging mir aus dem Weg, das spürte ich unmittelbar und da war mir klar, dass ich sie nicht fotografieren würde.

Beim Fotografieren wurde ich von den Artist*innen häufig gar nicht richtig wahrgenommen, da sie selbst in ihren Vorbereitungen und Gedanken absorbiert waren. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass es Geduld braucht und auch immer etwas Glück, um einzigartige Momente festhalten zu können. Gute Bilder lassen sich nicht erzwingen!

Ich bin ein großer Sammler von schwarzweißen Fotobüchern, so kamen durch meine Beschäftigung mit der Zirkuswelt über die Zeit natürlich auch immer mehr Fotobücher zum Thema dazu. Was mir dabei klar wurde: ein Buch, das sich auf das Geschehen im Sattelgang beschränkt, gibt es nicht – oder es ist mir zumindest bis heute nicht bekannt. Mein Buch erzählt de facto eine fiktive Geschichte, was hinter den Kulissen vor und nach dem Auftritt geschieht. Ich möchte dies aber nicht zu offensichtlich zeigen, die Betrachtenden selbst sollen die Geschichte mit eigenen Gedanken und Assoziationen anreichern.

Mann schminkt sich vor einem Spiegel

Mein Buch besteht aus Einzelbildern, die alle zusammen durch eine bewusste Auswahl und Aneinanderreihung die Betrachtenden in diese für sie in der Regel ebenso fremde Welt entführen. Zu Beginn sind es eher harmonische Bilder, danach kommt mehr Dynamik, Dramaturgie, Spannung dazu, im hinteren Teil des Buchs sind wieder mehr ruhige, poetische Fotos anzutreffen – Magie (was ja zum Zirkus gehört).

Ich habe natürlich Tausende Bilder gemacht, im Buch sind es (nur) 57. Dies ist kein „Best of“, keine Aneinanderreihung der schönsten Bilder oder der bekanntesten Hauptpersonen. Es ging mir darum, die stärksten Bilder auszuwählen, die geheimnisvollen, die ambivalenten und diese dann in eine möglichst stimmige Reihenfolge zu bringen. Dabei war ich sehr froh, dass ich auf wertvolle Ratschläge von anderen Fotograf*innen zählen durfte.

Dennoch war es am Schluss meine Entscheidung, welche Bilder es wirklich ins Buch schaffen und in welcher Sequenz und Anordnung sie auf den Seiten präsentiert werden. Dies war ein sehr langer Prozess, der während des Lockdowns im Frühling 2020 seinen Anfang nahm und bis kurz vor Abgabe der Druckdaten im August dauerte. Die Bilder wurden über Monate an Magnetwänden und danach in diversen Buchdummies hin- und hergeschoben. Ich traf Entscheidungen, nur um diese Tage oder Monate später wieder zu verwerfen.

Clown vor einem Wohnwagen

Ich habe mich mit dem Layout-Programm InDesign vertraut gemacht, das Buch selbst gestaltet und dabei seitens Verlags volle kreative Freiheit genossen, was Layout, Papierauswahl, Materialien, Timing und Textbeiträge anbelangt. Zugleich standen mir meine Ansprechpersonen bei Bedarf aber stets sehr hilfsbereit mit Ratschlägen zur Seite. Ich habe dies sehr geschätzt.

Wir haben alle Kindheitserinnerungen an den Zirkus: exotische Tiere, waghalsige Artist*innen und lustige Clowns. Dies ist die Sonnenseite des Zirkus, die sich dem Publikum zeigt. In Wahrheit ist das Zirkusgeschäft wenig glamourös: Die Unternehmen sind mit ständig steigenden Kosten, hohen behördlichen Auflagen, Protesten von im Tierschutz engagierten Personen konfrontiert und kämpfen um die Gunst des Publikums, das heute aus einem riesigen Unterhaltungs- und Veranstaltungsangebot auswählen kann.

Viele Artist*innen träumen von einem Engagement bei einem großen, renommierten Zirkusunternehmen der Welt. Die Konkurrenz unter ihnen ist riesig, nur ganz wenige schaffen es an die Spitze. Sie setzen sich täglich Verletzungsgefahren aus, müssen beim Auf- und Abbau mithelfen, leben oft monatelang getrennt von ihrer Familie und dies alles für wenig Ruhm und Lohn.

Die Zirkuswelt ist im Wandel. Wie geht es mit dem traditionellen Wanderzirkus in Zukunft weiter und was heißt dies für die Menschen, die dort arbeiten? Einige der von mir fotografierten Zirkusbetriebe existieren bereits nicht mehr. Andere wiederum haben neue, kreative Ansätze erfolgreich umgesetzt. Dieses Projekt und das daraus entstandene Buch ist eine Hommage an die Welt der Zirkusse und ihrer Menschen.

Informationen zum Buch

„Circus Noir“ von Oliver Stegmann
Sprache: Englisch/Deutsch
Einband: Hardcover Leinen
Seiten: 112
Maße: 21,5 x 29,7 cm
Verlag: Kettler
Preis: 42 €

Bestellbar zudem direkt beim Fotografen als signierte Ausgabe oder als limitierte und signierte Ausgabe mit einem nummerierten und signieren Abzug (Auswahl von 4 Motiven, Edition von 15 Abzügen je Motiv auf Hahnemühle Fine Art Baryta, Grösse A4) für 110 €.

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