01. September 2021 Lesezeit: ~9 Minuten

In Europe they respect human rights.

Unter den gestrandeten Migrant*innen in Libyen geht die Geschichte um, dass sie nur noch den großen Fluss zwischen Afrika und Europa überqueren müssen, um nach Italien zu gelangen. Eines Tages werden sie dann zusammen mit vielen weiteren hundert Menschen in ein Gummiboot gepfercht – mit dem Hinweis, in Richtung des Lichtes zu steuern, das am Horizont aufleuchtet. Dort soll Europa sein.

Was diese Menschen jedoch nicht wissen, ist, dass das Licht eine Flamme der großen Bohrinsel Bahr Essalam ist und sich 100 km weit entfernt vor der libyschen Küste im Mittelmeer befindet. Es ist unmöglich, diese mit einem der Gummiboote zu erreichen.

Nachdem ich 2017 erfahren hatte, dass Michael Buschheuer, der Gründer der Sea-Eye, mein Nachbar ist, hatte ich mich ohne groß zu überlegen als Fotograf und Crewmitglied beworben. Kurze Zeit später kam auch schon die Zusage. Nach einem kurzen Crewtreffen in Regensburg ging es auch schon los nach Malta, von wo aus unsere zweiwöchige Mission startete.

Menschen auf einem Schlauchboot

Das Schiff Sea-Eye lag im Hafen von Malta. Aufgrund des aufkommenden schlechten Wetters mit starken Windböen und hohen Wellen entschieden wir uns, noch einige Tage lang im Hafen von Malta auszuharren. Die Zeit wurde genutzt, um das Schiff auf Vordermann zu halten und uns gegenseitig kennenzulernen. Die Feierabende verbrachten wir in der um die Ecke liegenden New Tiger Bar. Diese Bar sollte uns für den kommenden Einsatz vorbereiten, denn das Publikum bestand ausschließlich aus schwarzer Kundschaft, die selbst mit dem Boot aus Libyen nach Malta gekommen war.

Am 15. April 2017 wurden wir durch einen May-Day-Call der Iuventa (Jugend rettet e. V.) über die Position eines Holzbootes mit etwa 500 Menschen informiert. Mit voller Geschwindigkeit und vielen Menschen an Bord sind wir dorthin gefahren. Vor Ort bot sich uns ein Bild des Grauens: Wir hörten Schreie und sahen Menschen, die im Wasser um ihr Leben kämpften.

Rettungsaktion auf dem Meer

An Bord des Holzbootes herrschten katastrophale Zustände. Um die Menschen ruhig zu stellen, peitschten einige mit ihren Ledergürteln auf die Menge ein. Das Boot hatte insgesamt drei Ebenen, auf denen sich insgesamt 750 Menschen befanden. Die Iuventa und die Sea-Eye versuchten, die Menschen, so gut es ging, zu bergen und auf Rettungsinseln wie auch an Deck zu bringen. Nach einigen Stunden erreichte der Bundeswehr-Tender RHEIN das Szenario und half uns, mit zwei RIB-Booten die verbliebenen Menschen zu bergen. Bei diesem Seenotfall brachten wir insgesamt 900 Menschen in Sicherheit. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten.

Es befanden sich während dieses Tages bis zur Evakuierung durch die Soldat*innen der Bundesmarine um 0:30 Uhr des Folgetages 286 Menschen an Bord der Sea-Eye. Es herrschten chaotische Zustände an Bord. Während der Evakuierung durch die Soldat*innen des Bundeswehr-Tenders RHEIN brach Panik auf der Sea-Eye aus. Die Menschen hatten Angst, denn sie wussten nicht, was auf sie zukommt.

Menschen in Panik auf einem Boot

Schwerbewaffnet mit großen Maschinengewehren kamen sie, um die Migrant*innen abzuholen. Dabei wurden alle einzeln nach Waffen und anderen Dingen durchsucht. Dementsprechend lange dauerte die Bergung der 286 Menschen. Die Geflüchteten waren durch das aggressive Auftreten ängstlich und panisch. Ein bewegender Moment für mich war, als eine junge Frau meine Hand gehalten hat und nicht mehr loslassen wollte. Sie suchte Schutz und Halt inmitten dieses Chaos und zeigte auf ihre Brust, denn sie konnte kaum noch atmen.

Gegen 0:30 Uhr war die Evakuierung abgeschlossen, wir waren fix und fertig und bekamen einen neuen Notruf für einen Einsatz in etwa 6 Meilen Entfernung. Am 16. April 2017 um ca. 1:45 Uhr waren wir dann vor Ort und trafen auf weitere Rettungsschiffe, die allesamt schon überfüllt waren. Zusätzlich befanden sich noch mehrere hundert Menschen in fünf weiteren Schlauchbooten, die im Meer umhertrieben. Die meisten von ihnen noch ohne Schwimmwesten.

Menschen auf einem überfüllten Boot

Wir entschieden uns, 75 Menschen von einem der Boote mit an Bord zu nehmen. Ein Mann, den wir mit an Bord nahmen, hatte eine infizierte Schusswunde am Sprunggelenk und er berichtete uns, dass sein Freund in Libyen erschossen worden war. Erst morgens gegen 5 Uhr war diese Rettungsmaßnahme mit Hilfe der anderen Rettungsschiffe abgeschlossen.

Wir wollten nun zurück nach Malta aufbrechen, aber um 9:20 Uhr erreichte uns von der Organisation Seawatch ein erneuter Notruf. Ein Schlauchboot verliere Luft und ginge unter. Als wir das Boot erreichten, waren bereits zwei andere Organisationen zur Hilfe vor Ort, die jedoch schnell an ihre Grenzen kamen. So zogen wir das sinkende Boot zur Sea-Eye heran, damit die in Panik geratenen Menschen über eine Strickleiter direkt zu uns an Bord kommen konnten.

Menschen mit Wärmedecken auf einem Boot

Leider konnten wir nicht mehr allen Menschen das Leben retten. Im leeren Gummiboot befanden sich die toten Körper von fünf weiteren Männern im Diesel-Urin-Salzwasser-Gemisch. Der Steuermann lag tot neben dem Motor mit noch einer Hand am Steuer. Weitere Leichen trieben im Meer und gingen unter. Insgesamt gab es bei diesem Einsatz acht bis zehn Tote. Eine 20 bis 25 Jahre alte, schwangere junge Frau wurde bei dieser Aktion mit an Bord genommen, die schon stark unterkühlt war. Die Wiederbelebungsversuche waren nicht erfolgreich.

Das obere Deck war völlig überfüllt. Da es nur eine Toilette an Bord gab, verrichteten diese Menschen teilweise ihre Notdurft im Liegen. Andere mussten sich aufgrund der Seekrankheit ständig übergeben. Unvorstellbar, was diese Menschen aushalten mussten. Vor der Krankenstation warteten die Verletzten und unterkühlten Frauen. Eine der Frauen berichtete uns, dass zwar ihr Mann von der Sea-Eye gerettet wurde, ihr Sohn aber beim Sinken des Gummibootes ertrunken ist.

Mann mit Wasserflasche auf einem Boot

Unterdessen verschlechterte sich das Wetter und auch der Zustand der Menschen und der Crew auf der Sea-Eye. Wir mussten eine Lösung finden, um die 200 Menschen, die noch bei uns an Bord waren, in Sicherheit zu bringen. Auch das Wasser und die Lebensmittel wurden langsam knapp.

Als erste Maßnahme verlagerten wir die Menschen vom vorderen oberen Deck nach unten, um zu verhindern, dass diese durch den starken Wind und das Wasser unterkühlt wurden. Trotz intensiver Bemühungen gelang es uns bis nach Mitternacht nicht, das MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) und dessen Schiff Phoenix von einem schnellen Transfer der Menschen zu überzeugen. Um 3 Uhr nachts wurde uns vom MRCC in Rom ein erneuter Treffpunkt zugeteilt, den wir im Morgengrauen erreichten. Am vereinbarten Ort befanden sich die Phoenix, die italienische Küstenwache und wir.

Menschen auf einem Boot

Um 8 Uhr wurde die Rettungsaktion wieder für ungewisse Zeit verschoben. Es kam der Vorschlag, den Schutzhafen Zarzis in Tunesien anzulaufen. Unter Abwägung aller Gegebenheiten willigten wir ein und nahmen Kurs in Richtung Westen. Aufgrund des immer schlechter werdenden Wetters und dem kritischen Zustand der Geretteten und der Crew waren wir nun selbst in Seenot geraten und konnten das Überleben der Menschen an Bord nicht mehr garantieren.

Einen ganzen Tag und die ganze Nacht mussten die Menschen auf der Sea-Eye bei Wind, Wellen, Sonne und unter unmenschlichen Zuständen durchhalten. Auch die Crew selbst kam dabei an ihre Grenzen. Am Morgen des 16. April um 8:53 Uhr setzten wir einen Mayday-Call (Notruf) ab. Daraufhin drehte das italienische Küstenwachschiff, welches sich zwischenzeitlich entfernt hatte, um und kehrte zu uns zurück. Um 18 Uhr des gleichen Tages fand die Evakuierung der Menschen mit Hilfe von zwei Speed-Booten aus Lampedusa statt.

Der gesamte Einsatz dauerte etwa 86 Stunden bei etwa 7 Stunden Schlaf pro Crewmitglied. Dabei haben wir insgesamt 1.388 Menschen das Leben gerettet.

Menschen im Dunkeln

Diese Mission hat mich an meine persönlichen Grenzen gebracht, ich habe viel über mich selbst und über andere gelernt. Sowohl beim Fotografieren, als auch beim Umgang mit den vielen Menschen an Bord, in Stresssituationen, beim Kampf gegen die Seekrankheit und den Schlafmangel und das Zurechtkommen im Team.

Es war in jeder Hinsicht eine große Herausforderung. Da ich sowohl als Deckhand Bestandteil der Crew, als auch als Fotograf tätig war, war es immer ein schwieriger Balanceakt für mich, um welche Arbeit ich mich im entscheidenden Moment kümmern sollte. Sobald aber Menschen vor mir in Lebensgefahr waren, stand natürlich die Rettung im Vordergrund, denn ansonsten hätte ich das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können.

Ihr fragen Euch bestimmt, warum ich schwarzweiß fotografiert habe. Die Farben Schwarz und Weiß stehen zum einen für die Hautfarben der Afrikaner und Europäer. Zum anderen steht die Farbe Schwarz für den Tod. Weiß steht für das Licht, das die Flüchtenden in Europa sehen. Für viele der Menschen auf der Flucht gilt der Satz, den ich so oft gehört habe: Europa oder der Tod.

Mein Buch „In Europe they respect human rights.“ zu dieser Dokumentation ist druckfertig. Einen Verlag, der es publiziert, konnte ich leider nach langer Suche nicht finden. Es bleibt nur der Selbstverlag über eine Druckerei. Um die Druckkosten zu decken, bin ich auf Sponsoren angewiesen. Alle, die mir 50 € spenden, bekommeb später ein Exemplar von diesem Buch zugesendet. Der komplette Gewinn aus den Verkäufen geht an Sea-Eye sowie an SARaH Seenotrettung.

Spenden bitte an
Daniel Kempf-Seifried
IBAN: DE68 2004 1144 0533 8660 00
Verwendungszweck: In Europe they respect human rights.
Weitere Fotos dazu finden sich auf meiner Webseite.

Edit: Bitte gebt bei der Überweisung Eure Adresse an, damit das Buch auch den Weg zu Euch findet.

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