12. Januar 2021 Lesezeit: ~5 Minuten

Die diffuse Begegnung mit dem Unsichtbaren

Ich fühle mich fremd. Fremd in meiner Umwelt, manchmal fremd zu mir selbst. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Nicht greifbar, nicht schmerzhaft – ähnlich einem Schwebezustand. Es ist, als könnten die Gefühle nicht mehr wirklich durchdringen. Die Zeit scheint langsamer zu vergehen und doch vollkommen richtig zu sein. Was stimmt mit mir nicht?

So oder so ähnlich könnten sich Menschen äußern, die zeitweise an einer Derealisations- und Depersonalisationsstörung leiden. Entfremdung in vielen Bereichen und auf Ebenen, die für Außenstehende oft nur schwer greifbar sind. Häufig unbeachtet und leider auch teilweise falsch diagnostiziert, versteht man darunter ein vergleichsweise häufig auftretendes Symptom in unterschiedlichsten Belastungssituationen.

Trockene Erde

Im natürlichen Wechselspiel des Organismus finden sich hierbei sowohl negative, häufig mit Leid assoziierte Beispiele, als auch harmlose, kaum wahrnehmbare Alltagssituationen. Es ist ein Zustand der Abspaltung. Das „Nicht-fühlen-Können“ bedeutet nicht, keinerlei Gefühle mehr zu besitzen. Ganz im Gegenteil, es handelt sich häufig vielmehr um eine Gefühlsüberflutung, die der Körper abspaltet, um normal weiter zu funktionieren. Dieser Zustand wird in der Folge als Gefühllosigkeit interpretiert.

Ausgehend von meinen eigenen Erlebnissen entwickelte sich der innerliche Wunsch, diesem zeitweise lebensbestimmenden Gefühl eine Form zu geben. Ein Verständnis und ein Bewusstsein zu erschaffen für ein Problem, das durch immer bessere Forschungen zwar immer besser verstanden wird, jedoch kaum zu einem gesellschaftlichen Diskurs anregt.

Verschwommenes Bild

Wie also schafft man es, etwas Unsichtbares, das viel mehr Symptom, als eine gefährliche Krankheit ist, mithilfe der Fotografie etwas greifbarer zu machen? Dieser Frage bin ich konzeptionell in meiner Bachelorarbeit in Fotografie und Bildmedien an der FH Bielefeld nachgegangen und das Ergebnis ist das Buch „Derealized“.

Schaut man sich auf Social Media um, so kommen einem wahrscheinlich zuerst die üblichen, fast schon Stockfoto-artigen Bilder in den Sinn. Menschen, die überdeutlich traurig schauen oder mit verschränkten Armen in einem dunklen Zimmer sitzen. Diese klischeebeladene Darstellungsweise von psychischen Leiden oder Empfindungen gab es auch schon vor Instagram. Was kann man also tun, um die Diversität des Fühlens zu zeigen?

Zaun mit Licht und Schattenspielen

Inspiration fand ich vor allem bei künstlerisch arbeitenden Fotograf*innen, die häufig vollkommen andere Themenschwerpunkte hatten. Die visuelle Klammer ist hierbei die gefühlsbetonte, subjektive Sichtweise. Die Möglichkeit, die Realität nicht vollkommen auszublenden, sondern ihr eine subtile, oft aber auch fremde, weitere Ebene zu geben, faszinierte mich. Würde man körperliche Wahrnehmungen rein technisch illustrieren, würden die Bilder wohl sehr trocken werden.

Warum also nicht den Prozess der Entfremdung nutzen und erweitern, um den Zustand der gefühlten Gefühllosigkeit als Metapher für eine kunstvolle Umschreibung des eigenen Erlebens zu nutzen? Somit stellt meine Arbeit sowohl eine Untersuchung eines aktuellen Problems dar, ebenso liefert sie den Hintergrund für eine Reise zum eigenen Selbst.

Mit einem gewissen Freiraum möchte ich den Horizont erweitern und den Betrachtenden ein breiteres Feld eröffnen, in dem Gedanken sich mit Täuschungen und Konfrontationen verbinden. So belastend und vielfältig die Thematik auch sein mag, so weitläufig ermöglicht sie durch ihre Ungreifbarkeit die künstlerische Auseinandersetzung.

Zwei Hände greifen einander, eine ist unscharf

Schon zu Beginn der Arbeit wurde mir klar, dass ich mich in der Darstellung irgendwo zwischen Realität und Fiktion bewegen möchte. Auf die Fotografie bezogen bedeutet dies, dass die entstandenen Bilder sowohl hart, real, scharf dokumentarischen Darstellungen ähneln, andererseits auch kontrastiert werden durch traumähnliche Darstellungen von Personen, Gefühlen und Unklarheiten. Genau wie die Symptomatik selbst, sind die Bilder Ausdruck einer Wechselhaftigkeit im Leben und Erleben.

Um eine gewisse Distanz zum eigenen Empfinden herstellen zu können, war es hilfreich, die Eigendarstellung zurückhaltender zu gestalten und weitere Personen in die Darstellung zu integrieren. Den Portraits stehen die zuvor erwähnten realistischeren Objekte oder Szenerien gegenüber. Gewissermaßen bilden sie die leere Realität ab. Sie sind die Momente des „klaren Sehens“, in denen die Innenwelt trotzdem noch das Außensehen bestimmt.

Die subjektive Sichtbarkeit

Ist es damit nun möglich, die Psyche sichtbar zu machen? Vielleicht. Das, was häufig von Betrachtenden geäußert wird, dass eine Person mit ihren Fotos etwas Unsichtbares sichtbar macht, ist meines Erachtens vielmehr eine ausgelöste Gefühlsregung, die sich stark auf die Emotionen und Erlebnisse, Wünsche und individuelle Sensibilität der betrachtenden Person stützt.

Dies betrifft jeden Bereich der Fotografie, in dem mit einer persönlichen Sichtweise oder Ästhetik gearbeitet wird. Auch bei diesem Projekt wird es mit Sicherheit Menschen geben, denen die Ästhetik nicht zusagt, oder deren Gefühlswelt nicht mit der Darstellung korrespondiert.

Somit eröffnet man mit einer eigens gewählten Darstellung nicht nur ein Tor zum eigenen Inneren, sondern stellt dieses auch zur Diskussion. Die Verletzlichkeit, die damit einhergeht, prägt auch immer die Herangehensweise. Somit ist dieses Buch sicherlich kein medizinischer Ratgeber, aber ein visueller Schritt zu hoffentlich mehr Verständnis und Bewusstsein für dissoziative Symptomatiken. Für die Zukunft hoffe ich, eine Möglichkeit zu finden, das Buch in kleiner Auflage zu veröffentlichen.

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