Über Vorgänger und Nachfolger
Ob Handwerk oder Lebenskunst, wir alle genießen den Vorteil, von anderen lernen zu können. Ambitionierte Menschen küren erst einmal die eigenen Zehnfingerheld*innen oder die „Großen“, wie ich meine liebsten Vorbilder gern nenne. Eine natürliche Aristokratie in jeder Gesellschaft – sie üben einen größeren Einfluss auf das Individuum, das kollektive Denken und Sein aus als manches Regierungsoberhaupt. Ihre Werke sind die einzigen nicht zerfallenen Orakel, kleine Truhen, die den Interessierten Schätze von unbezahlbarem Wert offenbaren.
Man fängt an, selbst zu kreieren, weil man guten Geschmack hat oder zumindest denkt, ihn zu haben. Die Vorstellung eines magischen Ortes im Kopf eines jeden der Großen, an dem durch ein Fünkchen Magie die Genialität entsteht, ist ebenso eine Illusion wie das Konzept der Originalität. Diese Einsicht und der gute Geschmack lassen uns weiterarbeiten.
Doch die ersten paar Jahre, egal wie stark man sich auch anstrengt, kommt das eigens Geschaffene nie an die Standards heran, die durch die geistige Freundschaft mit den eigenen Held*innen geformt wurden. Nicht in der Lage zu sein, selbst etwas wahrlich Exzellentes erschaffen zu können, schmerzt, es schmerzt ungemein.
Nun ist es einfach, aufzugeben oder man studiert weiter die Großen und versucht, klischeehaft den inneren und äußeren Horizont zu erweitern. Alles in der Hoffnung, dass wenn man vorher Dagewesenes wahrlich verstanden hat und selbst anfängt, nach Antworten auf die großen Fragen zu suchen. Ja, wenn man wirklich alles lebt, dann lebt man vielleicht eines fremden Tages auch in die Antworten hinein und kann ein exzellentes Stück Selbst von sich geben.
In meinem Medium der Fotografie geht es oft darum, den Bruchteil einer Sekunde zu verewigen. Es gibt gar keine andere Möglichkeit als reflexionsartiges, intuitives Handeln, wenn man einen flüchtigen Moment festhalten möchte. Vor dem inneren Auge bereits visualisiert, setze ich alles daran, mit meiner kleinen Lichteinfangmaschine ein reales Bild zu schaffen, das dem meiner Vorstellung gleich kommt.
So geschah es mir an einem der regnerischen Tag im letzten Herbst, während eines Spaziergangs im Konstanzer Lorettowald. Wie immer mit meiner kleinen Rollei in der rechten Hosentasche, dachte ich über meine neusten Großen nach. Darunter waren die impressionistischen Maler Édouard Manet (1832), Paul Cézanne (1839), August Renoir (1841), Claude Monet (1840) Camille Pissarro (1830). Ihre Bilder schwirrten in meinem Kopf umher. Ihre Vorgänger und Wegbereiter J. M. W. Turner (1775), Adolphe Appian (1819), Eugène Boudain (1824) und – für mich zumindest – Nachfolger Gerhard Richter (1932) und Tom Sachs (1966) hatten es mir auch angetan.
Ich war auf verschiedenen Wegen auf ihre Arbeiten gestoßen und hatte begonnen, für mich Zusammenhänge zwischen den Œuvres herzustellen. Mich faszinierte, dass die Impressionist*innen so großen Wert auf ihre Empfindungen legten und darum Pinselstriche in einer Art vollführten, die weniger durch technischen Perfektionismus getrieben war und mehr durch intuitives Festhalten der flüchtigen Sinneseindrücke.
Eine Art zu malen wie der Fourth Wall Break im Kinosaal, die den Arbeitsprozess offenbart und gleichzeitig den Betrachtenden nahelegt, dass es sich hierbei nicht um eine Abbildung des Wahren handelt, sondern um eine Interpretation der Landschaft. Aus diesem Grund vernetzte ich diese Impressionisten mit dem modernen Skulpteur Tom Sachs. Dieser pocht darauf, alle Arbeitsschritte, die zum Endergebnis geführt haben, immer aufzuzeigen.
Sachs bemalt seine Materialien stets vor dem Verarbeiten, alle Verbindungen sollen sichtbar bleiben, um den menschlichen Einfluss auf die Figur niemals zu verlieren. Zudem hatte ich an diesem Tag durch einen Katalog von Gerhard Richter geblättert, dessen frühe verschwommene Landschaften mich auch an die Franzosen erinnerten. Mein Inneres versuchte also, auf Höchsttouren zehn neue große Künstler sowie ihr Werk zu verarbeiten und einzuordnen, um schlussendlich das Beste ihrer Ideen selbst weiterzuverarbeiten.
Ich laufe immer noch die Fontainebleau-Allee entlang, vor lauter Nachdenken haben sich meine Schritte verlangsamt und ich vergesse, die Begrüßung zweier Vorbeigehender zu erwidern. Kurz blicke ich über meine Schulter und schaue ihnen stumm hinterher, als ich auf einmal das unten abgedruckte Bild sehe. Beinahe in Zeitlupe stelle ich meine Kamera so ein, dass sie ein wenig zu lange Licht einfangen kann, um für den erhofften, verschwommenen Effekt zu sorgen.
Ich setze an, die beiden verschwimmen bereits in meinem Kopf und dann drücke ich den Auslöser. In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich gerade das tue, was mich vorher so beschäftigt hatte. 200 Jahre der bildenden Künste, diese zehn Brüder im Geiste, all das Gedankengut, das mich ach so intensiv beschäftigt hatte, all das, gebündelt vor meinem inneren Auge und in diese Fraktion der Zeit gelegt.
Alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt über die Künste und die Welt um mich herum zu wissen vermag, fließt in das Dreißigstel einer Sekunde. Als ich die Negative vom Labor zurückbekomme, werde ich mir meines wortwörtlichen Kunststücks bewusst. Kein Meisterwerk, das Kritiker*innen überzeugen soll. Ein Meisterwerk nicht im Sinne davon, dass ich mich je hinter die Großen der Malerei einreihen könnte. Sondern ein persönliches Meisterwerk, gemessen an meinen Standards, Fähigkeiten und Ideen.
Es ist ausgezeichnet und zeigt auf, wie mein autodidaktisches Studieren meiner selbsterkorenen Vorgänger soweit internalisiert ist, dass ich intuitiv in ihre Fußstapfen treten darf. Mein moderner impressionistischer Beitrag an eine edle Sache, die mir selbst so viel Freude bereitet und vielleicht, nur vielleicht, kümmert sich jemand darum, wie ich mich um die Dinge von Camille, Gerhard und Tom kümmere.