Yalla Habibi – Living with war in Aleppo
Als ich 2010 Aleppo besuchte, verband ich mit Syrien – das politische System mal außer Acht gelassen – vor allem leckeres Essen, seine jahrtausendalte Kultur und die grenzenlose Gastfreundschaft. Wenn heute von Syrien gesprochen wird, dann oft nur noch in Verbindung mit Krieg, Flucht, Terror.
Mit „Yalla Habibi – Living with war in Aleppo“ schließt der syrische Fotojournalist Hosam Katan beinahe autobiografisch eine Lücke in der täglichen Berichterstattung und ermöglicht uns einen erschreckend nüchternen Blick auf das Leben in einer geteilten Stadt, aus einer Zeit vier Jahre nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs.
Schon das Äußere des DIN-A4-großen Buches lässt erahnen, was uns im Inneren erwartet: Das in Schwarz auf orangefarbenem Grund und in Form von Rasterpunkten gedruckte Cover gibt einen vagen Blick auf eine zerstörte Gebäudelandschaft frei, vor der eine Silhouette von zwei Menschen miteinander zu gestikulieren scheinen. (Im Inneren des Buches stellt sich später heraus, dass es sich um Hosam selbst handelt, der ein Selfie mit einem Freund macht.)
Der über dem Cover liegende und in weiß gehaltene Titel lässt sich nur schwer erahnen. Alles auf dieser Außenseite schreit leise und es stellt sich sofort ein schrilles, bedrückendes Gefühl ein.
Der innere Aufbau des Buches ist relativ locker strukturiert. Zwar gibt es kein Inhaltsverzeichnis, aber nach der Widmung des Buches an die in Afghanistan getötete Fotojournalistin Anja Niedringhaus und einem einleitenden Vorwort mit zugehörigen Fotos werden wir über kapitelähnliche Abschnitte durch das Buch geleitet. Jeder Abschnitt wird von einem beschreibenden Text begleitet.
Der eigentliche Kern des Buches, die Fotos, wird auf drei unterschiedliche Weisen präsentiert: Zum einen Übersichtsbilder, meist randlos und oft auf einer Doppelseite, dann Fotos mit Rand sowie querformatige Portraits, um 90° gedreht, sodass das Buch erst einmal angefasst und bewegt werden muss, um sie richtig herum zu betrachten. Die Haptik überzeugt durch Sperrigkeit, da besonders die querformatigen Portraits entsprechenden Raum beanspruchen.
Die Typografie des Begleittextes greift das bedrückende Grundthema wieder auf: Schmerzhaft werden zentrale Grundlagen eines ausgewogenen Satzspiegels verletzt, sodass zwischen Seitenrand und Text kaum Platz vorhanden ist und ein angenehmes Lesen erschwert wird. Ständig verliert sich das Auge am „Abgrund“ des Buches. Die formalen Gesichtspunkte werden hier doppelt eingesetzt, um „Living with war in Aleppo“ zu verdeutlichen: Grausamkeit auf der einen, lose Alltäglichkeit und Struktur auf der anderen Seite.
Dieses Spannungsfeld taucht auch auf der visuellen Ebene auf. Die Bilder sind fotografisch oft unspannende, häufig durch eine mittige Bildgestaltung gekennzeichnete Pressefotos. Weder begegnen uns Vielschichtigkeit noch künstlerische Raffinesse. Das führt zu einer beschreibenden Wirkung, obwohl das Thema selbst eine Erzählung erwarten lassen könnte.
Im harten Kontrast dazu stehen die Motive: Sei es die dominante Staubwolke einer vermeintlichen Explosion im fernen Hintergrund mitten am Tag, bunte Luftballons, die von ebenso bunt gekleideten Schulkindern inmitten von grauen, ausgebombten Hausruinen steigen gelassen werden, ein erst beim genauen Hinsehen als zerfetzt erkennbarer Mann auf einer Parkbank oder die Reste einer intakten Küche, die vom zweiten Stock einer Hausruine hängen.
Sie alle sind durch die physische Nähe des Fotografen gekennzeichnet. Die gezeigten Motive bleiben allerdings meistens nackt und beschreibend und drücken durch diese gestalterische Mittigkeit eine geradezu schmerzhafte Sachlichkeit und Distanziertheit aus.
[spoiler name=“Mit einem Klick auf das + könnt Ihr das darunter versteckte Foto öffnen. Es enthält ein Motiv, das eventuell verstören könnte. Wir möchten Euch daher freistellen, es Euch anzusehen.“][/spoiler]
Getragen wird die Erzählung des Buches hingegen durch die oft persönlich gehaltenen Begleittexte, die das Eintauchen in den Kontext zulassen und die Bilder mit Leben, Trauer und Tod füllen. Das unnahbare fotografische Material wird durch die tagebuchartigen Texte an die Betrachtung herangeführt und eine Neubewertung des Gesehenen wird möglich. Die Bilder zeigen den Alltag, die Texte erzählen uns ihre Einbettung.
Wir lernen beispielsweise die tragische Geschichte der Familie Qahat kennen, die bei einem Luftangriff ihre 17-jährige Tochter Asma’a verliert und anschließend bei Verwandten unterkommen muss oder wie die Menschen von Aleppo notdürftig, aber kreativ mit dem Ausfall der grundlegenden Versorgung von Strom und Wasser umgehen müssen.
Als reines Fotobuch hätte „Yalla Habibi“ keine Freudensprünge ausgelöst. Dazu erhebt es aber auch keinen Anspruch. Viel mehr liest es sich als längeres, dokumentarisches Essay. Die meist sachlichen Fotos funktionieren fast durchweg in Verbindung mit dem Begleittext und ziehen ihre Stärke eher aus dem Motivischen, beispielsweise indem sie bizarre Inseln einer vermeintlichen (oder besser: vergangenen) heilen Welt inmitten purer Zerstörung zeigen. Fotografisch daher zwar vergleichsweise unspannend, beansprucht das Buch dennoch zu Recht seinen Platz als wichtiges Dokument über das Leben im Kriegsland Syrien.
Bewusst legt das Buch den Finger in die Wunde der Betrachtung, wenn das Thema schon vor dem Aufklappen eingeleitet wird: Die sperrige Haptik, irritierende Typografie und die ständige Notwendigkeit, das Buch anzufassen und zu drehen, verstärken die Schwere des Themas. Für mich persönlich ist nach dem Lesen des Buches zumindest eines wieder ins Bewusstsein gerückt: Das Syrien von 2010 existiert nicht mehr.
Hosam Katan (geb. 1994) verließ Syrien Ende 2015 und floh über die Türkei nach Deutschland, wo er zurzeit an der renommierten Hochschule Hannover Fotojournalismus studiert. Mit seinen fotojournalistischen Arbeiten gewann er bereits mehrere Preise.
Informationen zum Buch
Yalla Habibi – Living with War in Aleppo von Hosam Katan
Sprache: Englisch
Einband: Gebunden
Seiten: 152
Maße: 24 x 32 cm
Verlag: Kehrer
Preis: 39,90 €
Wie schnell haben wir uns wieder an diese und andere Bilder gewöhnt …
Das stimmt in Hinblick auf die gezeigten Bilder und manch ’schärferer Version‘ die es in den ÖR Medien zu sehen gibt.
Im Endeffekt trägt jede Wiederholung von Bilder zur Gewöhnung bei – die Frage ist auch: Ob Gewöhnung hier gleichbedeutend mit „Es kümmert nicht“ gesetzt wird? Schwierig. Umso erstaunter bin ich über diejenigen, die bleiben (oder bleiben müssen) und – so hoffe ich – beim Wiederaufbau helfen um zur einstigen kulturellen Blüte zurückzukehren.
Liebe Grüße wünscht
Kevin.
Dem stimme ich zu und auch den Menschen dort geht es wohl so, wenn man das Eingangsbild betrachtet. Man findet auch in solchen Situationen seinen Alltag bzw. muss man ihn finden und kleine Freuden wie den Sprung in diese Wasserpfütze.
„Die Bilder sind fotografisch oft unspannende, häufig durch eine mittige Bildgestaltung gekennzeichnete Pressefotos. Weder begegnen uns Vielschichtigkeit noch künstlerische Raffinesse. “
Also ich finde die Bilder gerade fotografisch gesehen sehr gut und drei auch spannend, geradezu klassische Reportage mit „decisive moment“: das Titelbild oben und das mit den Katzen sowie das untere.
Auch die Portraits des Mannes und des blonden Mädchens und auch das versteckte (potenziell verstörende) Foto: alle sehr gut. Eine sehr sehenswerte Fotoreportage.
Danke für das Feedback! Ihre Einschätzung teilt der Text auch durchaus! Denn weiter unten wird auf die Stärke des Motivischen eingegangen. Allerdings ist die Bildgestaltung selbst schlicht, neutral, mittig und frontal gehalten und wird dadurch nicht erzählerisch. Die Motive werden als „das ist ein Mensch“, „das ist eine Restküche“ präsentiert. Selten wird eine fotografische Spannung durch interessante Akzentsetzung, spannendes Licht oder erzählerische Techniken wie Schablonierungen, etc… aufgebaut: „Die meist sachlichen Fotos funktionieren fast durchweg in Verbindung mit dem Begleittext und ziehen ihre Stärke eher aus dem Motivischen, beispielsweise indem sie bizarre Inseln einer vermeintlichen (oder besser: vergangenen) heilen Welt inmitten purer Zerstörung zeigen.“
Wer wird das alles wieder aufbauen? Die jungen Männer, die jetzt alle in Deutschland sind?
Ja und nein, aber glücklicherweise geht es hier nicht darum, sondern um ein dokumentarisches Fotobuch, das uns das Leben der Menschen in Aleppo zeigt, wie sie mit dem allgegenwärtigen und anhaltenden Krieg umgehen und vor allem darunter leiden. Fragen wie diese drücken eigentlich nur eine nicht anthroposophische Grundhaltung aus.
Um mir vorzustellen, wie es dort aussieht und wie die Menschen damit umgehen, brauche ich nicht noch extra diese Fotos. Zeitung/ Web/ Radio haben das Thema schon ausreichend ausgequetscht. Trotzdem vermute ich, dass sich um Schutt und Asche noch Jahrundete lang keiner der ehemaligen Bewohner und die, die das alles zerbombt haben, kümmern wird.
Ps. Ich weiß nicht, was „anthroposophische“ bedeutet.