15. Mai 2017 Lesezeit: ~14 Minuten

Gut Ding will Weile haben: Langzeitbelichtungen

Dennis Wehrmann nimmt sich, was sich viele andere zu oft entgehen lassen: Zeit. Das Thema Langzeitbelichtung bestimmt seit Langem sein fotografisches Portfolio und es ist sicherlich kein Zufall, dass er als Ausgleich zu seinem Job zur Fotografie gekommen ist.

Als Photocircle-Fotograf unterstützt er mit seinen Bildern unter anderem soziale Projekte in Sambia und Deutschland. In diesem Interview für alle, die ebenso passionierte Freund*innen der Langzeitbelichtung sind – und für solche, die es werden wollen – verrät der Hamburger nützliche Tipps und Tricks, damit das nächste Foto gelingt.

Was heißt das eigentlich im Detail: Langzeitbelichtung?

Langzeitbelichtung ist ein weit gedehnter Begriff für mich und beginnt in dem Moment, in dem eine Bewegung im Bild nicht mehr scharf abgebildet wird, sondern erstmals verwischt. Langzeitbelichtung kann extrem kurz sein, zum Beispiel eine verwischte Person im Bild, die mit einer Belichtungszeit von ½ Sekunde aufgenommen wurde – bis hin zu fünf bis zehn Minuten Belichtungszeit, um besonders weiche Effekte in Himmel und/oder Wasser zu erzielen.

Venedig

Und was macht daran für Dich den Reiz aus?

Andere Menschen gehen Meditieren, Joggen, machen eben das, was sie am besten entspannt. Und für mich ist das unter anderem die Langzeitbelichtung – quasi meine Meditation. Ganz besonders ist es für mich morgens vor Sonnenaufgang: Dann ist es am ruhigsten, klarsten und ehrlichsten und das ist eine gute Zeit für eine Langzeitbelichtung.

Ich kann mich auf meine Umwelt konzentrieren und versuche, den Moment so einzufangen, wie ich ihn gerade erlebe. Mal klappt das und mal nicht, es geht mir gar nicht in erster Linie um das Ergebnis – natürlich ist es schön, wenn es passt.

Fotografisch gesehen reizt es mich, die Realität auf eine gewisse Art und Weise zu entfremden, ohne dies anhand einer Bildbearbeitungssoftware tun zu müssen. Ich bilde also die Realität ab, auch wenn sie auf den ersten Blick ungewohnt wirkt. Das beginnt schon mit einer schwarzweißen statt einer Farbaufnahme.

Eis im Meer

Aus was besteht die perfekte Ausrüstung für das perfekte langzeitbelichtete Foto?

Da braucht es gar nicht so viel oder teures Equipment, denn es passiert ja alles auf einem Stativ – und das sollte sehr stabil sein, gern aus Stahl und schwer, damit es auch starkem Wind, Wellengang und anderen Erschütterungen wiedersteht. Da die Perspektive in der Langzeitbelichtung häufig eher weitwinkelig ist, reicht ein Standardobjektiv mit einer Brennweite von zum Beispiel 24–70 mm für den Anfang. Ich persönlich nutze überwiegend eine Brennweite von 14 und 24 mm, selten geht es bis 50 mm hoch.

Im weitwinkeligen Bereich macht natürlich eine Vollformatkamera Sinn, ist aber kein Muss. Dann würde ich für den Einstieg bereits ein Objektiv mit 14 mm Brennweite verwenden. Besonders wichtiges Zubehör ist der Fernauslöser, ich bin da ganz oldschool und wähle die Standardversion mit Kabel, denn bei mir fällt das gute Stück sonst auch gern mal ins Wasser.

Weitere Voraussetzung für die Langzeitbelichtung sind Filter in unterschiedlichen Stärken nebst der passenden Filterhalterung. Nach sehr vielen unterschiedlichen Filtern verwende ich heute gern Plattenfilter aus Glas, mein persönlicher Favorit sind die Filter von Haida , da sie bei jedem Wetter farbneutral sind und das ist eher die Ausnahme.

Sonnenuntergang über dem Meer

Viele Filter haben Farbstiche bei extrem bewölktem oder sonnigem Himmel. Es lohnt sich wirklich, nicht an den Filtern zu sparen und sich auch direkt die Plattenfilter größer zu kaufen als das aktuelle Objektiv, wenn Ihr mit dem Gedanken spielt, noch mal das Objektiv zu wechseln. So spart Ihr Euch zumindest den erneuten Filterkauf.

Natürlich können neben Plattenfiltern auch Schraubfilter verwendet werden, ich ziehe die Plattenfilter aber wegen der einfacheren Kombinierbarkeit vor. Insgesamt besitze ich drei Filter pro Objektiv, in den Stärken 3, 6 und 10 Stops, die ich je nach Lichtsituation miteinander kombiniere. Selten benutze ich zusätzlich einen Verlaufsfilter für einen sehr hellen Himmel, meistens wedele ich selbst mit der Hand – dodge and burn während der Belichtung.

Auch dem Filterhalter gilt ein besonderes Augenmerk: Persönlich verwende ich auch einen Filterhalter von Haida. Das Filtergewinde sollte vor allem praktisch und stabil sein, wenn möglich aus Eisen. Gerade für sehr weitwinkelige Objektive sind Filterhalter aufgrund der gebogenen Frontlinse der Objektive sehr teuer und oftmals nicht wirklich gut. Eine empfehlenswerte deutsche Startup-Alternative ist hier LogoDeckel.

Berge und Meer

Wie sehen die idealen Licht- und Wetterverhältnisse für eine solche Aufnahme aus?

Über Licht und Wetter lässt sich unendlich philosophieren und alle Fotograf*innen haben ihre eigenen Vorstellungen und Vorlieben. Ich stelle mir zuerst die Frage des Motivs und bei welchen äußeren Bedingungen es für mich bestmöglich abbildbar ist.

Zu schnellem Erfolg führt die Langzeitbelichtung bei weitestgehend indirektem Licht, starkem Wind und davon gefolgt schnellem Wolkenzug sowie einer nicht geschlossenen Wolkendecke. Fotograf*innen wünschen sich gern ⅓ Wolken und ⅔ Himmel, was Fünf-Minuten-Aufnahmen mit langgezogenen Wolken ermöglicht. So pauschal sehe ich das nicht, aber natürlich sind Wolken meistens gegenüber einem stahlblauen Himmel zu präferieren.

Wer hat es hier besser, Lerchen oder Eulen?

Wie heißt es so schön? Der frühe Vogel fängt den Wurm! Zu den frühen Vögeln gehöre auch ich, das heißt aber nicht, dass morgens die besseren Langzeitbelichtungen entstehen. Vielmehr ist für mich der Sonnenaufgang die schönste Zeit des Tages. Langzeitbelichtung ist aber genauso möglich zum Sonnenuntergang, der blauen Stunde, auch nachts als Astrofotografie – und natürlich auch tagsüber, wenn härteres Licht nicht stört, gewollt ist oder es sich um einen bedeckten Tag handelt. Langzeitbelichtung ist unheimlich vielfältig, wenn man sich vorher Gedanken über das Motiv gemacht hat.

Venedig bei Sonnenaufgang

Raus in die Natur oder mitten rein ins Stadtgetümmel?

Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen und die Natur hat mich von Kindesbeinen an geprägt, deshalb ganz klar Natur. Viele behaupten, Langzeitbelichtung in der Natur ist einfacher als Architekturfotografie in der Stadt. Für mich persönlich ist die Fotografie in der Natur, insbesondere am Meer, vor allem minimalistischer.

Ein weiterer Unterschied ist, dass die Nachbearbeitung von Stadtaufnahmen häufig aufwändiger ist und tiefgehende Kenntnisse von Photoshop erfordert. Insbesondere in der Fine-Art-Fotografie kann man Stunden und Tage mit der Nachbearbeitung verbringen. Eine Voraussetzung, die mir nicht unbedingt liegt. Nichtsdestotrotz wohne und lebe ich in Hamburg und bin nicht so häufig auf dem Land. Deshalb bin ich meistens in dieser Stadt unterwegs und genieße es, denn Hamburg hat so viel zu bieten.

Eine Statue

Wie baue ich mein Bild am besten auf, zum Beispiel bezüglich beweglichen und unbeweglichen Objekten?

Der Bildaufbau der Langzeitbelichtung unterscheidet sich dahingehend von der „normalen“ Fotografie, dass sich viel freie Fläche für den Himmel und/oder das Meer anbietet, den sogenannten „empty space“, um Wasser und Himmel weich zu zeichnen, Spiegelungen aufzubauen und dem Himmel anhand von Wolkenzug Dynamik zu verleihen. Langzeitbelichtungen zeichnen sich häufig durch einen gewissen Minimalismus, die Reduzierung auf das vermeintlich Wesentliche und eine besondere Aufgeräumtheit aus.

Nichtsdestotrotz gilt es, auch hier ein klares Hauptmotiv aufzubauen, um das sich die Langzeitbelichtungseffekte legen. Die Perspektive ist ein wichtiger Faktor: Während sich in der Stadt nicht per se eine tiefe Perspektive anbietet, so handelt es sich in der Landschaftsfotografie um ein wirksames Stilmittel, um Tiefe zu erzeugen.

Gerade wenn ein Bild minimalistisch aufgebaut ist, erzeugt ein niedriger Aufnahmewinkel am Meer zusätzliche Dynamik und Tiefe. Also die Gummistiefel nicht vergessen und auch vor einem nassen Hintern nicht zurückschrecken. Natürlich kann jedes Motiv langzeitbelichtet werden, hier unterscheidet sich der Bildaufbau der Langzeitbelichtung nicht von der „normalen“ Belichtung.

Ein großer Platz

Licht und Wetter passen, Ausrüstung im Gepäck, Lieblingsmotiv gefunden – und nun? Was muss ich in Sachen ISO-Wert, Fokus, Blende, Filter und Co. beachten?

Technisch gesehen ist die Langzeitbelichtung gar nicht so schwer und folgt einem starren Ablauf: Steht die Kamera erst einmal auf dem Stativ und Motiv und Perspektive sind gewählt, dann stelle ich als erstes den ISO-Wert auf 100, die Belichtung soll für eine Langzeitbelichtung ja nicht lichtsensibel sein.

Als zweites beginne ich mit der Ausgangsblende f/8, mit der eine durchgehende Schärfentiefe des Bildes garantiert ist. Zusätzlich ist die Abbildungsleistung eines Objektivs bei Blende f/8 am besten. Als nächstes stelle ich die Belichtungszeit auf unendlich (Bulb), um den externen Fernauslöser nutzen zu können und die Belichtung so individuell zu steuern.

Den Filterhalter setze ich bereits jetzt auf das Objektiv und wähle auch die zu verwendenden Filter aus. Falls Ihr den Sucher an Eurer Kamera schließen könnt, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, ansonsten geschieht dies später mit einem Tuch. Hintergrund der Verdunkelung ist die Vermeidung von Streulichteinfall durch den Sucher, die bei mehreren Minuten Belichtungszeit schnell passieren kann.

Nächster Schritt: Fokussierung. Ich fokussiere bei der Langzeitbelichtung grundsätzlich manuell und lege deshalb den Fokusschalter an der Kamera auf manuell um und aktiviere das Display auf der Rückseite, zoome maximal in das Motiv hinein, suche mir eine kontrastreiche Stelle und fokussiere manuell.

Jetzt setze ich die vorbereiteten Filter auf und drücke ab. Noch ein letzter Hinweis für die, die keine Sucherabdeckung haben: Zur Lichteinfallvermeidung bietet sich ein dunkler Schlauchschal an, dieser wird über Filter und Kamera gezogen, um jeglichen Lichteinfall zu vermeiden. Je nachdem, wie viele Filter kombiniert werden und je nach Plattendurchmesser, kommt es auch zwischen den einzelnen Filterplatten zu Lichteinfall.

Somit lässt sich folgender Ablauf festhalten: Motiv, ISO-Wert 100, Blende f/8, Bulb, Fokus auf manuell, manuelle Fokussierung, Sucher schließen, Filter, Belichtungszeit, abdrücken und nicht wackeln.

Eine Stadt im Abendlicht

Wie berechne ich die Belichtungszeit?

Bei der Berechnung der Belichtungszeit bin ich ganz schwach und unwillig, mittlerweile mache ich das ausschließlich nach Gefühl. Die Theorie dahinter lautet wie folgt: Jeder Stop des Filters entspricht einer Blendenstufe. Schließe ich die Blende meines Objektivs um eine volle Blendenstufe, dann verdoppelt sich die Belichtungszeit. Verwende ich also einen Filter mit einem Stop, dann schließe ich eigentlich meine Blende um eine Stufe und verdopple die Belichtungszeit. Daraus lässt sich folgende Formel ableiten:

Belichtungszeit x Filterfaktor, zum Beispiel 1/30 s x 10 Stop = 30 sek.

Wenn einem die ganze Rechnerei im Kopf zu nervig ist, kann man sich auch eine theoretische Belichtungszeit per App berechnen lassen, hier finde ich ND-Timer (für Android im Google Play Store oder für Apple bei iTunes) ganz komfortabel. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von sogenannten Belichtungstabellen, die es im Internet zum Download gibt. All diese Hilfsmittel sind aber nur Näherungswerte. Für eine gute Langzeitbelichtung sind diese Werte für mich deshalb immer nur ein Ausgangspunkt.

Ich würde mich aber nicht so sehr auf die Berechnung der korrekten Belichtungszeit versteifen. Ob ein Foto stark über- oder unterbelichtet ist, seht Ihr sofort und sobald auf dem Bildschirm ein akzeptables Foto angezeigt wird, solltet Ihr zum Histogramm wechseln und die korrekte Belichtung anhand der Farbkanäle überprüfen.

Die Langzeitbelichtung reagiert sehr sensibel auf Lichtveränderungen und so kann die Belichtungszeit zwischen zwei Aufnahmen auch schwanken. Nur anhand der Histogramme lässt sich ein Bild korrekt ausbelichten und beurteilen. Ihr werdet staunen, wie viel Licht bei der Belichtungszeit oftmals noch vorhanden ist. Irgendwann habt Ihr dann ein Gefühl für die korrekte Belichtungszeit entwickelt und nähert Euch mit zwei bis drei Aufnahmen Eurem gewünschten Ergebnis.

Ein Sternenhimmel

Was, wenn auf einmal die Wolken aufbrechen oder die Sonne hinter dem nächsten Wolkenkratzer verschwindet?

Langzeitbelichtung ist bei jedem Wetter möglich, Ihr müsst Eure Motive an die Wettergegebenheiten anpassen. Für eine geschlossene Wolkendecke reicht eine kurze Belichtungszeit von wenigen Sekunden bereits aus, da es keine Struktur im Himmel gibt. Wasser ist bei einer Belichtungszeit von ca. 30 Sekunden weichgezeichnet (die raue See nicht). Bricht die Wolkendecke leicht auf, so bietet sich eine Belichtung von bis zu zehn Sekunden an, um einen möglichst dynamischen Himmel zu erzeugen.

Je weniger Wolken am Himmel sind, umso länger könnt Ihr belichten. Der feine Wolkenzug auf vielen Fine-Art-Fotografien ist bei Belichtungszeiten von fünf Minuten aufwärts entstanden. Hierzu braucht es starken Wind für einen schnellen Wolkenzug und einen Mix aus ⅓ Wolken und ⅔ Himmel.

Es ist wesentlich schwieriger, sich an die Sonne anzupassen, als an unterschiedliche Wolken. Für die Langzeitbelichtung bietet sich weitestgehend indirektes Licht an, um harte Schatten zu vermeiden. Direktes Gegenlicht ist nicht Euer Freund. Natürlich könnt Ihr auch bei Tages- und Sonnenlicht gute Langzeitbelichtungen aufnehmen, Voraussetzung hierfür ist aber Kenntnis über den Sonnenstand des jeweiligen Motivs, um die Sonne gezielt als Stilmittel einzusetzen.

Eine etwas überspitze Regel lautet: Wenn andere beim Fotografieren einpacken, dann könnt Ihr losziehen – je wilder, ungestümer und unberechenbarer das Wetter, desto besser sind die Bedingungen für die Langzeitbelichtung und wahrscheinlich auch die Ergebnisse.

Eisberge

Wie lautet Dein ultimativer Geheimtipp für das perfekte Foto?

Mein Ansatzpunkt beginnt damit, dass ich ein Foto bereits lange vorher im Kopf mache, bevor ich mit der Kamera an den Ort gehe. Alles beginnt mit der Entdeckung des Motivs, der Entwicklung einer Perspektive und der Idee, zu welcher Jahreszeit und bei welchem Wetter das Motiv am besten wirkt. Dann gilt es, auf den richtigen Moment zu warten, loszugehen und abzudrücken.

Leider ist mir bis jetzt noch kein einziges „perfektes“ Foto gelungen, da ich entweder im „perfekten“ Moment keine Zeit hatte oder der Moment dann doch nicht „perfekt“ war – und deswegen fotografiere ich weiter! Gerade das ist für mich aber das Wesen der Fotografie und der Langzeitbelichtung, jeder Moment ist anders und der Weg ist das Ziel. Ich lasse Euch wissen, wenn ich wider Erwarten das perfekte Foto im Kasten haben sollte.

Alle hier gezeigten Bilder von Dennis Wehrmann sind auf Photocircle erhältlich.

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