Drei Bayern auf Sinnsuche im Iran
Der eine will Frieden schließen mit seiner Vergangenheit, der andere zu körperlicher Höchstleistung zurückfinden, der dritte landläufige Vorurteile überprüfen. Eine Dokumentation von Thomas Buttchereit, Andreas Jacob und Puria Ravahi. Protokoll führte Christian Topel.
Raus, bloß raus aus dieser Stadt!
Unser Hotel liegt gleich gegenüber des Mehrabad International Airport. Nach einer kurzen, ersten Nacht erblicken wir vom 4. Stock aus die Mondlandschaft im Norden Teherans. Unten, auf den Straßen des Zehn-Millionen-Molochs erwacht der Verkehr zum Leben. Ein tückisches Gewusel!
Die iranische Bevölkerung, scheint es, fechtet fahrend kleine Kämpfe aus. Ob wohl Vorfahrt eine Form von Freiheit bedeutet, fragen wir uns. Die Luft verdichtet sich schnell zu einem stinkenden Sirup. Sogar hier oben ätzt der Smog in der Nase.
Raus also, bloß raus aus dieser Stadt, wir werden sie noch früh genug erkunden. Doch ehe wir tief, tief in den Brunnen von Puria Ravahis Vergangenheit steigen, soll es hoch hinausgehen mit uns Dreien: auf 5.671 Meter, auf den Gipfel des Damavand, seines Zeichens der höchste Berg Persiens.
Dort hinauf geleiten wird uns Mohammad, ein drahtiges Männlein mit azurnen Augen, der uns samt Jeep am Hotel abholt und sich mit lebensmüder Lässigkeit einfädelt in das teheranische Rallyegeschehen. Unsereins krallt sich in die abgewetzten Sitze – abwechselnd für die Mitreisenden und für die Unmengen teuren Equipments betend.
Drei Ziele, eine Reise
Was zur Hölle suchen drei Oberbayern zu diesen unruhigen Zeiten in einem Land, das der ehemalige US-Präsident George W. Bush auf seine berühmt-berüchtigte „Achse des Bösen“ pinnte? Ein Land, dessen Nuklearprogramm den Westen in Panik versetzt; ein selbsternannter Gottesstaat, im Namen Allahs.
Nun, da Papier bekanntlich geduldig ist, will einer von uns erkunden: Was ist dran an den Schreckensberichten aus diesem Land, das in einer fernen, glorreichen Vergangenheit zum Reich Alexanders des Großen gehörte? Wie geht es den Menschen? Wie leben sie? Wie denkt und fühlt die Bevölkerung wirklich? Zu ihr will der Fotograf Andreas Jacob auf Tuchfühlung gehen. Mit offener Linse und offenem Geist.
Für Puria Ravahi bedeutet unsere Reise eine Rückkehr. Seit 1980 in Bayern lebend, wurde der „Exiliraner“ in Teheran geboren. Seine Mutter, ursprünglich eine Rosenheimerin, hatte Purias iranisch-stämmigen Vater als Au-pair-Mädchen in Paris kennengelernt.
Der Mann studierte Maschinenbau in der Stadt der Liebe, die Romanze mündete in eine Hochzeit und in den Umzug nach Teheran – in den „Roaring Sixties“ für eine deutsche Katholikin keine große Nummer. „Der Iran war ein offenes, gastfreundliches Land“, sind sich Purias Eltern einig. Schon 1970 kommt Sepideh auf die Welt, Purias Schwester, fünf Jahre später er selbst, der kleine Stammhalter.
Die vier, erinnert sich Puria, führen ein friedliches und harmonisches Leben. Bis die islamische Revolution anrollt. Der Ajatollah Chomeini kehrt zurück, ruft die Islamische Republik aus und die Familie muss fliehen. Sie lässt sich in Rosenheim nieder, aus Puria wird, wie er es ausdrückt, der „bayerischste Perser der Welt“. Heute, als anerkannter Filmemacher, ist für ihn die Zeit gekommen, seine Wurzeln zu erforschen.
Als dritter im Bunde will Thomas „Butchy“ Buttchereit einen sportlichen Neuanfang wagen. Mein Gott, was haben der Pilot und sein Körper nicht schon geleistet? Als Teil eines Quartetts aus Abenteuersportlern hat er sich durch die halbe Welt gequält: Mit dem Bike bretterte er die Seidenstraße entlang von Indien über China nach Pakistan; er durchquerte, ebenfalls im Sattel, Äthiopien und Kirgistan; oder stapfte mit Skiern und Pulka (einem bootsähnlichen Schlitten) die Ostküste Grönlands hinauf.
Was da an Adrenalin und Kalorien umgeschlagen wurde! Bis die Prioritäten begannen, sich schleichend zu verschieben. Der Beruf forderte mehr und mehr Zeit und Konzentration ein, eine Frau trat in sein Leben, kurzum: Butchys gesamte Lebensstil änderte sich.
Der Überflieger entdeckte den Reiz von Ruhe und Gemütlichkeit. Der Abenteurer ward zum Genießer; der Sportler wurde träge; sein Körper legte fünfzehn Kilo zu – jedoch nicht an Muskelmasse. Den höchsten Vulkan Persiens mit Tourenskiern zu bezwingen, soll Butchys furioses Comeback werden!
Plan B
Mohammad steuert Polour an, ein Kaff etwa 50 Kilometer westlich von Teheran. Am Rand des Laar-Nationalparks und somit am Fuß des Mount Damavand richten wir unser Ausgangscamp ein. Im Sommer wagen nicht wenige von hier aus den Aufstieg, im Winter sagen sich höchstens Fuchs und Schneehase guten Tag.
Der „frostige Berg“ ist für extremen Wind und fiese Wetterumschwünge bekannt. Trotzdem wollen wir ihm, an der Schwelle zwischen Winter und Frühjahr, mit Tourenski an den Kragen. Für das gesamte Unterfangen sind sechs Tage eingeplant.
Wir wollen uns ausreichend Zeit gönnen, um uns auf der Schutzhütte auf 4.200 Metern Höhe endgültig akklimatisieren und einen Ruhetag einlegen zu können, ehe wir den Gipfel erklimmen. Als wir uns im Basislager häuslich einrichten, ahnen wir noch nicht, dass das Wetter andere Pläne mit uns hat.
Am ersten echten Touren-Tag stapfen wir einsam und verlassen auf 3.500, anderntags auf 3.900 Meter hoch. Das Akklimatisieren, es erweist sich als hartes Brot. Schon bald brummen uns die Schädel. Zur nächtlichen Entspannung heißen uns Betten willkommen, kaum weicher als Beton.
Immerhin, Koch Hadchi kredenzt zartestes Lammfleisch, Linsen und Reisgerichte mit Gewürzen aus Tausendundeiner Nacht. Da grinst auch Butchy wieder, der nach all den Jahren des Faulenzens gewaltig zu kämpfen hat, sich aber wacker schlägt.
Vom namensgebenden Frost des Damavand kann bis dahin keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Die für die Jahreszeit viel zu warme Sonne säbelt an den endlosen Schneehängen, sodass wir am dritten Tag die Tour abbrechen.
Eine weise Entscheidung! Nachmittags sehen wir eine gewaltige Lawine zu Tale rollen. Macht nichts, finden Puria und Andreas, ihr Film- und Fotomaterial wächst auch ohne Höhenmeter. Neben der Landschaft lassen die Menschen unsere Herzen höher schlagen.
„Welcome to Iran“, begrüßen uns die Einheimischen herzlich und lachen uns an aus ihren zerfurchten, ledrigen Gesichtern. Ein paar Schäfer laden uns gar ein, mit ihnen die Friedenspfeife zu rauchen. Schüchtern fragen wir, ob es statt des Opiums nicht auch eine Tasse Tee täte.
Schließlich siedeln wir um ins höchstgelegene Camp auf 4.200 Meter. Kein Wasser, keine Heizung, die Schlafstätten ungehobelte Stockbetten mit ein paar Fetzen, die wohl Decken darstellen sollen. Zur Müdigkeit gesellt sich am Morgen ein Gefühl, als steckten unsere Köpfe in Schraubstöcken. Aspirin ist das Nutella unserer stummen Frühstücksrunde.
Der Wetterbericht macht uns Sorgen. Wie es scheint, bleibt uns genau ein Tag, dann schlägt das Wetter um, an einen Aufstieg wäre nicht mehr zu denken. Wir halten Kriegsrat und entscheiden: Scheiß auf die Gewöhnungsphase – noch einmal schlafen, dann wagen wir uns hoch!
Beißen oder aufgeben?
Noch vor dem ersten Morgengrauen starten wir. Nur langsam kommen wir voran. Die letzten Tage stecken uns in den Knochen, die ungemütlichen Nächte. Irgendwann vergessen wir fast, Aufnahmen zu machen. Im ruhigen Rhythmus unserer Schritte knirscht der Schnee, unsere Schädel möchten explodieren, der Puls klopft wie ein Vorschlaghammer.
Immer steiler wird das Gelände, der Boden ist eine einzige Eisfläche. Und Butchy beginnt zu zweifeln: Schaffe ich das? Seine Kraft schrumpft mit jeder Spitzkehre, die er mangels ordentlicher Technik, zumal auf den neuen, langen Latten, mehr schlecht als recht hinter sich bringt.
Schließlich spricht er es aus: „Jungs, ich befürchte, das wird nichts.“ Da schaltet sich Mohammad ein: Auf 5.000 Metern stimmt unser Guide ein Lied an. Eine fröhliche Melodie, die uns einerseits fluchen lässt – wirkt diese Munterkeit doch fast wie Hohn – andererseits macht uns dieses unermüdliche Männlein auch Mut. „Beißen, Männer, beißen!“, keuchen wir uns zu.
Dann sind wir wirklich oben. Butchys Beine zittern, als rasten Elektroschocks durch das Fleisch. Wir schieben die Tränen auf den eisigen Wind, der dichte Nebelschwaden vor sich her peitscht. So richtig genießen können werden wir das alles erst Zuhause, wenn wir auswerten, was unsere Kameras eingefangen haben – falls wir es überhaupt so weit schaffen.
Eigentlich bräuchten wir eine ausgedehnte Rast, doch Mohammad schüttelt den Kopf. Diese Winde, prophezeit er, sind nur die Vorhut. Ein Sturm zieht auf. Also heißt es, die Schmerzgrenze noch weiter zu überschreiten! Wir beeilen uns, abzufellen, uns umzuziehen und uns an die Abfahrt zu machen.
Wir mühen uns endlose Firnhänge hinunter. Anfangs wie in Trance, klart der Kopf mit jedem Meter auf. Das heruntergekommene High-Camp mutet uns nach dieser Strapaze an wie ein Wellness-Ressort.
Geister der Vergangenheit
Kontrastprogramm. Wir sind zurück in Teheran, wo wir Purias Vater treffen. Auch Wahed Ravahi lebt schon Jahrzehnte nicht mehr in seinem Geburtsland. Doch lebte er lange genug hier, so hoffen wir, um sich zu erinnern. Puria will die frühere Wohnung seiner Familie finden.
Der Zeitpunkt ist günstig, seit sich unter Hassan Rohani die Gesetze für Exiliraner gelockert haben. Vorher hätte Puria als Deutscher kein Visum erhalten. Wäre er mit iranischem Pass eingereist, hätte ihn das Regime zum Militärdienst eingezogen – qua Geburtsrecht, das besagt: Einmal Iraner, immer Iraner, ob du willst oder nicht!
Wahed, ein rüstiger 78-Jähriger, wundert sich, wie sehr sich „sein“ Viertel verändert hat. Ganz Teheran wucherte ja in den letzten 30 Jahren wie ein Krebsgeschwür; aus zwei wurden zehn, manche sprechen von 15 Millionen Bewohnern. Gleichzeitig sind viele Häuser verfallen oder verschwunden, und nicht zuletzt wurden alle Straßen, Plätze und Wege umgetauft.
Wird Purias Plan scheitern? Wahed packt der Ehrgeiz. Zumal sich uns – durch das Labyrinth der Großstadt spazierend – ihre verborgene Schönheit offenbart: Die Überreste alter, arabischer Baukunst; farbenfroh gekachelter Glanz und Gloria; das Gefeilsche auf einem Bazar.
Puria durchlebt ein erstaunliches Phänomen: Er hört Menschen sprechen und versteht sie zwar nicht, doch erkennt die Worte wieder. Wahed indes quatscht fleißig Leute an. Er konzentriert sich auf Altersgenossen, die schon damals hier gelebt haben müssen, zu Zeiten des Schahs.
Nach acht Stunden erwacht plötzlich Waheds Erinnerung. Diese Häuser hat er doch schon einmal gesehen! Ist dies nicht der alte Gemüsemarkt? Tatsächlich stehen wir vor Purias Geburtshaus – und wir erleben das Wunder wahrer Gastfreundschaft.
Die früheren Nachbarn, sie leben noch an Ort und Stelle. Das Hallo ist gewaltig. Selbstverständlich haben wir einzutreten! Sofort dampft ein Teekessel, die ganze Familie versammelt sich um uns, kredenzt den obligatorischen Tee und fährt allerlei Süßkram auf. Endlich geleitet uns dann eine laut plappernde Entourage hinüber zur früheren Ravahi-Wohnung, wo die neueste Nachmieterin vollstes Verständnis zeigt für unser Vorhaben.
Also treten wir ein. Vater und Sohn atmen tief durch und sehen sie sofort vorbeihuschen, die Geister ihrer Vergangenheit. Ja, eindeutig! Dort, in dem Zimmer auf der linken Gangseite verstreute Puria immer seine Spielsachen; und in jener Wohnzimmerecke schmückte Sepideh den Weihnachtsbaum.
Wie wäre es mir wohl ergangen, fragt sich der „Exiliraner“, wäre ich hier aufgewachsen? Welcher Mann wäre ich heute? Hätte ich die Chance gehabt, mich zu dem Freigeist zu entwickeln, der ich heute bin? Wahed bestaunt indes den Wintergarten, den er eigenhändig gebaut hat. Dass er intakt und gut gepflegt ist, beglückt den alten Mann auf eine Weise, die wohl nur versteht, wer selbst einst Haus und Hof hinter sich lassen musste.
Die letzten Tage im Iran vergehen wie in glückseliger Trance. Mohammad hat uns eingeladen, bei seiner Familie zu wohnen, um von dort aus noch ein wenig Land und Leute zu erkunden. Wir nächtigen auf einem Lager aus Perserteppichen. Tagsüber bestaunen wir zerklüftete Canyons, wilde Flüsse und Hundertschaften von Iraner*innen, die uns in schrottreifen Kisten links und rechts auf den holprigen Serpentinen überholen.
Auch sie treibt es hinaus, aus Teheran, zu gemütlichen Picknicken an der frischen Luft. Ein ums andere Mal hören wir es noch, dieses abgrundtief freundliche „Welcome to Iran“. Von Feindschaft ist nichts zu spüren, nicht der Anhauch von Argwohn begegnet uns – nur Lächeln. Und wir lächeln zurück.