09. Januar 2015 Lesezeit: ~4 Minuten

Geschichten in Haut

Als Fotografin komme ich mir oft behindert vor, denn ich kann nicht alles. Ich habe Schwierigkeiten damit, Fremde zu fotografieren und bei Aufträgen, in die ich mich nicht hineindenken kann, werden die Bilder leer und kraftlos.

Wenn ich mit Modellen arbeite, kann ich nicht mit jedem; spüre ich keine Verbindung zum Fotografierten, geht es mir schlecht, ich werde zittrig und meine Brust verspannt sich. Bevor ich einen Menschen fotografiere, muss ich ihn kennen, begreifen und ihm vertrauen, denn im Moment des Fotografierens bin ich emotional nackt und absolut angreifbar.

Meine Bilder erzählen Geschichten und geben abstrakten Emotionen ein greifbares Gewand – ein Gewand, das aus meiner persönlichen Realität geschneidert ist. Dabei interessiere ich mich nicht für Makellosigkeit, sondern für Geschichten und die Schönheit, die allem innewohnt. Ich möchte zeigen, was hinter Oberflächlichkeiten oft übersehen wird.

Nackte Frauen liegen und hängen an einem Baum.

Ein Mund mit ausgestreckter Zunge, auf der eine tote Wespe liegt.

Ich liebe Körper, die Aufschluss über ihr Innenleben geben, ich betrachte sie als Bücher. Narben sind in Fleisch geschriebene Geschichten und ein bisschen wie Fotografie, denn auch sie halten bestimmte Momente fest, die aber nur der Narbenträger lückenlos entschlüsseln kann. Was auf den ersten Blick auf viele roh und brutal wirkt, trägt bei genauerem Hinsehen Zartheit, Liebe und Geschichte in sich. Eine Narbe erzählt nicht nur die Verletzung, sondern auch die Heilung.

Zu Beginn habe ich mich ausschließlich selbst als Modell für meine Bilder benutzt. Bei mir weiß ich, wie weit ich gehen darf und wie ich das, was in meinem Kopf ist, am besten umsetze. Bei Modellen kostet mich die soziale Interaktion viel Kraft. Es ist unglaublich erfüllend, einem Menschen so nahe sein zu dürfen, sich zu öffnen und Öffnung zu erfahren, aber danach bin ich am Ende meiner Kräfte.

Ein nackter Frauenkörper. Dreck bedeckt den Intimbereich.

Eine Frau mit Narben steht nackt neben einem deformierten Baum.

Früher wollte ich sein, wie das, was ich überall um mich herum sah. Dünn, glatthäutig, verführerisch. Heute kann ich mich zumindest in vielen guten Momenten lieben (es liegt trotzdem noch ein weiter Weg vor mir) – mit all meinen Narben, die nicht nur von Fehlern, sondern auch von Fortschritten erzählen, mit meinem Körper, der nicht perfekt nach gesellschaftlichen Definitionen, aber dafür einzigartig ist.

Nach viel zu langer Zeit kann ich ohne Arroganz frei heraus das sagen, was jeder sagen dürfen und können sollte: Ich finde mich schön. Zumindest kann ich es schon öfter sagen als früher – und irgendwann werde ich es immer sagen können.

Ausschnitt eines Männergesichts mit Narbe auf der Wange.Zwei Hände mit fehlendem Finger berühren sich.

Eine Hand streckt sich richtung Kamera. Ein Finger hat eine ringförmige Wunde.

Die Fotografie heilt mich. Sie hat mir einen ganz anderen Blick auf mich und die Welt ermöglicht. Diesen Blick möchte ich teilen, denn ich wünsche mir oft, jemand hätte mir früher erzählt, dass es in Ordnung ist, ich selbst zu sein.

Ich werde oft gefragt, warum ich in meinen Bildern so viel Nacktheit zeige. Ob ich mich nicht schäme, ob sich meine Modelle nicht schämen, ob es im Internet nicht genug „nackte Weiber“ (ich setze mich übrigens langsam auch mit männlichen Körpern auseinander) gäbe. Warum also?

Ich will die Essenz zeigen. Das, was uns vereint und menschlich macht. Kleidung kann viel aussagen, aber dennoch versteckt sie. Körper sind zeitlos; sie sind unser Mittel der Kommunikation. Jeder Muskel und jede Bewegung sendet eine Botschaft.

Eine Collage einer Frau mit Narben am Oberkörper.

Eine Schnecke liegt auf Narben.Eine nackte Frau hält einen toten Vogel mit ausgebreiteten Flügeln über sich.

Die größte Belohnung und Freude ist es, wenn ich sehe, dass meine Bilder nicht nur mir, sondern auch anderen helfen. Ich habe mittlerweile so viele Nachrichten erhalten, in denen mir Menschen mitteilen, dass ich ihnen helfe, sich mit anderen Augen wahrzunehmen. Dass sie lernen, sich schön zu finden. Dass sie endlich erkennen, dass es nicht abnormal ist, bestimmte Dinge zu fühlen. Vor allem, dass sie nicht allein sind.

17 Kommentare

Die Kommentare dieses Artikels sind geschlossen. ~ Die Redaktion

  1. Narben sind die Geschichten, die das Leben auf dir hinterlässt. Ein Zeichen davon, dass du gelebt hast. Das Leben ist, wie es so schön heißt, kein Ponyhof, also sollte man sich dieser Zeichen nicht schämen. Dass man sie betrachten kann heißt ja, dass man die rauhen Zeiten trotz allem überstanden hat

  2. Die Fotos wirken auf mich – mit Verlaub – schräg bis abstossend. Wo sehen Sie die Schönheit in einem blutenden Finger ?

    Spannend hingegen die Frage: Fotografie als therapeutisches Instrument ? Für den Künstler oder das Model ? Warum nicht. Ihre Gedanken erinnern mich teilweise an den vierstündigen Film „La Belle Noiseuse“, der die Beziehung und den Kampf darum beleuchtet. Ich denke, die fotografische Arbeit der Beteiligten kann durchaus zu einer persönlichen Entwicklung dienen.

    Danke fürs Zeigen und das offene Mitteilen Ihrer Gedanken.

    • Aber es kann doch keine neue Tageserkenntnis sein, dass Schönheit in der Kunst nichts mit Wohlfühlfaktoren zu tun hat, denn sonst wäre es ja Kitsch and nothing else.

    • ‚Wo sehen Sie die Schönheit in einem blutenden Finger ?‘
      Ich denke Sie werden die Schönheit nicht finden, wenn Sie nur den Makel sehen – es geht darum, die Schönheit trotz Makel wahrzunehmen bzw als einen Teil in der gesamtem Schönheit zu betrachen.
      Ich finde die fotografische Umsetzung des Textes sehr gelungen.

  3. Mutig! Fotografische Kreativität zu nutzen um inneren Verletzungen zu begegnen ist eine gewaltige Kompetenz. Schwimmen Sie bitte weiter gegen den Strom bonbonfarbener, nachgearbeiteter Hochglanzpostings. Man sieht bekanntlich ja nur mit dem Herzen gut (klingt zwar abgedroschen, stimmt aber) und das tun sie offenbar.

  4. Die Bilder beunruhigen mich. Im wahrsten Sinne des Wortes.
    Das gilt für nahezu alle deine Bilder, auch die auf deiner Homepage.
    Ich schaue sie an und mir wird unwohl.

    Und es ist wahrlich kein „wohliger Schauer“ – vielmehr ist es tief vergrabene Angst, auf die durch deine Bilder ein Scheinwerfer gerichtet wird und ich sehe für einen kurzen Moment, was ich sonst im Verborgene zu halten versuchen, weil ich es nicht sehen will. Aber ich kann auch nicht wegschauen.

    Einzig die „Street-Serie“ ist anders. So als hätte sie jemand anders fotografiert. Oder als wäre sie aus einem anderen Teil deines Lebens.

    Danke

  5. Beeindruckende Fotos. Kaum eins auf der Website, das mich kalt lässt. Viele verstören und sind doch ästhetisch zugleich. Ich weiß nicht, ob ich so was in der Art schon gesehen habe oder ob andere Fotos in der Dichte schon so viele verschiedene Gefühle bei mir ausgelöst haben. Ich bin nachhaltig beeindruckt.

  6. Kompliment, sehr eindrucksvolle Fotos. Als Mensch, der sich von dunklem mehr angezogen fühlt, als vom hellen, um es simpel zu umschreiben, haben mich viele deiner Bilder beeindruckt. Das mit der Wespe ist großartig, nur ein Beispiel.

    Allerdings, das möchte ich auch sagen, gerate ich innerlich immer in einen Konflikt, wenn ich sehe, dass Menschen sich selbst verletzen und das dann fotografieren.

    Wenn es dir oder dem betreffenden Model hilft, gut.

    Zig geritzte Narben und frisches Blut auf Armen, dem Körper, weil das Konzept der Fotografie düster, morbide ist und Schock schon immer der Aufmerksamkeit diente, also Inszenierung um des Fotos willen, das wäre meiner persönlichen Meinung nach abzulehnen.

    Allerdings geben deine Worte, was Schönheit angeht, die Fähigkeit zu entwickeln, sich selbst anzunehmen, einen Hinweis. Es ist bedauerlich, wie blind wir Menschen oftmals sind, wenn wir in einen Spiegel blicken.

  7. Grossartig!
    Mir gefällt die Umsetzung dieses Themas ausserordentlich. Sorry, wenn ich da einen psychologischen Hintergrund erkenne und das gar nicht so gemeint gewesen sein sollte.

    Ich finde es jedenfalls super umgesetzt. 5 Fotos davon würde ich mir an die Wand hängen.

    Der Begleittext dazu war auch vollkommen berechtigt, richtig und gut.

    Ich kann mir gut vorstellen, dass einige Betrachter damit vielleicht ein Problem haben. Wegsehen ist immer einfacher. Zeig’s ihnen!

  8. Die ersten Sätze haben dich mir sympathisch gemacht. Irgendwie beruhigend, dass ich nicht die einzige bin, der es so ergeht. (danke dafür ;)) Dann waren es aber nicht mehr nur die ersten Sätze, sondern auch alles weitere, was du geschrieben hast. Und die Bilder sprechen dann für sich, sind kraftvoll und emotional. Ich finde das bewundernswert.

  9. Als Ergänzung zu einem Beitrag bzw. Artikel passen die Fotos. Als Fotos an sich, losgelöst vom Text, geben sie m.E. nicht viel her.

    • Finde ich gar nicht!!! Zum Beispiel das Foto mit der Wespe im Mund – gruselig, skurril, auch ein bisschen eklig. Aber auch ohne Erklärung für mich ein super tolles Foto, da kann man so viel reindenken … etwas liegt mir auf der Zunge …. aufgestoßen … Gift im Mund … usw.

  10. <3
    ich kenne das so gut mit dem "fremde Menschen fotografieren" es ist immer wieder anstrengend und trotzdem lohnt es sich dann am Ende meistens sich darauf einzulassen.
    Und auch Nacktheit finde ich natürlicher, Kleidung lengt meist zu viel ab und man ordnet die Person sofort in eine Zeit und Kultur ein.
    Die Fotos sind wunderbar.