Die Handwerker des Marais
Zigeuner, entlaufene Mönche, versumpfte Studenten, Schurken aller Nationen, wie Spanier, Italiener, Deutsche, und alle Religionen, Juden, Christen, Mohammedaner, Götzenanbeter, betteln am Tag und schwärmen [hier] nachts als Räuberbanden aus…
So beschrieb Victor Hugo in seinem sozialkritischen Roman „Les Misérables“ aus dem Jahr 1862 das Stadtviertel „Le Marais“ zwischen dem 3. und 4. Arrondissement in Paris. Der Marais, zu Deutsch „Sumpf“, war tatsächlich in den letzten Jahrhunderten immer wieder Schauplatz großer gesellschaftlicher Umwälzungen.
Nachdem der Adel aus dem Viertel in Folge der französischen Revolution vertrieben wurde, siedelten sich einfache Kaufleute und vor allem Handwerker in den mittelalterlichen Gassen an. Diese kleinen Handwerksbetriebe prägten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts das Straßenbild des Viertels.
Doch heute sind die Straßenzüge nicht mehr für Schuhmacher, Gerber, Geigenbauer oder Lithographen bekannt. Die engen Straßen werden viel mehr aufgrund ihrer Luxusboutiquen, Pop-up-Stores und Fine-Art-Galerien von den wohlhabenden Menschen aus der gesamten Welt frequentiert.
Hier findet seit einiger Zeit ein gesellschaftlicher Wandel statt, der genau gegensätzlich zu der Entwicklung nach der französischen Revolution verläuft: Während damals die Arbeiter den wohlhabenden Adel vertrieben, scheinen heute die Arbeiter des Viertels durch die Reichen dieser Welt verdrängt zu werden. Bei Spaziergängen durch das Viertel im Frühling 2014 spürte ich, dass diese Entwicklung noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Das war der Anlass für mich, gemeinsam mit dem befreundeten Fotografen Neil Atherton diese Veränderungen anhand einer Portraitserie zu dokumentieren. Wir wollten ein Bild des Marais und seiner Bewohner festhalten, das in einigen Jahren so nicht mehr zu finden sein wird. Ein wenig wie bei der Suche nach einer seltenen, vom Aussterben bedrohten Tierart versuchten wir, bei Rundgängen im Viertel die verbliebenen Handwerksbetriebe ausfindig zu machen.
Wir wurden fündig, doch oft lagen die Betriebe ein wenig versteckt, sei es in einem Hinterhof oder am Ende einer Gasse, fast ausschließlich in Lagen, die für Hochglanzgeschäfte nicht geeignet sind.
Schnell erkannten wir, dass sich in diesen teilweise winzigen Werkstätten besondere Menschen und einmalige Geschichten verbargen. Während der ersten Begegnungen mit den Handwerkern wurde uns bald klar, wie hart diese Menschen ihrer Arbeit nachgingen. Waren unsere Gegenüber zu Beginn häufig etwas scheu und verschlossen, so erfuhren wir nach und nach mehr über die Geschichte des jeweiligen Betriebs und der Menschen, die dort arbeiteten.
Was mir nach einigen Gesprächen auffiel, war die Tatsache, dass alle ihrer Arbeit mit einem bescheidenen Stolz nachgingen. Meinem Eindruck nach verlieh genau dies ihnen die Kraft, ihr Handwerk oft bis zu 12 Stunden am Tag auszuüben.
Auch wenn ich die Idee, meine Großformatkamera im Format 20 x 25 „auf die Straße“ zu holen, schon länger hatte, schien mir dieses Projekt dafür prädestiniert zu sein. Es sollte eine große Herausforderung werden, in den kleinen, häufig mit Maschinen und Werkzeugen vollgestellten Räumen Platz für die Kamera zu finden.
Ich hatte das Gefühl, mich mit der schweren, sperrigen Kamera mit dem aufwändigen Aufbauprozess auf eine Ebene mit den Handwerkern zu begeben. Zusätzlich wollte ich den zu dem Zeitpunkt ganz neu auf dem Markt befindlichen Polaroid-Schwarzweißfilm für das Großformat vom Impossible Project für eine längere, zusammenhängende Serie nutzen.
Damit konnte ich zum einen den Handwerkern direkt ein Ergebnis präsentieren; zum anderen schafft dieser Film einzigartige Portraits, die den Personen eine Aura verleihen, wie sie in Walter Benjamins Texten zur Fotografie beschrieben wird. Wenn ich mir die Portraits anschaue, finde ich, dass sie den Menschen, so wie ich sie kennenlernte, überaus gerecht werden.
Viele Kameras erzeugen eher ein künstliches Bild von Menschen in Portraitsituationen. Der langwierige Aufbau- und Einstellungsprozess der Großformatkamera erlaubt es den Portraitierten hingegen, eine Beziehung zur Kamera und dem dahinter stehenden Fotografen aufzubauen. Er lässt der Aura Zeit, sich zu entwickeln. Ich denke, dass dies sehr wichtig ist, um Portraits anzufertigen, die etwas über den Charakter einer Person aussagen.
So höre ich zum Beispiel jedes Mal, wenn ich das Portrait des Geigenbauers Jan Bartos betrachte, seine leise, erschöpfte Stimme, die immer wieder von kleinen Seufzern unterbrochen wird. Klar, aber gleichzeitig angestrengt erzählt er dann, wie er tagein, tagaus Geigen mit seinen feinen Werkzeugen bearbeitet.
Auch dem Lithografen Christian Bramsen, den wir am Ende eines langen Arbeitstages portraitierten, steht die körperliche Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Unzählige Male hat er an diesem Tag die Druckplatten in der über 100 Jahre alten Druckerpresse neu justiert, verschoben und angepasst und mit seinem Spachtel die Druckerschwärze darauf verstrichen.
Eine weitere Beobachtung, die wir bei der Suche nach Handwerkern machten, war folgende: Augenscheinlich gab es zwei Gruppen von Handwerkern – die, die in den alten Werkstätten tätig waren, in denen seit über 100 Jahren der gleiche Beruf ausgeübt wurde, und die, die sich im Zuge der Umstrukturierung des Viertels neu angesiedelt hatten.
Während die „alten“ Handwerker eher klassische Berufe wie Schuhmacher, Barbier oder Drucker ausüben, gehen die „neuen“ Handwerker vor allem „kreativen“ Arbeiten nach und stellen zum Beispiel Kleider und Schmuck her oder tätowieren Menschen. Interessant war, dass die „neuen“ Handwerker häufig weiblich sind, während die „alten“ Handwerker ausschließlich männlich sind.
Welche Unterschiede es zwischen diesen Gruppen gibt, möchte ich an dieser Stelle gar nicht weiter erörtern. In den Gesprächen stellte ich vor allem eine Gemeinsamkeit fest, die „alte“ wie „neue“ Handwerker gleichermaßen teilten: eine Leidenschaft für ihr Schaffen, die außerhalb monetärer Gegenleistungen liegt, und aus der sie immer wieder Kraft schöpfen.
Das Faszinierende am Marais ist und bleibt, dass man trotz der starken Veränderungsprozesse auch heute noch all die Gruppen, die Victor Hugo in „Les Misérables“ nennt, im Marais antrifft (wenn auch teilweise unter anderen Zuschreibungen). Die Frage ist aber, wie lange dies noch der Fall sein wird. Eine Studie mit dem Titel „How Airbnb is taking over Paris“ aus dem Jahr 2015 fand jedenfalls heraus, dass im Jahr 2014 erstmals mehr Touristen in Airbnb-Ferienwohnungen im Marais übernachteten als Menschen offiziell im Viertel wohnten.
Mein Gefühl hatte mich damals also nicht getäuscht. Sollte diese Entwicklung anhalten, scheint es mir unausweichlich, dass Menschen wie Monsieur Alain oder Monsieur Paul dem finanziellen Druck bald nicht mehr standhalten können. Vielen der Handwerker lagen Angebote vor, aus ihren Mietverträgen auszusteigen oder ihre Pachtverträge zu verkaufen.
Vielleicht werden in einigen Jahren die Spuren ihrer Arbeit nicht mehr zu sehen sein. So wie die belichteten Großformatpolaroids, die mit der Zeit langsam verblassen, bis keine Konturen mehr zu erkennen sind.