Kuba mit Einschränkungen
Nach drei Jahren Abwesenheit reiste ich im März 2016 wieder in die Heimat. Es war Zeit, meine Eltern wiederzusehen und mein geliebtes Sancti Spíritus zu besuchen – die Stadt im Zentrum der Insel, wo ich das Laufen, das Sprechen, das Lesen und das Schreiben gelernt habe. Darüber hinaus freute ich mich auf meine neuen Kubafotos.
Einen richtigen Plan, was und wie ich fotografieren wollte, hatte ich dieses Mal nicht. Ich wusste bloß, dass ich 2016 keine fotografische „Menschenjagd“ auf Kuba treiben würde. Das hatte ich in der Vergangenheit ausreichend getan und die Bilder, die aus diesen Streifzügen entstanden sind, kann ich sowieso nicht mehr toppen. Im besten Falle kann ich mich nur wiederholen.
So beschloss ich, die Wiederholungsgefahr im Keim zu ersticken: Ich nahm nur eine 35-mm-Festbrennweite mit auf die Reise, quasi als bewusste technische Einschränkung. So kurzsichtig ausgestattet, dachte ich, würde ich nicht in die Versuchung kommen, Menschen aus der Distanz heran zu zoomen und so zu fotografieren.
Hinzu kommt, dass ich zu diesem Zeitpunkt über nur wenig Erfahrung mit der für Straßenfotografen klassischen Brennweite von 35 mm verfügte. Neuland im eigenen Land. Ich musste mich als nun „amputierter“ Fotograf auf den Straßen meiner Geburtsstadt neu erfinden. Keine Chance auf Routine, mein Flow wurde brutal gekappt.
Die Herausforderung und die damit verbundene Ungewissheit waren mir aber willkommen, ich ging mit meinem Wagnis erstaunlich entspannt um. Ich spürte keinen Druck, ich reiste nach Kuba mit dem Gefühl der Sättigung und der darauffolgenden Genügsamkeit, denn mit meinem Kuba-Portfolio war ich eigentlich schon sehr zufrieden.
Ich brauchte dieses Mal nicht unbedingt etwas aus dem Land mitzunehmen, denn zuhause in Deutschland hatte ich genug davon. „Vielleicht“, sagte mir meine innere Stimme, „hast Du ‚Deine‘ Kubafotos bereits aufgenommen.“ Wenn drei bis fünf gute Fotos dazu kämen, dann dürfte der Sack voll sein.
Ich wusste außerdem, dass meine Flügel in Kuba kurz beschnitten sein würden. Meine Eltern sind über achtzig Jahre alt und ihre eingeschränkte Mobilität verpflichtet mich dazu, in ihrer Nähe zu bleiben. Mir war bewusst, dass ich die meiste Zeit in meiner Geburtsstadt Sancti Spíritus bleiben würde.
Mit der Entscheidung, nur eine Festbrennweite mitzunehmen, hatte ich mir selbst eine technische Einschränkung auferlegt und mit der erzwungenen Bleibe in Sancti Spíritus wurde noch dazu auch mein Bewegungsradius eingeschränkt.
Der Minimalist in mir aber feierte die Einschränkung und fühlte sich im Käfig ganz in seinem Element. „Ein Hoch auf das, was da kommt!“, sagte ich mir, als das Hahnengeschrei, das Hundegebell und die Rufe der fliegenden Händler der ersten Nacht im Haus meiner Eltern ein Ende setzten.
Auf dieser Reise sind Bilder entstanden, die nicht besser und nicht schlechter sind als meine alten Kubafotos – so sagt die Vernunft. Sie sind anders, weil ich durch meine freiwillige Amputation nicht anders konnte und wollte. Ein Hoch auf das Andere! So relativiere ich eine gelegentliche, nicht ausgesprochene Unsicherheit, wenn ich Neues mit Altem vergleiche.
Ich wollte keine Ausschau auf ahnungslose Menschen halten und sie mit dem Autofokus-Lasso in den Kasten ziehen. Stattdessen entschied ich mich für eine sorgfältige Auswahl des grafischen Rahmens meiner Fotos und ließ den Zufall das nötige i-Pünktchen setzen. So fotografierte ich großzügig hyperfokal und betrachtete die Passanten als willkommenen „Störungsfaktor“ meiner Kompositionen.
In meinen neuen Fotos erkenne ich das Sancti Spíritus meiner Kindheit wieder, so wie ich es in meinem Herzen trage und in der Erinnerung behalte. Doch der Reisende sei gewarnt: In meiner ehrlichen Liebe bin ich auch unehrlich. Ich habe die Stadt für mich und nach meinen Sehnsüchten visuell rekonstruiert.
Ich zeige die Stadt so, wie ich sie aus meinen Kindestagen kenne und heute noch sehen möchte. Ich sehe fast menschenleere Straßen und ein einzelnes Passieren des Lebens durch lückenlose spanische Kolonialarchitektur. Ich lasse die Espirituanos (wie die Anwohner von Sancti Spíritus genannt werden) mit ihrem winzig gewordenen Dasein vor mächtigen Kulissen aus vergangenen Zeiten – immer etwas suchend – vagabundieren.
Ich zeige die mir vertraute Normalität einer Stadt, die in ihrer Unschuld noch nicht ahnen kann, dass sie ein halbes Jahrhundert später als Reisedestination in den Touristenkatalogen der westlichen Welt vorgestellt wird.