Der Traum von Russland
Ein Land, das es offiziell nicht gibt. Es ist auf keiner Landkarte zu finden und besitzt trotzdem ein eigenes Parlament, eigenes Geld, eine Armee und eine Nationalhymne. Ein Gebiet, das nur ein Ziel hat: die Eingliederung nach Russland. Ein Besuch in Transnistrien.
Der Zeiger an der kleinen goldenen Uhr über dem Fernseher zeigt an, dass es kurz vor 23 Uhr ist. Costja Boodech schenkt die Gläser schon mal voll, während Wladimir Putin sich im russischen Staatsfernsehen bei seinen Landsleuten in einer Neujahresansprache bedankt. Dann läuten die Glocken des Kreml im fernen Moskau. Zwölf mächtige Schläge. Die russische Nationalhymne ertönt und Costja Boodech stößt mit seiner Mutter auf das neue Jahr 2016 an.
Dass Moskau über 1.500 Kilometer entfernt und es hier erst 23 Uhr ist, scheint die beiden nicht zu stören. „Wir machen das ja schließlich schon immer so“, erzählt er. Über dem Nachthimmel Tiraspols, der Hauptstadt Transnistriens, erhellen die Feuerwerkskörper den Himmel.
Eine Stunde später dieselbe Prozedur. Dieses Mal spricht allerdings Jewgeni Schewtschuk, der neue Präsident von Transnistrien, im staatlichen Fernsehsender. Und der Zeiger der kleinen goldenen Uhr über dem Fernseher im Wohnzimmer zeigt jetzt tatsächlich 24 Uhr. Wieder wird angestoßen und wieder gibt es ein Feuerwerk, dieses scheint aber kleiner zu sein. „Die meisten Menschen können sich das ja sowieso nicht leisten“, meint Costja Boodech, während er sein zweites Glas Sekt trinkt. „Dann feiern wir lieber mit Russland“.
So denken viele in Transnistrien. Ein Gebiet, das gerade einmal 200 Kilometer lang und nur wenige Kilometer breit ist. Gut eine halbe Million Menschen leben hier, praktisch alle sprechen Russisch. Im Osten liegt die Ukraine, im Westen die Republik Moldau, zu der dieses Gebiet völkerrechtlich gehört.
Doch das hört hier niemand gern. Auch Costja nicht. Er ist 26 Jahre alt und hat an der Universität in Tiraspol Politikwissenschaft studiert. Dann war er zwei Jahre lang beim Militär, zuständig für Propaganda. „Natürlich liebe ich Putin, schließlich ist er ein starker Mann, der Russland zu alter Stärke zurückgebracht hat“, erzählt er überzeugt.
Dass nahezu alle Menschen in Transnistrien der gleichen Meinung sind, zeigt eine Volksabstimmung im Jahr 2006. Damals votierten über 97 Prozent der Wähler für eine „Beibehaltung der Unabhängigkeit“ sowie einer späteren Wiedervereinigung mit der Russischen Föderation.
Costja Boodech, dick eingepackt in Jacke und Handschuhe, ist einer der wenigen, die am nächsten Morgen in der Stadt unterwegs sind. Um die Karl-Liebknecht- und Lenin-Straße weht ein eisiger Wind. Die Stadt wirkt fast wie ein sowjetischer Propagandafilm aus den sechziger Jahren. Oberleitungsbusse, die pünktlich abfahren. Gepflegte Parks und kein Müll auf den Straßen. Kriegerdenkmäler erinnern an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sowjetsoldaten – und an die Helden des Kampfes um Transnistriens Unabhängigkeit.
Die wenigen Menschen, die unterwegs sind, sind gut angezogen. Auf der Straße des 25. Oktober, benannt nach dem Tag der Oktoberrevolution von 1917, steht auch das Parlament und davor eine riesige Statue von Lenin. Er wirkt fast wie ein Superheld mit seinem großen, schützenden Mantel.
„Man darf hier auf keinen Fall fotografieren“, sagt Costja Boodech. „Als ich vor einiger Zeit mal ein Foto gemacht habe, kam daraufhin der KGB zu mir nach Hause und hat mir viele Fragen gestellt. Sie wollten prüfen, ob ich ein Spion bin.“
Wenig später sitzt er wieder zu Hause. Er hat sich einen Tee gekocht und redet über die Sowjetunion. Er sei dankbar, in der heutigen Zeit zu leben. Schließlich hätte er durch das Internet und die offenen Grenzen viel mehr Freiheit als die Menschen früher. „Und auch der Krieg 1992 zwischen Moldau und Transnistrien ist zum Glück vorbei.“
Damals, nach dem Zerfall der Sowjetunion, beschossen sich transnistrische Milizen und moldawische Soldaten. Transnistrien erkämpfte mit Hilfe russischer Soldaten eine de-facto-Unabhängigkeit, die bis heute existent ist. Doch kein Land der Welt erkennt die Unabhängigkeit an, noch nicht einmal Russland.
Vor allem in Bender, wenige Kilometer westlich von Tiraspol, wütete der Krieg. Noch heute sind viele Einschusslöcher an den Gebäuden zu sehen. Wladimir Petrov kann sich noch gut an den Krieg erinnern.
„Schrecklich ist es gewesen“, erzählt er nachdenklich in seiner Küche, während er ein paar Zwiebeln schneidet. Besonders in seiner Straße sei es schlimm gewesen. „Wir wollten einfach, dass der Krieg so schnell wie möglich aufhört. Daher haben wir für die Soldaten gekocht“, erinnert er sich. Dass er gut kochen kann, steht außer Frage. Er ist Schiffskoch auf einem großen Frachtschiff und reist um die Welt.
Heute, wenige Tage nach Neujahr, lädt er einige seiner Nachbarn zu sich nach Hause ein. An der Wand hängen glitzernde und blinkende Weihnachtsdekorationen, im Fernsehen läuft russische Comedy, in der Wandecke ist eine goldene Ikone befestigt. Großzügig schenkt Wladimir seinen Gästen Cognac in die Gläser. „Original aus Transnistrien“, wie er immer wieder stolz versichert. Es wird angestoßen und gelacht, während draußen der Wind um die Häuser weht.
Zurück nach Tiraspol, es geht über den zugefrorenen Dnister. Angestrichen ist die Brücke über dem Fluss weiß, blau und rot. Auf dem Weg immer wieder russische Soldaten. Insgesamt 1.500 sollen hier stationiert sein, als Friedenstruppe, wie es offiziell heißt. Aufgrund dieses bisher nicht beigelegten Konfliktes ist die Aufnahme Moldaus in die NATO nicht möglich. Mit modernen Kindergärten, einem Zuschuss für die Pension und neuen Stadtbussen mit WLAN scheint sich Russland die Beliebtheit der Transnistrier weiterhin sichern zu wollen.
Samstagabend, Tiraspol. Costja Boodech ruft einen Freund an, um sich in einer Billardhalle zu treffen. Wladimir Nositsch ist 30 Jahre alt, kräftig gebaut und Vermessungstechniker. „Natürlich spielen wir nach russischer Art“, sagt er grinsend, während er ein Dreieck aus weißen Kugeln aufbaut. Bei dieser Billardvariante sind die Kugeln größer und die Löcher kleiner. Eine größere Präzision ist gefragt. Für Wladimir kein Problem, er locht eine nach der anderen in die dafür vorgesehenen Löcher ein. „Billard ist ein Volkssport hier“, erklärt er.
Dafür ist es ziemlich leer in der Halle. Die meisten Tische sind unbenutzt, die Stimmung ruhig, das Licht gedimmt. An den Wänden hängen mächtige Bilder aus sowjetischer Zeit, Lenin, sogar Stalin, Geheimdienstchefs und Generäle beim Billardspielen. Wladmir kennt sie alle. Er würde auch gern nach Russland gehen, wo er schon studiert hat.
Aber als Vermessungstechniker ist er einer von ganz wenigen hier in Transnistrien und hat dadurch eine gut bezahlte und sichere Arbeit. „Fast alle meine Klassenkameraden leben mittlerweile im Ausland. Gerade einmal zwei meiner damaligen Kameraden leben noch in Transnistrien“, erzählt er. Dann bestellt er sich das dritte Bier.
Einer, der fast sein ganzes Leben in Transnistrien wohnt, ist Victor Lozovschi, 56 Jahre alt. Er lebt in Kiskany, einem Dorf auf der anderen Seite der Dnister, etwa 10 Kilometer von Tiraspol entfernt. Hier ist es sehr ruhig. Nur das ferne Hundebellen unterbricht manchmal das Pfeifen des Windes. Menschen sind keine zu sehen bei Temperaturen um -15 °C. Das Leben spielt sich in den kleinen Holzhäusern ab.
Victor Lozovschi lebt allein, seit seine Frau weg ist und sein Sohn im Gefängnis. Die Bilder an der Wand und der mächtige Schrank mit den verstaubten Büchern zeigen, dass es hier mal anders aussah. „Aufräumen ist nicht meine Stärke“, sagt er nachdenklich, während er ein paar alte Teller und Eierschalen zur Seite schiebt, um ein wenig Platz für eine Tasse Tee auf dem Tisch zu machen.
Natürlich war früher auch nicht alles besser, wir hatten manchmal noch nicht einmal Klopapier hier. Aber es gab nicht solche Unterschiede zwischen arm und reich.
Victor Lozovschi ist seit einigen Jahren arbeitslos. Seine Schwester bekommt eine kleine Pension, von der sie ihm einen Teil abgibt. So kann er sich wenigstens Essen kaufen, aber zum Heizen mit Gas reicht es trotzdem nicht. Aus diesem Grund hat er vor zwei Jahren einen Lehmofen gebaut. Doch gerade bei diesen eisigen Temperaturen im Winter gelingt es nicht, den Raum warm zu halten.
Am nächsten Morgen, der Schnee an den Schuhen ist immer noch nicht geschmolzen, kocht Victor Lozovschi wieder einen Tee. Es dampft. „Früher lebten hier einmal 17.000 Menschen, jetzt gerade noch etwa 6.000. Vor allem die Jungen zieht es weg und die Alten sterben langsam“, klagt Victor, während er sich eine Scheibe Brot abschneidet und in den Tee tunkt.
Der Fernseher läuft. Russische Comedysendung, es wird gesungen und gelacht. Draußen fängt es wieder an zu schneien. Viele Häuser sind in keinem guten Zustand. Auch das Gemeindehaus in Kiskany hat schon bessere Zeiten gesehen. Die Gemälde von glücklichen Bauern an der Wand im Innenraum zerfallen langsam, auch der Billardtisch wurde schon längere Zeit nicht mehr benutzt. Und geheizt wird sowieso nicht. Nur die riesige Leninbüste vor dem Gemeindehaus scheint sich seit vielen Jahren nicht verändert zu haben.
Abends lässt der Nebel die Häuser undeutlich erscheinen. Es gibt kaum Straßenlaternen, nur die Hauptstraße des Dorfes ist notdürftig beleuchtet. In der Ferne sind leise Gesänge zu hören, sie stammen vom Kloster des Dorfes. Während der Sowjetunion jahrzehntelang geschlossen, leben jetzt wieder einige Mönche hier.
Heute, am Weihnachtsabend der russisch-orthodoxen Kirche, finden einige Dorfbewohner den Weg hierhin. Im Inneren der Kirche wird auf elektrisches Licht verzichtet, die Besucher zünden Kerzen an, das Licht wird von den goldenen Ikonen reflektiert. Die Mönche singen in tiefen, ruhigen Tönen. Auch Victor Lozovschi, der sonst wenig mit der Kirche zu tun hat, scheint von der Stimmung überwältigt.
Auf dem Rückweg kauft er in einem winzigen Laden noch ein Brot und etwas Käse. Victor Lozovschi kennt die Verkäuferin gut, schließlich waren sie vor vielen Jahren in der Schule zusammen in einer Klasse. Auf jedem Produkt stehen die mit Hand geschriebenen Preise. Er erzählt, dass die Verkäuferin ihre Produkte bei der größten Supermarktkette kauft und dann einfach für ein wenig mehr Geld hier anbietet.
„Sheriff hat einfach alles in der Hand hier“, klagt er. Sheriff, das ist der Konzern, dem in Transnistrien fast alles gehört, mit dem sich Geld machen lässt. Nach der Auflösung der Sowjetunion übernahmen zwei Polizisten eine staatliche Supermarktkette.
Den scherzhaft ausgesuchten Namen Sheriff wollten sie zwischenzeitlich einmal ändern, doch der Konzern ist heute so groß, dass eine Namensänderung juristisch viel zu aufwändig wäre. Denn neben der Supermarktkette gehört dem Imperium ein dichtes Tankstellennetz, der Cognac-Marktführer, die größte Bäckerei, Casinos, Hotels, ein Fußballclub, der einzige private Fernsehsender und das einzige Mobilfunknetz plus Internetanbieter. Dass der Konzern stark mit der Politik verstrickt ist, ist ein offenes Geheimnis.
„Ein sehr großes Problem. Die können die Preise bestimmen, wie sie wollen“, schimpft Tolik Perevoznyuk, 27 Jahre alt. Er lebt in Ribnitza im Norden des Landes in einer Plattenbausiedlung im siebten Stock. Grautöne in allen Abstufungen. Mit ein paar Freunden steht er am Ufer der Dnister. Der Fluss ist zugefroren, ein Eisfischer verlässt gerade seinen Platz. Gefangen hat er nichts. Langsam wird es dunkel, die ersten Lichter in der Plattenbausiedlung gehen an.
Doch Tolik kehrt der Siedlung den Rücken. Er schaut in die andere Richtung, über den Fluss, Richtung Westen. Hier liegt die Republik Moldau. Er schenkt seinen Freunden Cognac in die Plastikbecher.
„So schnell wie möglich möchte ich hier weg, am liebsten nach Spanien. Doch das wird schwer mit dem Visum“, sagt er und nimmt sich eine Olive aus der Dose. Die Menschen würden hier fast alle anders denken als er. „Ich bin absolut kein Putin-Fan“, sagt er und nimmt sich noch eine Olive.
Er weiß, dass er mit dieser Meinung in Transnistrien ziemlich allein dasteht. Immer noch schaut er auf die andere Seite des Flusses. In seinem Rücken sind die Lichter der Wohnzimmer in der Siedlung angegangen, doch viele Fenster bleiben dunkel. Die nächste Runde Cognac wird ausgegeben, dann geht es zurück in die Wohnung.
„Nachtleben gibt es hier so gut wie nicht, darum müssen wir unsere eigene Party schmeißen“, erklärt er. Tolik Perevoznyuk wohnt mit seiner Freundin Tatjana Chaykovskaya zusammen. Sie ist Journalistin und möchte auch schnell weg. Am Kühlschrank in der Küche hängen Andenken aus Italien und Spanien. Die Musik wird aufgedreht, es wird getanzt und getrunken. Auch musiktechnisch orientiert man sich Richtung Westen.
Irgendwann klingelt es. Die Nachbarn bitten um Ruhe. „Noch so ein Grund, warum wir hier schnell weg wollen“, klagt er, geht ins Wohnzimmer und schaltet die Musik aus.