Rezension: Art of Burning Man
Burning Man. Der Kunst des jährlich in der Wüste von Nevada stattfindenden Festivals widmet sich der Bildband „Art of Burning Man“ geradezu ausufernd in Bild und Text. Dieses Buch wird Dich überraschen – egal, ob Du die Veranstaltung unter „große Party“ abgeschrieben hast oder (wie Teile der Redaktion) das Ziel hast, einmal im Leben dabei zu sein.
Warum ist dieser Band so interessant, warum verspreche ich, dass er überraschen wird? Nun, dieser Umstand hat viele Aspekte, die ich im Folgenden so gut wie möglich versuchen möchte, darzustellen. Ich hatte vorher schon immer wieder Texte zum Burning Man gelesen, aber jetzt ist mir klar: Ich hatte keine Ahnung.
Burning Man. Was als recht spontane Aktion der jährlichen Verbrennung einer großen Holzstatue (möglicherweise doch nicht aus Liebeskummer, wie sogar die Wikipedia verlautbart, sondern einfach, weil man’s halt kann) am Strand von San Francisco begann, ist in den letzten 20 Jahren zu einer der gigantischsten Veranstaltung der Welt angewachsen.
Zuerst einmal ist Burning Man gar kein klassisches Festival: Es gibt keine Hauptbühne, keinen Promi-Kult, keine Security-Leute in schwarzen Shirts, keine Werbetafeln von Firmen, die irgendetwas gesponsert haben und mit Ausnahme von Eis und Kaffee gibt es auch nichts zu kaufen. Vor Ort gibt es keinen Komfort, nur die wirklich allerwichtigste Grundversorgung wird sichergestellt. Behausungen, Kleidung, Lebensmittel, ja sogar Wasser muss man selbst mitbringen.
Grundsätzlich ist jeder Mensch willkommen, am Festival teilzunehmen, aber der weite Weg in die Wüste, Hunderte Meilen von der nächsten Stadt entfernt, stellt jeden vor die Frage, wie viel Hingebung man wirklich an den Tag zu legen bereit ist, um diese temporäre Stadt im Nichts zu erreichen und auch zu überleben.
Der Fotograf: NK Guy
Während die Besucherzahl von 20 im Jahr 1986 auf zuletzt über 70.000 anwuchs, hat sich um die Verbrennung des Holzmannes ein vielschichtiges Programm entwickelt, dem der Fotograf NK Guy seit 1998 jährlich beigewohnt hat, um das Treiben und insbesondere die auf dem Festival „ausgestellte“ Kunst zu dokumentieren.
Gleich nach seinem ersten Besuch war er derart angefixt, dass er sich einem Projekt verschrieb, das 16 Jahre andauern sollte und auch nicht von seinem Umzug nach England in Mitleidenschaft gezogen werden konnte. Die letzten zehn Jahre lang machte er die Reise einfach jedes Jahr von der Insel aus, statt nur von Vancouver oder Seattle mit dem Auto hinzufahren.
Für den vorliegenden Band hat er die besten der ungefähr 65.000 Fotos ausgewählt, die er in der Zeit aufgenommen hat. Da er nicht nur Fotograf, sondern auch Autor ist, werden die Bilder von Texten ergänzt, in denen er verschiedene Aspekte des Festivals sowie eigene Erlebnisse, Beobachtungen und Gedanken sehr unterhaltsam, nachdenklich und mitreißend mit den Leser*innen teilt.
Immer wieder gibt es neben zwar mit dem Unterton der Faszination, aber beschreibend gehaltenen Berichten auch die sehr persönliche Sicht von NK Guy zu lesen, die sich sogar bis auf eine philosophische Meta-Ebene begibt: Kann ich mit einer Kamera in der Hand eigentlich die Veranstaltung als solche genießen oder sehe ich alles immer nur als potentielles Fotomotiv?
Herrlich lakonisch beschreibt er seine Erinnerungen an die waghalsigsten fotografischen Unternehmungen: Als er Kameras auf dem Holzmann oder im Inneren der Tempel anbrachte, bevor diese verbrannt wurden. Wie er nachts aus einem über dem Gelände fliegenden Flugzeug fotografierte. Oder wie er fast schon routiniert auf Hebebühnen steht, um Szenen von oben einzufangen.
Besonders hervorheben möchte ich, dass auch immer wieder kritische Anmerkungen von NK Guy selbst, Teilnehmer*innenn oder Kritiker*innen zu lesen sind. Sei es das Verbrennen von ziemlich viel Holz oder zugunsten von Freiheit fehlende Sicherheitsvorkehrungen – es gibt viel, was man kritisch sehen kann und dass diese Bedenken aufgenommen werden, statt das Bild eines rosaroten Festivals zu zeichnen, hat mir gefallen und meinen Eindruck von einer gewissen Vollständigkeit der Darstellung verstärkt.
Aufmachung und Layout
Auf den ersten Blick wirkt „Art of Burning Man“ mit seinen Maßen von 26,8 x 35,3 x 3,2 bereits durchaus groß, aber noch nicht mächtig. Auch beim Gewicht von über 2,5 kg und dem schwarzen Einband mit Prägung habe ich mir noch nichts „Böses“ gedacht. Doch die wahren Ausmaße entfaltet das Machwerk erst beim Blättern und der Lektüre:
Die 280 plus 40 Seiten Übersetzungen bieten so viele Fotos und Texte, dass man sich stundenlang darin verlieren kann. So wie vermutlich auch vor Ort gibt es so viele Details und Perspektiven, dass es schier unmöglich ist, alles beim ersten Mal zu erfassen oder gar zu behalten. Zum erstmaligen Durchlesen und schnellen Betrachten aller Bilder habe ich allein acht(!) Stunden gebraucht.
Wie sonst auch bei Taschen üblich, liegen die Texte in Englisch, Deutsch und Französisch vor, allerdings hat man sich bei diesem Projekt dazu entschieden, die deutschen und französischen Übersetzungen der englischen Texte in ein 40-seitiges Extraheft auszulagern.
Da ich mich an die englischen Texte gehalten habe, kann ich nicht sagen, ob die Lektüre mit großformatigem Buch und dem ebenso großen Übersetzungsheft anstrengend ist – ein großer Tisch zum Ausbreiten kann sicherlich nicht schaden. Was ich aber im Übersetzungsheft vermisse, sind die Bildunterschriften, in denen oft besondere Perlen zu finden sind.
Je nach Bildgegenstand und -stimmung wurden die Fotos zu mehreren mit Bildunterschriften und Begleittexten auf den Seiten arrangiert oder als formatfüllende Doppelseiten oder sogar ausklappbare drei- oder vierseitige Panoramen realisiert. Hier wird deutlich, dass sich jemand zur Wirkung jedes einzelnen ausgewählten Fotos echte Gedanken gemacht hat.
Man kann den Band schlicht fotografisch genießen, die teilweise sehr ausführlichen, mit Anekdoten gespickten Beschreibungen der abgebildeten Kunstwerke geben den Bildern aber noch einen deutlich dokumentarisch-kunsthistorischen Charakter, auf den man sich einlassen kann, aber nicht muss.
In den Bildunterschriften wird auch der Respekt gegenüber und die Verbundenheit mit den Kunstschaffenden deutlich: Jedes Foto ist penibel mit Jahreszahl etikettiert und listet neben dem Werktitel auch den/die Namen der Künstler*innen auf – und gern auch mal die Details von Kunstwerken, die neben dem eigentlich abgebildeten Werk eher zufällig auch noch im Hintergrund des Bildes zu sehen sind.
Inhalt
Die inneren Kapitel sind von einem Vor- und Nachwort umrahmt. Das Vorwort stammt von David Best, der seit 2000 jedes Jahr einen Tempel auf dem Gelände errichtet, der detailverliebt aus Holz gebaut wird und die Teilnehmer*innen dazu einlädt, Nachrichten und Gegenstände, die an verstorbene geliebte Freunde oder Verwandte erinnern, dort zu hinterlassen.
Der Tempel mit allem, was die Teilnehmer*innen eingebracht haben, wird nach einigen Tagen verbrannt, um die Gedanken an die Menschen darin „freizusetzen“. Im Vorwort teilt David Best seine Perspektive auf Kunst, die nur gemacht wird, um Geld einzubringen und in den Regalen von irgendwem herumzuliegen und ihren Wert zu steigern mit uns.
Obwohl gern anderes behauptet wird, ist er von der Vergänglichkeit von Kunst überzeugt: Irgendwann geht ein Werk kaputt, verloren oder wird ausrangiert. Installationen und Happenings im Rahmen des Festivals sind ausdrücklich temporär, nur im Moment vor Ort erlebbar. Sie entgehen der Vergänglichkeitsfalle, indem sie gar nicht den Anspruch haben, ewig zu bestehen, wodurch sich wieder neue künstlerische Möglichkeiten ergeben.
„Art of Burning Man“ ist in Kapitel aufgeteilt, die nach den Phasen des Tages benannt sind. Innerhalb dieser werden nicht nur die für die jeweilige Tageszeit typischen Beschäftigungen auf dem Festival gezeigt und beschrieben, sondern parallel dazu auch die Geschichte von 1986 bis 2014 aufgefächert.
Ging es anfangs nur darum, jährlich einen Holzmann zu verbrennen, sah sich das Festival nach und nach durch die wachsenden Teilnehmerzahlen mit verschiedenen Gesetzen und Regierungsstellen konfrontiert, die über die Jahre dazu geführt haben, dass es nicht nur riesig wurde, sondern auch zu einem komplexen Kompromiss zwischen größtmöglicher Freiheit und gesetzlichen Ansprüchen.
NK Guy gibt spannende Einblicke in die Finanzierung, verschiedene Organisationsstrukturen, logistische Meisterleistungen militärischen Ausmaßes, die Bürokratisierung von Vorgängen und Zulassungen sowie Verteilung der Aufgaben auf Teams, die wiederum Hierarchien und unterschiedliche Ansätze haben, ihre Sachen geregelt zu kriegen.
Da der Band schwerpunktmäßig die Kunst des Festivals behandelt, wird auch ausführlich beschrieben, wie die Auswahl der „offiziellen“ Festivalkunst erfolgt, wie die Künstler*innen finanziell und logistisch unterstützt werden, wie die Werke zueinander sinnvoll positioniert und aufgebaut werden.
Zu jedem Werk gibt es Anekdoten oder (teilweise tragische) Geschichten von Zufällen und Fehlschlägen. Die Installationen interagieren mit den Teilnehmer*innen oder laden sie zumindest dazu ein, auf ihnen herumzuklettern (natürlich ohne Sicherung). Und auf dem weiten Gelände finden sich auch die Kunstwerke von Teilnehmer*innen, die eigenmächtig aufgestellt werden.
Die nächtliche Dunkelheit in der Wüste lädt Künstler*innen dazu ein, ausgefeilte Lichtkunst zu installieren, die nächtliche Farbspektakel in den Himmel malt und von der vorgeschriebenen Sicherheitsbeleuchtung für Kunstwerke und Fahrzeuge über interaktive LED-Beleuchtungen bis zu viel, sehr viel Feuer und Explosionen reicht, die sich als schwarze Wolkenschwaden in den Himmel erheben.
In eindringlichen Worten lernt man auch den Ort kennen, an dem Black Rock City für eine Woche aus dem Nichts entsteht: Eine unwirtliche Salztonebene in der Wüste mit extremen klimatischen Bedingungen, die ein unerbittliches Gemisch aus Hitze, Kälte, Sonne, Regen, peitschenden Stürmen und den allgegenwärtigen Elementen Sand und Salz bilden.
Zurückgeworfen auf das Überleben gegen diese übermächtigen Naturgewalten steht das Miteinander der Menschen im Mittelpunkt, die aus dem Willen und Zwang heraus, Kunst zu erschaffen, die vor der Weite dieser Landschaft wirken und den extremen Wettbedingungen trotzen kann, temporäre und fluktuierende Gesellschaften bilden, die nur gemeinsam diese Ziele erreichen, weil sie in diesen Größendimensionen nicht mehr von einzelnen Menschen bewältigt werden können.
So haben sich Traditionen gebildet, es werden Zeremonien wie die Verbrennung des Holzmannes und der Tempel abgehalten, Fixpunkte, von denen es Ausnahmen und immer wieder variierende Umsetzungen gibt. Es gibt ein jährlich wechselndes Thema und das Festival zieht inzwischen Scharen von Kunstautos an, also Gefährte, die oft gar nichts mehr mit einem Auto zu tun haben – sie sehen irre aufwändig aus, haben verblüffende Spezialfunktionen und können (mit maximal 5 mph) herumfahren.
NK Guy analysiert, aus was Burning Man besteht und kommt wieder zu keinem einfachen Schluss. Es handelt sich um einen über die Jahre organisch gewachsenen Komplex aus verschiedenen dünnen Schichten, die über einer Basis aus DIY-Punk, Technologie-Hackertum, post-apokalyptischem Industrial Rock und New Age liegen.
So lässt sich jedes Jahr die Dynamik eines faszinierenden Mikrokosmos beobachten, in dem sich doch wieder Politik abspielt, wie überall, wo Menschen aufeinander treffen, egal wie offen der Raum ist, in dem dies geschieht. Sogar hier, wo es lediglich zwei Handvoll niedergeschriebene Verhaltensregeln gibt.
Der Anspruch von NK Guy, Burning Man „als Modellversuch freien Ausdrucks lustvoller, kollektiver Kreativität“ zu zeigen, gelingt also vollkommen. Er schließt mit einem Ausblick, der Burning Man als globales kulturelles Phänomen begreift, das schon deshalb nicht mehr auf die Wüste Nevadas begrenzt ist, weil dort schon seit einigen Jahren nicht mehr genug Platz ist.
Passend dazu schließt das Nachwort von Marian Godell, die seit 1997 für das Festival aktiv und für die Koordination der über 70 ganzjährig Angestellten der Burning-Man-Organisation zuständig ist, auch mit Blick auf die 140 Orte weltweit, an denen Ableger und Satelliten der Idee und des Phänomens entstehen.
Eindruck
Dass ich mich schon vor der Existenz von „Art of Burning Man“ für das Festival und nicht-fotografische, eigenwillige Kunst im Allgemeinen interessiert habe, ist bekannt. Dass mich die Bandbreite des ausgebreiteten fotografischen Werks von NK Guy, die Idee von Burning Man und seine bunte, auch gefährliche Offenheit faszinieren, ist wohl auch schon klar geworden.
Was mich aber wirklich überwältigt, ist die Konstanz und Unbeugsamkeit, die bei all dem Wandel in fast 20 Jahren auch trotz persönlicher Ausstiege (oder dem natürlichen Ableben) von Akteur*innen hier sichtbar wird:
Menschen, die es einfach mal cool fanden, eine Holzskulptur am Strand zu verbrennen und das jährlich zu wiederholen, weil auch das cool ist, haben zum einen eine Idee zwei Dekaden lang gegen Widrigkeiten verteidigt und sich wo nötig zum Anderen eben auch angepasst und gigantische, komplexe Organisationsstrukturen geschaffen, um über einfallsreiche Kompromisse am Ende doch wieder – ihre Idee zu leben.
Und dann ist da noch die Kunst selbst, die im Mittelpunkt der Fotos steht: Dort gibt es eine Kultur der Offenheit, die jedem, unabhängig von künstlerischer Ausbildung oder Erfahrung und so weit wie nur möglich entfernt vom bornierten Kunstgaleriebetrieb erlaubt, Kunst zu machen. So irrsinnig idealistisch, dass nicht Wenige dafür unmöglich zu beziffernde Mengen ihrer Ressourcen (Zeit und Geld) aufbringen.
Wer sich für großformatige Bilder von glücklichen, verrückten Menschen oder ihren bunten, verrückten Werken begeistern kann und sich gern in einer Parallelwelt verliert, die einen auf ihrem holprigen Weg zwischen Utopie und Realität immer weiter hineinsaugt, umso mehr man von ihr erfährt – für Euch ist „Art of Burning Man“.
Informationen zum Buch
Titel: Art of Burning Man
Fotograf/Autor: NK Guy
Seiten: 280 + 40
Sprachen: Englisch, Deutsch, Französisch
Erscheinungsdatum: 25. Juli 2015
Verlag: Taschen
Ausgabe: Gebunden
ISBN: 978-3836523394
Größe: 26,8 x 35,3 x 3,2 cm
Gewicht: 2,7 kg
Preis: 39,99 €