Die schwebende Welt
In einem Buchantiquariat in Princeton, New Jersey, entdeckte ich ein Buch mit Gedichten , übersetzt von Kenneth Rexroth und Ikuko Atsumi im Jahr 1977. Diese Gedichte stammten von japanischen Frauen aus dem 7. bis zum 20. Jahrhundert und zeigen all die verschiedenen in diesen Jahrhunderten vorherrschenden Stile – von den klassischen bis zu den zeitgenössischen Schulen.
Ich war sofort von den Gedichten angezogen, als ich sie das erste Mal las – so voller Anspielungen und reich an Bildern, da wusste ich, dass ich ihre fotografischen Äquivalente umsetzen wollte. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass ich auch meine eigenen Versionen der Gedichte erstellen wollte, sodass sie meine Bilder begleiten könnten.
Mit Hilfe der Übersetzer Hitomi Sugiura und Frederick Kotas, die die Originale fanden und mir wortwörtliche Übersetzungen gaben, komponierte ich meine eigenen englischen Versionen der Gedichte. Die Kalligrafien auf jedem Bild, die die Namen der Poetinnen sind, stammen von Richard Man.
Der Titel „Floating World“ bezieht sich auf die Vorstellung einer Welt als vergänglich, unbeständig, von flüchtiger Schönheit und getrennt von den Verantwortlichkeiten der einfachen, alltäglichen Welt. Für die Poetinnen dieses Bandes dreht sich die Welt um Liebe – sich nach der Liebe und dem Geliebten sehnen, verlorene Liebe betrauern, über ihre Mysterien nachsinnen.
Die Schönheit der natürlichen Welt – ihre Blumen, Landschaften, den Mond und die sich immer wieder verändernden Jahreszeiten – dient ihnen als Metapher. Während ich diese Gedichte las, begann ich sofort, mir die Bilder vorzustellen. Da ich kein Fachwissen zu Japan im Allgemeinen oder japanischer Poesie habe, reagierte ich auf die Zeilen auf einer ausschließlich emotionalen Ebene und einer visuellen, da ich Fotografin bin.
Aber ich lernte ein wenig über die Tradition: Die Japaner begannen das Dichten unter dem Einfluss der Chinesen, deren Gedichte im 6. Jahrhundert ihren Weg nach Japan fanden. Die Japaner integrierten sie langsam in ihre eigene Kultur, anfangs dichteten sie auf Chinesisch und später auf Japanisch.
Da nur die Angehörigen der oberen sozialen Schichten Chinesisch beherrschten, war es sehr wichtig, dass am Ende des 8. Jahrhundert Kanji und Hiragana (die eine Art „Frauenschrift“ waren) erfunden wurden. Diese Alphabete waren deutlich weniger komplex als die chinesischen Zeichen und öffneten so die japanische Literatur auch für Frauen, die normalerweise weniger gebildet waren als Männer.
Die Gedichte sind außerordentlich erotisch, aber auf eine abgeschwächte, subtile Art. (Ja, in „Dark of the Moon“ gibt es die Beschreibung „My breasts swell and throb. My heart seethes“, aber das ist eine Ausnahme.) In meinen Bildern wollte ich sowohl die Subtilität als auch die darunter liegende Erotik einfangen.
Ich wollte auch, dass die Bilder als Serie zusammenhängend funktionieren würden, obwohl die Elemente in jedem Bild andere wären. Also gibt es Dinge, die in einigen poetischen sowie meinen fotografischen Bildern immer wieder auftauchen, zum Beispiel sind der Mond und Kirschblüten ständig wiederkehrende Metaphern.
Poesie spielte von Anfang an eine wichtige Rolle im höfischen Leben Japans, ein wenig wie die mittelalterlichen Regeln für höfische Liebe in Europa. Aber während in Europa die erotische Liebe unter dem Vorwand der Spiritualität verborgen wurde, war der Deckmantel in Japan der Natursymbolismus.
In beiden Fällen gibt es viele Codes, die es zu verstehen und auszuarbeiten gilt. Das ist genau das, womit ich so viel Spaß hatte, als ich mir die Gedichte als Fotografien vorstellte. Sicherlich beanspruche ich nicht das kleinste Bisschen Authentizität für meine fotografischen Interpretationen – ich nenne sie „Anspielungen“ und das ist es, was sie sind.
Eine andere charakteristische Eigenart japanischer Gedichte ist, dass erwartet wird, dass sie ein Schlüsselwort enthalten, das sie mit der Jahreszeit identifiziert, in der sie geschrieben wurden. Die jahreszeitliche Referenz kann eine Blume, ein Baum, ein Tier oder etwas anderes sein, das speziell mit einer bestimmten Zeit des Jahres assoziiert wird.
Zum Beispiel würde eine Kastanie bedeuten, dass die Jahreszeit der Herbst ist, ein Kranich steht nicht nur für Fruchtbarkeit und Glück, sondern auch für den Winter. Ein Pflaumenbaum bedeutet Frühling und eine Lilie weist auf den Sommer hin. Wie perfekt ist das denn für Fotos?
Die meisten Gedichte, die Rexroth gesammelt hatte, tendierten im Japanischen dazu, alternierend oder unterschiedlich lang fünf und sieben Silben zu umfassen. Aber es ist wirklich nicht möglich, japanische Haiku- oder Tanka-Gedichte ins Englische zu übersetzen und die exakte Silbenanzahl beizubehalten, also versuchte ich es erst gar nicht.
Am Beispiel von Yosano Akiko, der produktivsten der Poetinnen, möchte ich erläutern, wie die Gedichte und Bilder entstanden sind: Sie schrieb mehr als 17.000 Tanka-Gedichte, 500 Freivers-Gedichte, veröffentlichte 75 Bücher – und gebar elf Kinder. Die Geschichte hinter dem Bild „Scattering Carp“ ist eine besonders ergreifende.
Das Gedicht veranschaulicht eines der Dinge, die sie so scher zu übersetzen machen – und gleichzeitig so reich und faszinierend. Die japanische Sprache ist voller Homonyme, also Worte, die identisch geschrieben und ausgesprochen werden, aber je nach Kontext eine andere Bedeutung haben. Das Gedicht lautet:
Last autumn the three of us tossed seeds
to the scattering carp—where have they gone?
Circling the pond in the cold morning wind
he and I now walk alone, hand in chilling hand.
Auf der ausschließlich wörtlichen Ebene ergibt das Gedicht Sinn, es ist schmerzlich, wehmütig. Aber wenn man versteht, dass das Kanji-Zeichen für „Koi“ (bzw. „Karpfen“) auch „Liebe“ bedeutet, wird das Gedicht um einiges reicher und komplexer. „Scattering carp“ hat dann also auch die Bedeutung von „scattering love“ – wo sind die Fische hin? Wo ist die Liebe hin?
Diese Art von Entdeckungen der mir von den Übersetzern gegebenen wörtlichen Bedeutungen gaben mir viele Richtungen vor – manchmal geradezu eine Blaupause für meine Fotografien.
Im Falle dieses Gedichtes wurde der tatsächliche Teich identifiziert und ein Kommentator vermutete, dass Akiko und ihr Ehemann Hiroshi (Tekkan) die zwei Personen sind, die sich an den Händen halten. Und dass sie beide an Tomiko denken, eine junge Frau, die mit ihnen in einer Dreiecksbeziehung lebte und die sie beide innig liebten.
Die drei schienen den Teich im Jahr, bevor das Gedicht geschrieben wurde, gemeinsam besucht zu haben. Tomiko starb jung an Tuberkulose. Sie ist auch die „weiße Lilie“ („white lily“), die regelmäßig in Akikos Gedichten Erwähnung findet:
There was a time
when the lily dazzling white
reigned, queen of the summer fields.
Sie regierte als Königin, weil die Lilie als Pflanze selbst königlich ist, aber als Metapher für Tomiko regierte sie als Königin, weil beide sie liebten. Ich zeige noch ein paar weitere Beispiele:
In „Butterflies, tell me“ ist Akiko ohne Familie und weit von Zuhause weg einsam. Sie ist älter und träumt davon, jung, schön und verliebt zu sein. Der Schmetterling ist ein Symbol für junge Weiblichkeit, auch die Flüchtigkeit der Schönheit oder Verwandlung. Die Glyzinie („Wisteria“) ist ein Symbol für die Liebe – und fallende Glyzinie für verlorene Liebe.
Purple butterflies
flutter through my dreams.
Butterflies, tell me,
can you still see in my village
the wisteria blossoms falling?
Kirschblüten erscheinen in vielen der Gedichte, sie werden auch für ihre flüchtige, aber reine Schönheit geschätzt (man denke nur an die kurzen zwei Wochen der Kirschblüten-Saison) und sind daher das perfekte Symbol für das, was die Poetin als die Wankelmütigkeit der Männer betrachtet.
In the turning season,
like changing to summer clothes
dyed the color of cherry blossoms,
men change their hearts.
In „Send a message“ sind die wilden Gänse, die auf ihren Zügen weite Strecken zurücklegen, aber ihr ganzes Leben lang zusammen bleiben, das passende Symbol für die Poetin, die von ihrem Freund getrennt ist, weil sie in ein weit entferntes Dorf gezogen ist.
From the south send a message
on the wings of wild geese,
written again and again
in their flight above the clouds.
Die Pfingstrose („Peony“), König der Blumen, ist ein Symbol für Wohlstand und Erfolg. Der Bauch der goldenen Biene ist geschwollen mit Pollen. Und wir wissen, dass es Frühling ist, weil in dieser Zeit die Pfingstrosen blühen. Das ist eine glückliche, reiche Biene.
Hidden all day
in the peonies,
the golden bee’s
belly is swollen.
In „In the autumn“ weisen die Chrysanthemen darauf hin, dass es sich bei der Jahreszeit um den Herbst handelt. Die florale Welt stirbt im Herbst, in diesem Gedicht gibt es also auch einen Anflug von Verzweiflung.
Something alien in me
wants to rise up and break free
in the autumn, when words sound
like the echo of a stone ax.
In „How to forget him“ symbolisiert der Bambus Ausdauer und Langlebigkeit – in diesem Fall von Liebe. Hast Du schon einmal versucht, Bambus wieder loszuwerden? Liebe kann vergänglich sein wie Kirschblüten oder gar unauslöschlich – eben wie Bambus.
From nearby Mount Arima
over Ina’s bamboo-covered plains,
the trembling wind rustles the leaves.
The bliss of his letters—how can I forget him?
Dieser Artikel wurde für Euch von Aileen Wessely aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.