Ein Junge mit Pistole schaut in die Kamera.
02. Oktober 2015 Lesezeit: ~9 Minuten

Russisches Leben in der Provinz

Die Idee zum Projekt „From White to Black Sea“ bekam Oleg Klimov um 2012/2013. Im Frühling 2013, der in St. Petersburg genauso deprimierend ist wie Herbst und Winter (und Sommer), war ich zuhause bei meiner schwangeren Frau, als Oleg mich anrief und fragte, ob ich mitmachen würde.

Die Grundidee war, das Leben der Menschen in der russischen Provinz entlang der Schifffahrtswege vom Norden Russlands bis zum Süden zu dokumentieren. Dazu muss man wissen, dass in Russland alles, was nicht Moskau heißt, Provinz ist. Selbst St. Petersburg.

Eigentlich wollten wir unsere Unternehmung Ende Juli beginnen, doch Ende April hatten wir nicht einmal ein Boot und es fehlten weitere wichtige Utensilien. Das Projekt war schon von Beginn an die reinste Eskapade.

Einige Menschen mit feierlicher Kleidung eng aneindandergedrückt.

Neben den Crew-Fotografen (wir nannten uns „Sailographers“), Oleg Klimov, Artem Lezhepekov und mir, hatten wir sieben Gastfotografen dabei, die an unterschiedlichsten Stellen der Route dazustießen. Unser größtes Problem war, ein Boot in Schweden zu kaufen und nach St. Petersburg zu bringen. Warum Schweden? Weil es dort die günstigsten Yachten in gutem Zustand zu erstehen gab.

Irgendwie war es witzig, denn Oleg musste die Yacht auf einer Fähre befördern. Die Crew der Fähre war komplett überrascht, weil bis dahin noch niemand eine Yacht auf einer Fähre segeln gesehen hatte. Die Yacht kam zwei Wochen vor dem geplanten Start in St. Petersburg an.

Blick auf einen Jungen im Vordergrund, eine Frau und noch ein Junge stehen im Hintergrund.

Wir brauchten etwas Zeit, um das Boot zu renovieren und einen ordentlichen Namen für unsere Schönheit zu finden. Nach längerer Diskussion entschieden wir uns, sie „FREELANCER“ zu nennen, da wir alle Freiberufler waren. Nach weiteren Vorbereitungen und der Geburt meiner Tochter (nein, ich nannte sie nicht FREELANCER), starteten wir frühmorgens im Juli unsere Expedition.

Es war 2013, vor den Ereignissen auf der Krim und in der Ukraine. Niemand wusste, was in ein paar Monaten passierten würde und so ließen wir uns einfach vom Wind treiben: Wir segelten, recherchierten und dokumentierten das alltägliche Leben der bäuerlichen Menschen in Dörfern und kleinen Städten.

Ein Mann hälft einen Fisch in die Kamera.

Ich war damals davon überzeugt, dass es wichtig ist, zu zeigen, was in Russland tatsächlich vor sich geht. Wie die Bevölkerung lebt und wie dieses Leben tatsächlich aussieht.

Dafür gab es einen einfach Grund: Russische Medien, meist von der Regierung kontrolliert, zeigen nicht das Leben der durchschnittlichen Menschen. Alles, was bisher gezeigt wurde, drehte sich um dubiose Errungenschaften der Regierung und große Kooperationen, ebenfalls kontrolliert von der Regierung.

Und diejenigen, die in großen Städten wohnen (Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg, Novosibirsk, Wladiwostok – suchen sie sich eine aus), wissen immer noch nicht, wie das „echte“ Land aussieht. Die meisten Menschen verlassen ihre Städte nicht und wenn, dann suchen sie sich einen Touristen-Ort in anderen Ländern als Ziel aus.

Ein Mann zieht mit seinem Traktor ein Boot.

Auf dem Land zu fotografieren, kann jedoch lohnenswert sein. Denn selbst, wenn eine Person glaubt, dass Du ein Spion mit Kamera bist (insbesondere nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine versuchen alle, einen Spion zu fassen), kann daraus ein gutes Gespräch entstehen. Denn viele Menschen sind von der Tatsache überrascht, dass sich überhaupt jemand für ihr Leben interessiert.

Meistens bekamen wir zu hören: „Na sowas! Was soll denn am Leben in diesem vergessenen Dorf so spannend sein?“ Für diese Menschen ist es unfassbar, dass Journalisten und Dokumentarfotografen zu ihnen kommen und über „rein gar nichts“ berichten wollen.

Doch wenn dieser formale Teil erledigt ist, dann öffnen diese Menschen Stück für Stück ihre Seele. Man spricht mit ihnen, macht ein paar Aufnahmen und nach dreißig Minuten bist Du ein enger Freund.

Fischer trinken Vodka und haben Spaß dabei.

Obwohl Dorfbewohner – was Spione betrifft – ziemlich paranoid sind, verhalten sie sich im Vergleich zu Stadtmenschen wesentlich offener. Wenn wir beispielsweise mit dem Auto oder Bus weiterfahren mussten (mit dem Boot über Land zu segeln hat leider nicht geklappt), boten uns Einheimische umsonst eine Unterkunft an.

Und das Besondere am Leben auf dem Land: Obwohl viele schlimme Dinge um diese Menschen herum passieren, versuchen sie, gastfreundlich zu bleiben. Und selbst, wenn nicht viel im Kühlschrank ist, wird der Tisch stets für Gäste gedeckt.

Jedoch wurde es im weiteren Verlauf der Expedition (Sommer 2014, nach den Ereignissen auf der Krim) moralisch gesehen immer schwieriger, der Realität ins Auge zu sehen. Manche Kollegen und Freunde nennen mich „cherushnik“, was so viel bedeutet wie: Eine Person, die nur die schlechte Seite des Lebens zeigt – wobei ich nicht glaube, dass ich so bin.

Im Vordergrund ein bellender Hund, im Hintergrund eine Frau, die in die Kamera schaut.

Ich dokumentiere das, was ich sehe und die Realität in diesen Dörfern ist kein Leben auf dem Ponyhof. Denn: Nachdem die hysterische Propaganda über die „russische Welt“ und „ukrainische Faschisten“ langsam aber sicher in den Köpfen ankam, veränderte sich alles.

Viele Einheimische, selbst die, die in einem heruntergekommenen Haus mit einer Toilette im Garten lebten, glaubten, dass ihr Leben eigentlich ganz in Ordnung war. Ihre Köpfe waren voll mit dem „großen Imperium“, der „russischen Welt“, dem „besten Land in auf der ganzen Welt“, „ukrainischen Faschisten“ und dem „Kampf gegen homosexuelle Europäer und Amerikaner, die die Mutter Russland erobern wollen“ usw…

Doch faktisch waren sie die vergessenen Menschen des Staates, die gerade gut genug für Fernseh-Propaganda waren. Äußerlich offene Menschen wurden innerlich von Hass aufgefressen und das veränderte sie. Sie verloren ihr kritisches Denken; das Fernsehen säte Kriegsdurst und grundlosen Stolz auf ihr Land.

Eine Faust vor der Kamera, eine Frau, die Gitarre spielt und ein Mann mit nacktem Oberkörper.

Diese Menschen heißen Dich trotzdem willkommen (wenn Du kein amerikanischer Spion bist, der sich in der Scheune herumtreibt). Jedoch war es nicht leicht, zuzuhören, was die meisten Menschen über Politik, die Ukraine, die wirtschaftliche Situation und über ihr Leben sagten.

Trotzdem mussten wir das, was passierte, dokumentieren. Das rohe Leben aufzunehmen, wurde für mich zum Hauptanreiz. Dabei ging es mir nicht um „Anti-Propaganda“, sondern eher darum, auszurufen: „Hey, schau Dir an, was passiert! Glaube Deinen AUGEN, nicht dem Fernsehen oder Mr. Putin!“ Fotografisch gesehen ist dies ein kritischer Blick auf die Umstände.

Nach dem ersten Teil unserer Expedition (2013), entschieden wir, eine Ausstellung mit dem Namen „From White to Black Sea. North.“ in einer der größten Galerien Moskaus zu veranstalten. Wir wollten zeigen, was wir hatten und ein Bewusstsein für das reale Leben in der Provinz schaffen.

Eine Frau im Vordergrund mit Blick auf ein Schiff.

Die Reaktionen fielen sehr unterschiedlich aus. Während der Ausstellungseröffnung lief alles gut, doch im Netz wurden wir beschuldigt, mit Absicht nur die schlechtesten Seiten Russlands vorzuführen. Als ob wir Provokateure, „bezahlt vom US-Außenministerium“ wären oder „reiche Jungs, die eine gute Zeit auf der Yacht“ hatten.

Ich wünschte mir, von jemandem bezahlt zu sein, doch das wurden wir nicht. Wir waren einfach Fotojournalisten, die ein Projekt ohne Bezahlung machten. Wir verbrauchten unser Erspartes und die Hilfe unserer Freunde.

Nachdem der zweite Teil unserer Expedition im Oktober 2014 abgeschlossen war, mussten wir die FREELANCER verkaufen, um unsere Schulden zu begleichen. Und als wir wieder zuhause waren, mussten wir das Material abarbeiten, das wir über zwei Jahre angesammelt hatten.

Männer machen Picknick an einem Fluß.

User Plan war, eine große Ausstellung mit anschließender Buchpublikation zu machen, doch die (politische, soziale und ökonomische) Situation änderte sich drastisch. Und so sind wir heute immer noch in Verhandlungen mit Mussen und Verlagen. Doch das alles zieht sich.

Und nun müssen wir akzeptieren, dass durch die aktuelle Situation niemand in Russland an Dokumentationen interessiert ist, solange es kein Projekt über Gazprom oder russische Eisenbahnen ist.

Wenn heute Personen aus den großen Medien, Museen oder Galerien nicht den Kurs der Regierung unterstützen, dann trauen sie sich nicht, das auch offen zu sagen. Oder, wie es damals in der UdSSR bezeichnet wurde: Sie haben Angst, gegen die „Politik der Partei“ zu sein.

Ein Mädchen mit Fächer schaut in die Kamera.

Es gibt zwar immer noch ein paar unabhängige Medien, doch die informieren nicht den Großteil der Gesellschaft. Ich hoffe auf Veränderung.

Während wir noch immer an den Resultaten unseres Projektes „From Black To White Sea“ arbeiten, fotografiere ich eigene Projekte und Auftragsarbeiten in St. Petersburg und Moskau. Und verwöhne meine kleine Tochter, die mich so sehr vermisst hat, während ich auf der FREELANCER war.

Dieser Artikel wurde für Euch von Martin Gommel aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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