Väterland
Die ausgebildete Fotografin Gesche Jäger beschäftigte sich in ihrem Projekt „Väterland“ mit Geschlechterrollen – und wie der Titel schon verrät, insbesondere mit der Rolle von Vätern. Zweieinhalb Jahre lang begleitete sie Haushalte, in denen homosexuelle, geistig beeinträchtigte oder ehemals kinderhassende Männer versuchen, dem Vatersein gerecht zu werden.
In der Edition Chrimon erschien 2013 das zugehörige Buch* und weil mich ihre Serie beeindruckt hat, habe ich mich mit Gesche darüber unterhalten.
Hallo Gesche! Was war der ausschlaggebende Grund, ein Foto-Projekt über Väter zu machen?
Ich suche mir gern Themen aus, die mich persönlich interessieren und gleichzeitig von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung sind.
Ich selbst bin Scheidungskind. Bei meiner Mutter aufgewachsen, begrenzte sich der Kontakt zu meinem Vater auf anfangs regelmäßige, dann gelegentliche Wochenendbesuche. Eine aktive, interessierte Vaterschaft gab es nicht, aus der Erziehung hielt sich mein Vater im Wesentlichen raus. Diese Vaterlosigkeit ist sicherlich nicht spurlos an mir vorübergegangen.
In den 1980er Jahren war es fast selbstverständlich, dass nach einer Scheidung der Mutter das Sorgerecht zufiel. Doch die Geschlechterrollen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, was man anhand der Väter sehr gut bildlich machen kann.
Väter sind engagierter, emotionaler und interessierter. Sie identifizieren sich nicht mehr ausschließlich über ihren Beruf, sondern möchten am Familiengeschehen teilhaben.
Ich möchte zeigen, dass Väter hingegen aller Gegenmeinungen für Kinder genau so wichtig sind wie Mütter. Für Kinder ist es existenziell, eine weitere erwachsene Bezugsperson als Korrektiv zur primären Bezugsperson zu haben.
Gleichzeitig möchte ich den heutigen Vätern Mut machen, das eigene Vatersein dafür zu nutzen, sich selbst von der Vaterlosigkeit zu heilen. Denn die meisten von ihnen hatten eine sehr periphere oder keine Beziehung zum eigenen Vater.
Sie sind also Prototypen auf ihrem Gebiet, müssen ohne geeignete Vorbilder ihren eigenen Weg finden. Mit dem Buch „Väterland“ wollte ich ein Zeitdokument schaffen und mich nicht zuletzt auf ganz persönlicher Ebene mit dem Thema auseinandersetzen.
Das klingt sehr reflektiert und bodenständig, Gesche. Wie bist Du von Deiner Grundidee zu den ersten konkreten Fotos gekommen?
Zunächst einmal habe ich überlegt, was für Protagonisten ich finden muss. Ich habe versucht, einen Querschnitt durch die Gesellschaft zu ziehen und recherchiert, welche Familienstrukturen Deutschland repräsentieren. Den Samenspender habe ich gezielt über eine Samenbank gefunden, den Mehrlingsvater über ein Forum, den geistig behinderten Vater über eine Betreuungseinrichtung.
Anderen Protagonisten begegnete ich aber ganz zufällig. Den späten Vater und seine Tochter beispielsweise lernte ich im Zug kennen. Ich saß mit ihnen in einem Abteil, beobachtete sie ein wenig und stellte schnell fest, dass der ältere Herr nicht der Großvater des Mädchens sein kann. Dann sprach ich die beiden an.
Mit jeder Familie verbrachte ich dann mehrere Tagen und versuchte so, tiefere Einblicke in das Familienleben zu erhalten. Zeit ist bei einem Projekt absolut notwendig, um Vertrauen aufzubauen und letztendlich gute Motive zu erhalten.
Absolut. Inwiefern hat das Projekt Dich und Deine fotografische Arbeit verändert?
Für mich war es überwältigend, dass ich Familien gefunden habe, die mich so dicht heranließen. Ich durfte Einblicke in den Alltag zunächst fremder Menschen haben, die einem normalerweise verwehrt bleiben. Das war eine tolle Möglichkeit, mich mit nicht vertrauten Lebensstilen auseinanderzusetzen, über meinen eigenen Tellerrand zu schauen und fotografisch in die Tiefe zu gehen.
So eine intensive Arbeit verändert vielleicht nicht mich als Person, aber gibt mir die Möglichkeit, meine Sichtweisen und Vorurteile neu zu überdenken und die eigenen desillusionierenden Erfahrungen dabei zur Seite zu legen. Ich habe das Projekt mit dem Gefühl beenden können, dass wir in Sachen geschlechtlicher Gleichstellung auf einem guten Weg sind, wenn er auch steinig und noch nicht abgeschlossen sein mag.
Fotografisch hatte ich mich vorher noch nie so lange und intensiv mit Protagonisten befasst. Das hat meine Arbeitsweise verlangsamt und den selektiven Blick geschult. Ich wünschte, man könnte immer so besonnen arbeiten!
Hattest Du ein inneres „Bild“ (Foto) vor Augen, nach dem Du bei den Familien gesucht hast?
Ich glaube, ohne eine bildliche Vorstellung gehe ich an fast kein freies Thema heran. So ein Bild entsteht einfach, auch ohne fotografisches Konzept. Manchmal passen Vorstellung und tatsächliche Situation aber nicht zusammen und man muss spontan umdenken.
Mir war für diese Arbeit klar, dass ich unbedingt analog auf Mittelformat (Contax 645) und überwiegend mit einer Festbrennweite (80 mm) fotografieren möchte. Durch ein Stipendium bekam ich die Chance, noch einmal mit viel Zeit, Ruhe und auch etwas Budget für Filmmaterial und Laborarbeiten zu fotografieren.
Dadurch hatte ich einerseits ruhige, einführende Portraits der Väter und Familien in natürlicher Umgebung geplant, andererseits eine begleitende Reportage, die deutlich spontaner, aktiver und auf gewissen Weise auch tiefgründiger sein durfte.
Insgeheim habe ich natürlich gehofft, bei spannenden Situationen dabei sein zu dürfen, die einfach passieren. Der „entscheidende Augenblick“ ist mir als Gestaltungsmittel sehr, sehr wichtig. Er ist ein Schatz, den zu finden man nicht planen kann.
Wie hat es sich angefühlt, in völlig fremden Wohnungen mit völlig fremden Menschen für längere Zeit zu sein?
Das war ganz unterschiedlich. Bei manchen Familien hat es sich so ergeben, dass ich ein Bett beziehen durfte, also mittendrin war. Das war für die Qualität der Fotos mit Sicherheit gut.
Je dichter und zeitlich nahtloser man bei den Protagonisten ist, desto mehr Vertrauen kann man aufbauen und desto intimer werden Situationen und auch Fotos. Ich und meine Kamera wurden mehr und mehr Familienmitglieder. Diese Erfahrung war sehr intensiv und interessant, da es keine Haustür gab, die vor mir verschlossen wurde. Keine Vorhänge, die zugezogen wurden.
Die Nähe wurde irgendwann aber auch erschöpfend. Ein „Familienmitglied“ hat zwar Privilegien, muss aber auch einiges aushalten. So gab es Situationen, in denen kleine Kinder morgens um 6 Uhr auf meinem Bett hüpfen wollten, ich mich zum Essen bei den Eltern abmelden musste und anrufen sollte, wenn ich gut zu Hause angekommen war.
Es wurde häufig vergessen, dass das Fotografieren mein Beruf ist und ich irgendwann auch mal „Feierabend“ brauche. Deswegen habe ich irgendwann entschieden, nicht mehr bei allen Familien zu übernachten und mir Unterkünfte in der Nähe gesucht.
Lass uns ein wenig ins Handwerkliche einsteigen. Mit welchen Werkzeugen hast Du die Serie vor Ort umgesetzt?
Wie schon kurz angedeutet, habe ich die komplette Arbeit mit geringstem technischen Aufwand gemacht. Das war mir wichtig, um so unauffällig und flexibel wie möglich zu sein.
Ich hatte eine analoge Mittelformatkamera, die Contax 645, und nur zwei Festbrennweiten im Einsatz: Ein 80 mm und ein 45 mm von Zeiss. Ich habe fast alle Fotos mit dem 80er gemacht, die meisten mit Offenblende. Zudem habe ich ausschließlich mit vorhandenem Licht und, wenn nötig, mit Stativ gearbeitet.
Da es auf dem Markt leider keine große Rollfilmauswahl mehr gibt, blieb mir nur der Kodak Portra 400, mit dem ich aber durchaus zufrieden war.
400 bedeutet aber auch, dass Du in bestimmten Momenten, wenn es weniger Licht gab, keine Fotos machen konntest. Wie hast Du diese „Einschränkungen“ des Analogen empfunden?
Eigentlich als ganz angenehm. Wenn es dunkel wurde, hatte ich Feierabend.
Nein, Scherz beiseite, natürlich wurde ich von der Lichtempfindlichkeit relativ häufig in meine Schranken verwiesen. In vielen Situationen half mir das Stativ, in manchen Momenten kam ich damit aber auch nicht weiter.
Ich habe mich einfach darauf eingelassen, dass nicht alles möglich ist. Der analogen Fotografie verzeiht man so etwas. Von Digitalkameras erwartet man viel mehr.
Das stimmt. Warum hast Du Dich gegen die Digitalfotografie und für das analoge Medium entschieden?
Ich kann verstehen, wenn sich das zunächst einmal irrwitzig anhört. Analoge Fotografie ist teuer und langsam. Zudem kommt man mit 400 ASA schnell an seine Grenzen, man muss ständig Filme wechseln, Fahrten zum Labor auf sich nehmen, scannen und und und.
Digitale Fotografie ist mittlerweile technisch „besser“, günstiger und man hat nicht so viele Probleme bei schlechten Lichtverhältnissen.
Aber:
Die analoge Fotografie ist sinnlich, ursprünglich und charakterfest. Wenn ich entwickelte Filme aus dem Labor abhole, freue ich mich jedes mal wie ein Kind auf diese Wundertüte, deren Inhalt mir nicht mehr so präsent ist.
Wenn ich fotografiere, knipse ich nicht nur, sondern überlege mir genau, was ich da mache, denn jedes einzelne Negativ kostet Geld. Ich fotografiere viel bewusster. Ich schaue viel genauer. Ich lasse mir Zeit. Ich mache viel weniger. Und ich habe mehr Anspruch an mich und mein Können.
Das alles zusammen ergibt eine Wertigkeit, die in der digitalen Fotografie nur mit sehr viel Disziplin erreicht werden kann. Meine Contax 645 begleitet mich jetzt seit 15 Jahren. Ich habe sie liebgewonnen. Sie ist eine Persönlichkeit.
Und sie war noch nie in der Reparatur. Das könnte ich über meine Canon 5D Mark II nicht so sagen. Sie ist nur eine Lebensabschnittgefährtin.
Blick in die Zukunft: Wird das Thema Familie weiter in Deinen Arbeiten vorkommen?
Mit Sicherheit. Ich fand es schon immer spannend, Einblick in andere Lebensformen zu haben. Jetzt habe ich selbst eine kleine Familie und umso mehr interessiert es mich, was andere Menschen anders machen, was es neben unserem noch für Modelle gibt.
Besonders die Aufteilung der Geschlechterrollen zieht mich dabei in den Bann. Sofern es denn verschiedene Geschlechter gibt.
Ich bin jedenfalls schon sehr gespannt. Danke für Deine Zeit!
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