Sieben Jahre Luxus
„Jeder Fotograf hat sieben Jahre“, sagte eine bekannte Fotografin. Ich wollte fragen, was sie mit den restlichen Jahren ihres Lebens gemacht hat, es hätte aber nach einer provokanten Teenagerfrage geklungen. Ich war schon neunundzwanzig, hatte zwei Kinder und in dem Alter darf man sich nicht mehr weigern, erwachsen zu denken.
Ich dachte also erwachsen und ahnte, was sie geantwortet hätte. Sie hätte mich streng angesehen, von oben herab, weil sie nicht nur berühmt, sondern auch groß war: „Danach habe ich angefangen zu arbeiten.“
Jahre später wurde mir klar, dass meine sieben Jahre begonnen hatten, als ich das Foto von der Frau mit der Wurzel gemacht hatte. Als erstes Bild einer Reihe, deren Zusammenhang sich mir erst viel später erschließen sollte, war es wie ein Symbol für den Weg, der vor mir lag auf der Suche nach meinem Ort.
Das Bild war im Garten meines Lehrers, des Fotografen Arno Fischer entstanden. An seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag. Das war der Ausgangspunkt. „Jetzt musst du dein Thema finden“, sagte Arno.
Dafür fehlte mir aber die Disziplin. Es fühlte sich einfach so gut an, etwas Schönes geschaffen zu haben und sollte unbedingt so weitergehen. Ich fotografierte alles, was ich behalten wollte.
Die vorbeirasende Welt zum Beispiel, aus den Fenstern der Züge, in denen wir schwarzfuhren zu Freunden. Von einem Gehöft zum nächsten, mit Zeit und ohne Geld. Wir blieben mit den Kindern an den Orten, die ihrem Horizont entsprachen und bis zum Waldrand kleine Paradiese bildeten.
Eine Wiese, ein Stück Wasser, ohne großen Anspruch und nie weit weg. Ich habe ihn gehütet, den Schatz: Familie. Dass die Kinder dabei zu meinem Thema wurden, erkannte ich langsam.
Reagierend auf die Momente, in denen sich aus den Kindern mit der Umgebung ein Tanz bildete, sah ich sie aufwachsen im Reflexspiegel meiner Kamera.
Das Wurzelfoto hatte sich in meinen Augapfel gebrannt und manchmal, wenn ich durch den Sucher sah, spürte ich, wie sich jedes Motiv ins Muster dieses Bildes einzupassen versuchte. Es hatte mein Sichtfeld eingeschränkt. Es war wie ein blinder Fleck in meinem Auge geworden.
Durch meinen Sucher klappte das Zeitfenster von Bild zu Bild langsam zu. So, wie ich die beiden Kindheiten zu Ende gehen sah, von denen ich mit der Kamera nur Sekundenbruchteile festhalten konnte.
Das wird bald vorbei sein, dachte ich und wollte nicht wissen, ob ich dieses luxuriöse Geschenk bezahlen muss, irgendwann. Ich wollte danach den schweren Weg nicht gehen. Ich wollte nicht anfangen zu arbeiten.
Meine Künstlerfreunde sagen: Kunst ist auch Arbeit. Aber es kommt mir nicht so vor. Es ist nicht wie eine Schicht im Krankenhaus. Es ist unendlich leicht, wie schlafen, Sex und essen.
Mit den Jahren verblasste das eingebrannte Bild. „Wenn de keen Bild siehst, brauchste och nich durch n Sucher kieken!“, hatte Arno Fischer gesagt. Ich sah kein Bild mehr. Und die Kinder bewegten sich kaum noch verwundert durch die Welt, in die wir sie gesetzt haben. Sie hatten eine Orientierung bekommen.
Darüber muss ich froh sein und allein bleiben mit meiner Sehnsucht nach der verwunderten Orientierungslosigkeit. Die Befragung der Landschaft hatte ich in den Kinderaugen gefunden und damit nach meiner eigenen Kindheit gesucht.
Ich könnte in anderen Kindern weitersuchen, vielleicht wäre das die Arbeit, in der ich anwende, was ich gelernt habe und mich nicht mehr allein auf das Geschenk verlasse. Ich entschied dagegen.
Sieben Jahre nach dem Wurzelfoto fing ich an zu schreiben und stellte fest, dass es fast so ist wie fotografieren. Ich hatte versucht, dem Betrachter nicht vor die Füße zu werfen, was ich ihm zeigen wollte, sondern wollte ihm zutrauen, es selbst herauszufinden.
Das gelingt mir selten. Vielleicht ist das mein Prinzip; eine schlecht funktionierende Methode beizubehalten. Alles andere wäre ja Arbeit.
Der Sucher meiner Kamera bleibt Sucher, wird kein Finder und meine infantile Sicht auf die Welt lässt sich nicht überlisten. Die nüchterne Vernunft kann ich nicht annehmen, die Konventionen nicht einhalten.
„Die Welt kannst du ändern, wenn du erwachsen bist“, sagen die Großen zu den Kleinen. Aber es ist andersrum. Erst musst du deine Welt ändern, damit du darin groß werden kannst.
Jetzt schicken mich die Kinder los: Geh woanders weitersuchen, nicht immer nur in uns, das kann jeder!
Und ich hatte gedacht, ich müsste die Kinder losschicken. Aber sie gehen ja von selbst, langsam und sicher. Was ich behalte, sind mein Körper, meine Arbeit, meine Bilder.
Wie eine Wurzel ziehe ich meine Geschichte in Bildern hinter mir her und versuche, sie alle sieben Jahre in eine neue Erde zu graben.
Dieser Artikel stammt aus dem Buch „Sieben Jahre Luxus“* von Franziska Hauser, das gerade im Verlag Kehrer erschienen ist.
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