Unsichtbare Horizonte
Ich begann 2005 zu fotografieren und experimentierte zunächst – wie es viele tun – in unterschiedlichen Bereichen herum. Ich war stets auf der Suche nach einem starken Motiv. Fotografien, denen meiner Ansicht nach etwas fehlte, „frischte“ ich mit Photoshop auf.
Doch bald begannen mich diese technischen Spielereien zu langweilen und ich suchte nach etwas in der Fotografie, das mich wieder bewegen konnte. Um diese Zeit herum stieß ich im Internet auf die Arbeit von Levi Wedel. In seinen Bildern sah ich banale Dinge, gewöhnliche Ecken der kanadischen Stadt Calgary, die er jedoch durch gewagte, spielerische Kompositionen in Szene setzte.
Seine Bilder wirkten auf mich und ich verstand nicht, warum. Allmählich wurde mir klar, dass es nicht von Nöten ist, „das Motiv“ zu finden, um ein gutes Bild zu schießen. Und auch, dass der Betrachter in seiner Bildwahrnehmung emotional bewegt werden kann, auch wenn keine emotionalen Inhalte im Bild vorhanden sind.
Ich nahm Kontakt zu Levi auf und er beflügelte mich, selbst urbane Landschaftsfotografie zu betreiben, inspiriert von der „New Topographics“-Bewegung der 70er Jahre aus den USA.
Ich begann, meine Umwelt mit neuen Augen zu sehen und Köln auf’s Neue zu entdecken. Ich wechselte zum analogen Mittelformat, weil mich die natürliche Farbwiedergabe von Film mehr ansprach und das Tempo des Fotografierens sich positiv auf meine Bilder auswirkte.
Mit meinem Interesse zum Grafikdesign steigerte sich vor allem auch der Anspruch an spannende Bildkompositionen und ich folgte bald der Idee des demokratischen Fotografierens, die einem William Eggleston in seinem Buch „Democratic Forest“* nahe bringt.
Seiner Idee nach kann jedes Element – sei es ein Haus, ein Auto oder ein Mensch – im Bild gleichwertig behandelt werden. Plötzlich werden selbst banale Dinge genau so bedeutsam für die Komposition und das Bild als solches wie die, denen wir für gewöhnlich mehr Bedeutung zuschreiben.
Im April 2012 reiste ich im Rahmen eines Universitätsprojektes nach Hongkong und verbrachte dort drei Wochen. In dieser Zeit entstand die Serie „Unsichtbare Horizonte“.
Sie zeigt Hongkong und ist vor allem das Ergebnis meiner introspektiven Auseinandersetzung mit einem eigenartigen Phänomen der räumlichen Wahrnehmung, das ich während meines Aufenthaltes erstmals verspürte.
Der Begriff sichtbarer Horizont wird verwendet, wenn der wahre Horizont von Bäumen, Häusern, Bergen und so weiter verdeckt wird. Es ist die sichtbare Schnittlinie zwischen Himmel und Erde. Doch was geschieht, wenn selbst der sichtbare Horizont verschwindet?
Aus Orten mit flacher Topografie kommend, begann ich langsam, meinen Halt in dieser vertikalen Weltstadt zu verlieren. All die Dinge, die ich über diese Region zuvor gehört, all die Bilder, die ich zuvor gesehen hatte, alles schien stimmig und verständlich, doch meine Sinne gingen trotzdem mit mir durch.
Bereits beim Schlendern durch die Stadt in Bodennähe war ich davon überwältigt, wie komplex sich die hoch aufragenden Gebäude überlappten. Ich lief in ihren Schatten und konnte es nicht erwarten, einen Blick auf das Sonnenlicht, das durch die nächste Lücke schien, zu erhaschen. Zu diesem Zeitpunkt begann mein räumliches Orientierungsvermögen bereits, leicht ins Wanken zu geraten.
Ich stieg auf, um in größerer Höhe zu laufen. Beim Durchqueren der kommerziellen Gebäude Hongkongs und den unzähligen Überführungen, die diese miteinander verbinden, erreichte ich den Höhepunkt dieses eigenartigen und doch fesselnden Gefühls. In Bodennähe wirkte die seltene Sicht des Horizonts wie ein Referenzpunkt für meine Position, quasi als Beweis dafür, wo ich in dem Moment zu sein glaubte.
Das Laufen in verschiedenen Höhen hingegen führte dazu, dass diese Hinweise mein Orientierungsvermögen noch stärker durcheinander brachten. In Gedanken schien der Höhen- und Perspektivenwechsel logisch, doch meine Sinne konnten dem schnellen Wechsel nicht folgen. Im Wissen darum begann ich mit den Zeitabständen zu experimentieren, bevor ich ein Foto schoss.
Manchmal wartete ich und versuchte die Szenerie zu begreifen, ehe ich durch den Sucher blickte. Manchmal fing ich das Gesehene schnell ein, um das frische Raumempfinden beizubehalten.
Ich wollte mich etwas von all diesen Eindrücken erholen, also beschloss ich, die dichten Stadtregionen Kowloon und Hong Kong Island zu verlassen, um auch die ländlicheren Gebiete zu erkunden. Diese Exkursion führte mich zu einem Dorf namens Fong Ma Po, das sich in Lam Tsuen, in den New Territories, befindet. Ich genoss die ruhige Atmosphäre, die diesen Ort umgab.
Hier schien alles viel entschleunigter abzulaufen. Doch dieses Gefühl schwand, je mehr ich mich dem Dorfinneren näherte. Die Häuser waren hier deutlich kleiner, doch so dicht an einander gebaut, dass sie einer Miniaturstadt ähnelten.
Nachdem ich wieder nach Hong Kong Island zurückgekehrt war, begann ich an meiner Distanzwahrnehmung zu zweifeln. Der Horizont wird oftmals als Symbol für räumliche Unendlichkeit angesehen. Nachdem ich jedoch von sich scheinbar endlos überlappenden Gebäuden umgeben war, machte sich ein ähnliches Gefühl der räumlichen Grenzenlosigkeit bemerkbar. In der Nacht wurde dieser Effekt sogar noch verstärkt.
Der Blick durch Fenster, hinein in beleuchtete Räume, fügte den sonst massiv anmutenden Häusern eine zusätzliche Dimension hinzu. Diese Kombination resultierte in einer Vervielfachung von gewaltigem, unbekanntem Raum.
An diesem Punkt begriff ich: Je mehr ich sah, desto mehr bekam ich den Eindruck, wenig gesehen zu haben. Nur ein gewisser Sinneseindruck begleitete mich und wurde mit der Zeit stärker: Das Empfinden von unsichtbaren Horizonten, die unsichtbare Räume weiten. Und so wurde Hongkong mit jeder Woche größer.
Ich konnte meine Serie „Invisible horizons“ als Fotobuch in einer limitierten Auflage veröffentlichen. Es ist im Buchhaltung Verlag erschienen und dort erhältlich.
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