Ein Polaroid als Münze werfen
Vor einiger Zeit stellte ich fest, dass meine persönliche Fotografie, für die ich abseits von Aufträgen nur wenig Zeit finde, eigentlich nur noch aus Polaroidaufnahmen besteht. Warum ist das so, frage ich mich lange. Jetzt weiß ich es: Polaroids sind für mich das kreative Pendant dazu, eine Münze zu werfen.
Nagut, man kann Münzen so oder so werfen. Ich nutze den Münzwurf meist für Entscheidungen, die mir nicht leicht fallen. Denn oft genug hilft mir das Ergebnis des Münzwurfs dabei, herauszufinden, was ich eigentlich möchte: Nehme ich das Ergebnis erleichtert an, ist es wohl das, was ich ohnehin wollte. Ärgere ich mich über die Entscheidung der Münze, kann ich sie getrost verwerfen und die andere Möglichkeit wählen.
Ähnlich geht es mir nicht selten mit Fotos. Am Ort und zum Zeitpunkt der Aufnahme habe ich vielleicht ein bestimmtes Bild, ein Gefühl einfangen wollen. Digital „sauber“ fotografiert, ist das rohe Bild – passend ja im Raw-Format vorliegend – so etwas wie die leere Leinwand für den Maler. Es gibt zwar schon ein Bild, aber eigentlich ist es noch keines.
Um zu dem Bild zu werden, das ich gefühl habe, muss ich es verändern. Vielleicht weiter beschneiden, Farben, Kontrast oder mehr anpassen, möglicherweise sogar mit anderen Bildern collagieren oder stark verfremden. Ich muss also Entscheidungen treffen, um zu dem Bild zu gelangen, das ich haben möchte.
Habe ich ein Polaroid aufgenommen, ist die Leinwand schon nicht mehr leer, die Münze hat entschieden: In welche fremdartige Farbpalette der Zufall aus Filmcharge, Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit das Bild getaucht hat.
Ob es hell oder dunkel geraten ist. Ob ein großer Lichteinfall die Hälfte des Fotos verschluckt hat. Ob sich eine Unschärfe eingeschlichen hat, weil ich zu schlecht darin bin, zu lange Belichtungszeiten abzuschätzen.
Vielleicht ist das Bild nichts geworden, dann wandert es in den Papierkorb bzw. den Ablagestapel für missratene Bilder, die sich ja vielleicht noch für Experimente oder Collagen eignen. Oder – das ist allerdings sehr selten – der Zufall hat das Gefühl eingefangen, das ich hatte.
Oder – und das ist meistens der Fall – ich denke beim Betrachten: Ja, aber. Aber: Das ist zu blau, zu grün, zu hell, zu dunkel. Die eingefangene Variante der gefühlten Realität gleicht sich beim Betrachten mit meiner Erinnerung oder den Empfindungen ab und ich weiß, was mich stört.
Dann beginnt das digitale Angleichen, denn so schön ich es finde, echte Polaroids in der Hand zu halten oder sie auf Papier zu liften und aufzuziehen oder zu rahmen – Polaroids sind für mich in erster Linie auch digitales Arbeitsmaterial. Nach dem Scannen mache ich also aus dem Bild das, was es für mich sein soll.
Oft genug gefallen mir auch die „Effekte“, die die Polaroidkamera produziert. Lichteinfall oder Farbflecken, wenn ich sie mag, kann ich sie in der Nachbearbeitung noch verstärken. Und das tue ich dann sehr genussvoll, weil ich sie in einer so organischen Erscheinungsform wohl nicht in einem digitalen Bild erzeugt bekommen hätte, wenn ich es mal gebrauchen könnte.
Konzeptuelle Serien setze ich mit Polaroids fast nie um. Es ist eher das situationsbedingte Gefühl, etwas festhalten zu wollen, das mich dazu verleitet, die Kamera auszupacken und den vergleichsweise teuren Druck auf den Auslöser zu tätigen. Entsprechend lange komponiere ich das Bild, bewege mich hin und her, fokussiere ganz genau.
Manchmal packe ich die Kamera auch wieder ein, ohne ein Bild gemacht zu haben, weil mich der Blick durch den Sucher nicht überzeugt hat. Die anfängliche Euphorie für einen Moment, eine Aussicht, eine Situation kann sich auch wieder relativieren und verflüchtigen, umso länger ich durch den Sucher blicke. Eine andere Art von Münzwurf, der mich erkennen lässt, ob ich das Bild wirklich machen möchte.
Meine Polaroids sind eher keine Kunst, so gern ich das Etikett auch allem möglichen, was ich produziere, anhänge. Vielleicht eher so etwas wie ein loses Reisetagebuch, eine Schachtel voller unsortierter Ansichtskarten, nur selbst fotografiert statt am von Touristen umschwirrten Ansichtskartenstand gekauft.
Der fotografierte Ort ist mir meistens auch relativ gleichgültig. Ob ich mich an die Situation erinnern möchte, hängt eher davon ab, mit welchen Menschen ich die Stunden rund um den Besuch geteilt habe und vielleicht, wie meine emotionale Verfassung war. All das kann sich mit einem Ort zu etwas Neuem verbinden, Symbol werden.
Während gefühlt die Hälfte meiner Generation als Hobby Reisen angibt, komme ich ziemlich wenig herum. Reisen an sich stresst mich und umso weiter ich von zuhause weg bin, desto unsicherer und fremder fühle ich mich. Meistens reise ich ohnehin nicht in meiner Freizeit, sondern im Zusammenhang mit meiner Arbeit – auch, wenn ich zugeben muss, dass es mich immer an – auf irgendeine Weise – schöne Orte geführt hat.
Woanders zu sein finde ich trotzdem spannend. Der Rahmen meines Alltags – den ganzen Tag am PC arbeiten, einkaufen, kochen, wöchentliche Termine, E-Mails – ist so gut wie nicht vorhanden, Aufgaben fast ohne PC dominieren dann meine Arbeit, ich setze mich den ganzen Tag mit anderen Menschen auseinander. Natürlich entwickeln sich in dieser veränderten Situation neue Gedanken, ich reflektiere mein normales Leben.
Nicht selten komme ich dann von einer Reise nicht nur mit einem idealerweise wohl ausgewählten Stapel Polaroids wieder, sondern auch mit von der Fremde und Freiheit inspirierten Gedanken an Veränderung, Aufbruch, Revolution. Die Polaroids mit ihren verklärenden Farben schlagen die Brücke zu diesen Ideen, die ich ein bisschen in mein altes Leben mitnehmen kann, wenn ich zu ihm zurückkehre.