Ein Mann und ein Mädchen beten vor einem bunten Altar.
11. Mai 2015 Lesezeit: ~5 Minuten

Das Maß der Zeit

Die Zeit vergeht wie im Flug. Wer fühlt nicht so? Sind wir klein, kann es nicht schnell genug gehen, jetzt, wo wir groß sind, kommt es uns vor, als kämen wir nicht hinterher. Manchmal geht man mit den Zeigern, manchmal macht man Zeitsprünge. Zeit ist sperrig, schnell und zäh zugleich, ungreifbar und relativ.

Ich habe vor zehn Jahren angefangen zu fotografieren. In diesen zehn Jahren habe ich Abitur gemacht, ein Studium abgeschlossen und ein zweites begonnen, habe in vielen Wohnungen mit vielen verschiedenen Menschen gelebt, bin gereist und habe unzählige Bücher gelesen, Lieder gehört und Bilder gemacht und gesehen. Ich habe viele Kameras getestet, bin an manchen hängen geblieben und habe eine schier unfassbare Menge an Filmen verschossen.

Ich kann mich an vieles erinnern und doch habe ich manches schon vergessen, weil alles so wahnsinnig schnell vergangen ist. Was ich neben all den Erinnerungen und gefüllten Kalendern im Regal habe, sind meine Fotos. Und damit meine ich heute ausnahmsweise nicht meine eigenen.

In den letzten zehn Jahren habe ich nämlich so unfassbar viele Fotos angeschaut, dass mir schwindelig wird. Die meisten habe ich kurz betrachtet und dann weitergeklickt, bin zur nächsten Wand im Museum gewandert oder habe die Seite im Bildband umgeblättert. Manchmal finde ich Bilder in Streams, die mir vollkommen neu vorkommen, um dann darunter zu entdecken, dass ich sie 2010 schon einmal kommentiert habe. Die Zeit vergeht wie im Flug und es fehlt mir oft an Einheiten, in denen ich sie messen kann.

Ein Baby liegt in den Armen seiner Mutter.

2007

Ein kleines Mädchen in einem blauen Hemdchen steht jauchzend am Strand.

2008

Während mir meine eigenen Fotografien der vergangenen zehn Jahre, zusammengelegt auf einem imaginären Stapel, wüst und durcheinander vorkommen, sind Herr Beninis Fotos für mich die reinste Chronologie. Er war einer der ersten Fotografen, die ich vor zehn Jahren für mich entdeckt hatte, als ich mich 2006 in der Fotocommunity angemeldet habe. Seine Bilder waren fröhlich, ehrlich, bunt und lebendig. Sie haben mir das Mittelformat näher gebracht, haben mich inspiriert und erfreut. Dann wurde 2007 seine Tochter geboren und er hat es dokumentiert.

Ein kleines Mädchen im Kleid steht auf der Straße und schreit.

2009

Kopfüber schaut ein Mädchen durch seine eigenen Beine.

2010

Amélie in diesem digitalen Familienalbum wachsen zu sehen, ihre ersten Zähne, ihre ersten Spaziergänge im Garten, ihre Reisen, wie sie Fahrrad fährt und Zelten geht, wie ihr Haar länger wird und ihr Gesicht immer wilder und erwachsener – es ist irgendwie magisch.

Das Wachsen dieses Mädchens, das ich gar nicht persönlich kenne, führt mir vor Augen, wie lange ich selbst schon dabei bin. Wie lange ich schon Bilder anderer Menschen komsumiere, mich stückchenweise in ihre Leben einsehe, um dann wieder auszutauchen und auf das nächste Foto zu warten.

Ein Mädchen liegt mit laufender Nase in einer Hängematte.

2011

Bei Herr Benini ist es immer gekommen. Und für mich zur subjektiven Maßeinheit der Zeit geworden, in der ich mich mit Fotografie beschäftige. Seine Fotos sind wie ein roter Faden, der sich durch die schnelllebigen und austauschbaren Communities zieht und sich tief in meinem Gedächtnis verknotet. Und zwar weil diese Entwicklung eine ganz spezielle ist, weil es eben nicht um bessere Technik oder fotografischen Fortschritt geht, sondern um dieses kleine Mädchen, das irgendwo wächst und gedeiht – und das er mit der Welt teilt. Wie getrocknete Blumen im Herbarium können wir seine mal stillen, mal lauten Fotos betrachten und uns an ihnen erfreuen.

Ein Mädchen schiebt ein Fahrrädchen den Bürgersteig entlang.

2012

Ich habe noch keine Kinder, aber ich habe mich in den letzten Jahren immer wieder gefragt, ob ich auch so offen und mutig mit meinen Kindern umgehen würde, ob ich auch wollte, dass andere Menschen ihre Entwicklung so mitverfolgen könnten. Ich weiß es nicht.

Aber ich bin Mark Benini sehr dankbar für jedes Foto, das er von Amélie mit mir und all den anderen Betrachtern seiner Bilder teilt, dass er uns allen ein Stück seines bunten Glücks aus dem eigenen Familienalbum schenkt. Denn hätte ich diese Bilder nicht, würde ich nicht alle paar Wochen wieder daran erinnert werden, in welchen Etappen die Zeit rast, dass aus zehn Jahren bald sicherlich 15 geworden sind und dass es weiter geht. Dieses fließende Kontinuum der Zeit würde dann nicht für einen Augenblick durchbrochen werden, ich könnte nicht immer wieder zurückrechnen und leicht wehmütig „Herrje, ist die groß geworden“ denken.

Ein Mädchen hat Himbeeren auf den Fingerspitzen aufgesteckt.

2013

Ein Mädchen mit Glitzer im Gesicht macht eine Grimasse.

2014

Ich denke, wir alle konsumieren mehr Bilder, als wir benötigen und als wir in unserem Gedächtnis überhaupt abspeichern können. Wir sind Teil dieser Schnelllebigkeit, dieser Bilderflut, dieses Hetzens und Nichtrastens. Darum tut es gut, sich Fixpunkte zu suchen, an denen man sich festhalten kann.

Kleine Maßeinheiten, um die Zeit irgendwie greifbar zu machen. Entschleunigungsmomente, die den Fluss für ein paar Minuten anhalten. Für mich ist das Marks und Amélies kleines Universum, das sie in fotografischen Portionen mit mir teilen. Und wenn sich diesen Sommer mal wieder unsere Wege auf der Fusion kreuzen, werde ich danke sagen.

15 Kommentare

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  1. Schöner Text über die Zeit: ich denke auch, dass Fixpunkte an denen man sich festhalten kann wichtig sind, auch wenn ich es schon interessant finde, dass jemand diese in ausgerechnet in einer Fotocummunity finden kann. Ich habe dort bislang nie etwas nachhaltiges gesehen, an dass ich ein Jahr später noch gedacht hätte.
    Schöne Mittelformate. Hier finde ich den Look einfach passend, ohne dass ich gleich den „schon wieder analog, Fussel retro schon zu oft gesehen“ Gedanken bekomme. Das mag an den sehr persönlichen Kinderbildern liegen, da passt die Bildaussage! Ob man seine Kinder allerdings so persönlich online stellen sollte? Ich würde nicht, aber das ist eine andere Frage.

    • Lange her, aber ja, 2006 hat die Fotocommunity noch was hergegeben! Vor allem wenn man anfängt. Danach war die Zeit für mich da auch vorbei, aber Herr Benini ist eben geblieben.

    • „ohne dass ich gleich den “schon wieder analog, Fussel retro schon zu oft gesehen” Gedanken bekomme.“ Fällt aber schon auf, oder? Geht anscheinend nich mehr ohne.

      • Ich finde aber, hier passt es zu der sehr persönlichen Bildaussage. Kinderfotos sind ja immer schnell „retro“, weil die zeit so schnell vergeht.
        Insgesamt gebe ich Dir aber recht. ich bekomme hier auf Kwerfeldein aber oft auch den Einruck:
        Fussel und Lichtflecken = analog = gut = verträumter Blick
        HDR = das Bööööse, ganz schlimmer böser Teufel, pfui = Silikonimplantate
        :-)
        Ich persönlich sag, es kommt daraf an, was man mit dem Foto bewirken möchte.
        Und ich freue mich immer, wenn ich Dinge sehen, die außerhalb dieser Trends funktionieren oder mich überraschen.
        Wie zum Beispiel diese hier:
        http://kwerfeldein.de/2014/12/15/leica-m9-kein-testbericht-einer-alten-lady/

  2. So geht es mir mit Sesame Ellis (Rachel Devine). Ihre Tochter ist inzwischen 10 und stellt nun eigene Fotos online. Es ist schon etwas seltsam verrückt …

  3. „Ich denke, wir alle konsumieren mehr Bilder, als wir benötigen…“
    das gilt für so viele Dinge im Leben! Wir konsumieren, und vergessen oft, uns auf uns selbst zu besinnen. Denn Moment -JETZT- in dem wir gerade leben, zu genießen. Nicht anderem hinterher zu hecheln. Ein fach raus gehen, fühlen, riechen schmecken!
    Meine Tochter mach jetzt gerade Abi. Und ich weiß noch wie heute, als ich mit ihr an der Hand von der ersten Schulstunde am ersten Schultag nach Hause gelaufen bin.
    Ich hatte mir so viel vorgenoimmen: die Entwicklung der Kinder zu dokumentieren, so, wie mein Vater es bei uns all die Jahre gemacht hatte. Jedes Jahr ein Fotoalbum mit SW Bildern, für die Oma.
    Und dann ist alles schon „vorbei“. Aber eben auch nicht. Immer wieder SEINE Bilder machen, sie betrachten, aufheben.
    Danke für den Artikel!

  4. Ohne mir den Text durchgelesen zu haben….
    Die Bilder sind der Wahnsinn.

    Ich liebe analoge Farbfotos und schau mir immer wieder gern Alben von „früher“ an. Gerade ungezwungene (also nicht-gestellte) Fotos von Kindern die im Dreck spielen. Das erinnert mich immer daran woher der Mensch kommt und wo sein Zuhause ist.

    Belichtet jemand von euch Farbfotos zu Hause? Angenommen man bekommt S/W gut hin, ist der Sprung zu Farbe groß?

    • Farbe im Heimlabor ist recht teuer und man hat lange nicht so viele Bearbeitungsmöglichkeiten wie bei sw, da der Entwicklungsvorgang hoch standardisiert ist. Macht auch nicht so viel Spaß, da der Kopiervorgang in völliger Dunkelheit stattfinden muß.
      Am Rechner kannst Du Farbfotos wesentlich besser und weitgehender bearbeiten.

      Interessante und gute Bilder.

      • Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll, das Gegenteil zu behaupten, am besten lasse ich es… nur kurz: So ein Quatsch, in jeglicher Hinsicht.

      • Eine weise Entscheidung. Wenn einem als Antwort nur „So ein Quatsch“ einfällt, kann da nicht wirklich viel hinterstecken. Dabei lerne ich gerne noch dazu.

  5. oh * ..mir ergeht es sehr ähnlich. :) Seine Fotos habe ich damals ebenfalls in der fc kennengelernt und ja, sie sind wirklich dieser rote Faden, der sich durch die ganz eigene Geschichte zieht. Diese kleine große fabelhafte Welt, die sie miteinander teilen, ist großartig und ich bin froh, immer wieder darin eintauchen zu dürfen und den Bezug zur Zeit wieder zu finden.

  6. Das ist ja wirklich die fabelhafte Welt der Amélie! <3

    Ein Artikel von ganzem Herzen, wundervoll, macht Spaß zu lesen und zu schauen!
    Danke an Anne und an den Herrn Benini!

  7. Mir geht es mit Herrn Benini und seinem Leben – er zeigt und ja nicht nur die Entwicklung seiner Tochter sondern noch viel mehr- ganz ähnlich wie Dir. Ich liebe es, ihm dabei zuzusehen, wie er liebt und lebt. Und wenn ich es ganz genau betrachte, ist es das einzige Leben, welches ich aus der Ferne kenne, an dem ich wirklich Interesse habe. Bisher konnte ich mit niemanden sonst darüber reden, außer mit Herrn Benini selbst. Also danke. Ich mag Deinen Artikel sehr. :-)