Tilt-Shift-Fotografie für Einsteiger
Nachdem ich neulich bereits in einem anderen Artikel erzählt habe, wie ich zur Fotografie mit dem Tilt-Shift-Objektiv gekommen bin, möchte ich mit dem heutigen Artikel eine kleine Einführung für all diejenigen geben, die sich mal daran probieren wollen, es sich aber bisher wegen mangelndem Verständnis nicht getraut haben.
Die Fotografie mit der Tilt- und Shift-Funktion ist ein Spezialbereich, der sicherlich nicht jedem Spaß machen wird. Für mich ist die Arbeit damit unglaublich entspannend und interessant zugleich, weil ich in Ruhe alles einstellen kann und die Motivsuche sowie Komposition absolut im Vordergrund stehen.
Gleichzeitig möchte ich gleich vorab alle Angst vor diesen Objektiven abbauen. Sie richtig zu bedienen, ist eigentlich ganz einfach, wenn man es einmal verstanden hat. Ich hoffe, ich kann mit meinen Erklärungen dazu beitragen.
Grundsätzliches und Unterschiede
Was tut ein Tilt-Shift-Objektiv ganz grundsätzlich? Es begegnet zwei physikalischen Problemen, auf die man als Fotograf trifft: Stürzende (schräge) Linien bei der Gebäudefotografie von unten (oder oben) sowie der Unschärfe in schiefen Ebenen. Ich war nie gut in Physik, deswegen kann ich zu diesem Teil nicht viel sagen.
Ich weiß nur, dass das Objektiv durch Verschiebung des Bildausschnitts die Gebäude, die ich fotografieren möchte, gerade auf das Foto bringen kann. Und zwar so, dass die horizontalen oder vertikalen Linien parallel zu meinem Bildrand erscheinen, obwohl ich (normalerweise) von unten zum Gebäude hoch fotografiere.
Zusätzlich kann ich die Schärfe-Ebene mit den beweglichen Linsen so verschieben, dass ich eine schräge Fläche (eine Wand, den Boden oder ein in das Bild hineinragendes Objekt) von vorn bis hinten scharf aufnehmen kann.
In den letzten Jahren hat vor allem der umgekehrte Effekt bei vielen Fotografen die Runde gemacht. Man kann nämlich die Schärfe-Ebene auch genau entgegengesetzt verschieben, so dass ein Großteil des Fotos in Unschärfe verschwimmt. Dieser Effekt ist vor allem bei den dafür bekannten „Miniatur-Aufnahmen“ von Städten, Gebäuden oder bei den Tilt-Shift-Portraits mancher Fotografen erkennbar.
Der Unterschied dieser Objektive zu heutigen Standard-Zooms oder Festbrennweiten ist: Man kann nur manuell fokussieren. Dies ist der Funktionsweise des Autofokus in modernen DSLRs geschuldet, der mit verschobenen Bildausschnitten und schrägen Schärfe-Ebenen nicht umgehen kann.
Die Funktionalität dieser Objektive bringt also zunächst eine Einschränkung mit sich, sofern man in der eigenen Arbeitsweise bisher den Autofokus nutzt. Wer sich aber einmal mit der veränderten Herangehensweise vertraut gemacht hat, wird den automatischen Fokus nicht vermissen.
Ein Tilt-Shift ist dementsprechend kein Objektiv für den schnellen Schnappschuss auf Reisen oder zwischendurch. Dagegen spricht auch der sehr hohe Preis* für diese Art* von Objektiven*, der sich unter anderem mit der (notwendigerweise) hohen Verarbeitungsqualität der Glaslinsen begründen lässt. Schließlich muss bei jedem Einfallswinkel des Lichts die optimale Schärfe auf dem Bildsensor landen. Aber kommen wir zum praktischen Teil.
Was muss ich vor dem Fotografieren beachten?
Beim Fotografieren von Architektur mit einem Tilt-Shift-Objektiv ist die Nutzung eines Stativs in jedem Fall Pflicht. Dieses sollte eine Wasserwaage haben, mit der man es ganz genau und gerade ausrichten kann. Ich empfehle, einen Drei-Wege-Kopf zu nutzen, denn der lässt sich sehr einfach und exakt einstellen.
Wer so wie ich gerade Linien horizontal und vertikal möchte, muss den Stativkopf so einstellen, dass das Wasserwaage-Bläschen genau mittig liegt. Damit ist sichergestellt, dass du exakt gerade fotografierst.
Außerdem wichtig ist die Wahl des Standortes. Bei symmetrischen Gebäuden empfiehlt es sich, den Mittelpunkt zu suchen. Das tue ich ganz oft, denn ich liebe Symmetrie. Wer lieber Muster und Strukturen fotografiert, sucht sich den dafür optimalen Platz vor bzw. im Gebäude, um diese gleichmäßig auf das Foto zu bekommen.
Wie stelle ich das Objektiv ein?
Nachdem ich beim Einstellen des Stativs schon die Entscheidung getroffen habe, ob ich Hochformat oder Querformat fotografieren möchte, kann ich mich nun an das Einstellen des Objektives machen.
Dazu kann ich beim Tilt-Shift die beiden Funktionen um 90° drehen, je nachdem, ob ich horizontal oder vertikal shiften bzw. tilten möchte. Das tue ich als allererstes, danach mache ich mich an das eigentliche Tilten oder Shiften.
Shift
Normalerweise ist der Bildausschnitt bei exakt gerader Ausrichtung des Stativs nicht optimal. Meine Kamera „sieht“ jetzt nur, was sich exakt geradeaus vor meinem Objektiv befindet. Stürzende Linien habe ich durch das „ganz gerade“ Einstellen nun zwar schon behoben, aber mein eigentliches Motiv ist noch nicht voll im Bild.
Dies kann ich nun durch das Shiften der Glaslinsen beheben: Zum Einstellen befinden sich am Objektiv vier Schräubchen. Zwei für das Tilten und Shiften und zwei zum Feststellen der jeweiligen Einstellung.
Ich löse nun zuerst die Lock-Schraube der Linsen-Verschiebung (Shift), um sie freizugeben. Dann drehe ich das Objektiv nach oben oder unten, bis der gewünschte Bildausschnitt in meinem Sucher oder Live View erscheint. Jeder Strich auf dem Objektiv steht hier für 1 Millimeter. Und jeder Millimeter hat im Bild enorme Auswirkungen. Das kann ich im Bild direkt mitverfolgen, während ich shifte.
Sobald ich mein Motiv vollständig im Bild habe, arretiere ich das Ganze mit der Lock-Schraube wieder. Achtung: Die Lock-Schrauben nie zu fest anziehen, sonst kriegst Du sie kaum noch auf und beschädigst eventuell die Feststellfunktion.
In der Kamera stelle ich zum Fotografieren nun einen Selbstauslöser von 2 Sekunden ein und schalte die Spiegelvorauslösung (ebenfalls auf 2 Sekunden) an, um eventuelles Nachwackeln meiner Kamera – und damit Bewegungsunschärfen im Foto – zu eliminieren. Damit erreiche ich die beste Schärfe.
Am Ende ist natürlich das Scharfstellen des Objektivs an sich nicht zu vergessen. Für Architektur nutze ich meist die Unendlich-Einstellung, weil ich recht weit von meinen Objekten entfernt stehe. Ich stelle die Schärfe so ein, dass mein gesamtes Gebäude bzw. Objekt im Live View bei höchster Zoomstufe scharf dargestellt wird.
Und nun drücke ich ab! Voilá ein perfekt „geshiftetes“ Foto dessen, was ich fotografieren möchte.
Zum Shiften war dies eigentlich auch schon das ganze Prinzip. Ich gehe bei jedem Foto immer wieder gleich vor. Die eigentliche Herausforderung ist nun, interessante Motive oder spannende Architektur zu finden, die zu fotografieren es lohnt.
Gebäude mit vielen Linien, Mustern oder Strukturen bieten sich dafür besonders an. Ab und an gehe ich aber von den klassischen Tilt-Shift-Motiven auch weg und fotografiere etwas ganz anderes mit dieser Funktion.
Tilt
Beim Tilten gehe ich – je nach gewünschtem Effekt – etwas anders vor: Auch hier ist zunächst die Lock-Schraube zu lösen. Nun muss ich aber entscheiden, welchen Effekt des Tilt-Mechanismus ich erzielen möchte. Es gibt zwei Möglichkeiten:
- Die Schärfe-Ebene auf eine schräge Ebene (z. B. eine schiefe Wand oder eine unter mir verlaufende Fläche) ausrichten, so dass diese komplett scharf dargestellt wird.
- Einen Unschärfe-Effekt in bestimmten Teilen des Fotos erzeugen.
Bei Ersterem muss ich die Tilt-Verschwenkung genau auf die Wand oder Fläche ausrichten, die ich scharf haben möchte. Also jeweils nach oben, unten, rechts oder links um einige Grad verschwenken und dann im Live View kontrollieren, ob die Fläche über das ganze Foto scharf abgebildet wird. Jeder Strich auf der Tilt-Skala am Objektiv steht dabei für einen Winkel von 1°.
Ich drehe also so lange am Tilt-Rädchen, bis das gewünschte Objekt oder die Wand im Live View von vorn bis hinten scharf dargestellt wird. Der Rest läuft genauso wie beim Shiften: Selbstauslöser auf 2 Sekunden, Spiegelvorauslösung und abdrücken – fertig!
Bei der zweiten Möglichkeit tilte ich bis zum Anschlag (normalerweise 12 Grad) und stelle dann ein Objekt in zwei bis vier Metern Entfernung per Live View scharf ein. Das kann ein Gesicht, eine Person oder ein Objekt sein.
Je nachdem, ob ich die Tilt-Verschwenkung hochkant oder quer gedreht habe, wird der Bereich rechts und links oder oben und unten im Bild unscharf und es entsteht ein schönes Bokeh.
Der Effekt wird in den letzten Jahren vor allem von Hochzeitsfotografen genutzt, die damit versuchen, ihren Portraits einen etwas anderen Look zu geben. Ich empfinde den Effekt mittlerweile als ziemlich ausgelutscht.
Wer den ebenfalls berühmten Miniatur-Effekt erzielen möchte, geht genauso vor und „tiltet“ die Linsen konträr zu der davor liegenden Landschaft bzw. Stadt. Damit wir nur ein kleiner Teil scharf dargestellt und der Rest verschwimmt in Unschärfe.
Fazit
Das war eigentlich auch schon der ganze Zauber – mehr ist technisch gar nicht dran an der Tilt-Shift-Fotografie. Schlussendlich lädt das Ganze zum Experimentieren ein: Die Funktionen mal genau gegensätzlich zu nutzen oder damit bisher untypische Motive zu fotografieren, gehört hier noch zu den einfachsten Ideen.
Ich möchte Dich dazu ermutigen, Dir bei Interesse mal ein solches Objektiv zu leihen und Dich in Deiner Stadt oder Umgebung auf die Suche zu machen – nach interessanten Motiven und bedeutsamen Kulturobjekten der Menschheit. Ein Kauf lohnt sich dann, wenn Du wirklich sehr regelmäßig damit fotografieren möchtest. Wichtig ist neben dem Technischen eigentlich nur eines: Deiner Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
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