17. April 2015 Lesezeit: ~7 Minuten

Delphi

„Erkenne Dich selbst“ – diese Worte waren in die Mauer der Vorhalle des Tempels in Delphi eingeschrieben, an dem Ödipus die Wahrsagung eines Orakels erhielt. Ödipus blieb Selbsterkenntnis verwehrt: Er floh aus Angst, sein wahres Selbst zu erkennen, aus der Stadt, in der er aufgewachsen war. In Anlehnung an diesen Mythos soll in der Gruppenausstellung „Delphi“ diskutiert werden, was es heißt, sich selbst zu erkennen. Eine Vorstellung und Einladung für Euch.

Der eine oder andere weiß vielleicht, dass mein Hauptbrotwerb aus psychologischer Forschung und Praxis besteht. Aber keine Angst, meine Fähigkeiten, andere Menschen mit einem Blick zu Durchleuchten und zu Enttarnen sind begrenzt und durch Bildschirme hindurch ist das Gedankenlesen ganz besonders schwierig.

Mit der Fotografie beschäftige ich mich seit circa 2012. Damals fand ich es wunderbar entspannend, nicht den „harten“ Kriterien der Wissenschaft folgen zu müssen, sondern eher mit Intuition und Herz an bestimmte Themen heranzugehen.

Innerhalb meiner wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich mich unter anderem mit Fragen der Identität beschäftigt, so vereinfacht gesprochen. Spannend fand ich, dass die Kunst ganz andere Ansätze bzw. Zugänge zu Fragen der Identität hat.

Ein Mann mit einer Zigarette.

Einer der ersten Menschen, die mir dies verdeutlicht haben, war mein Freund Giampiero Assumma, den ich auf einem Workshop kennenlernte. Seine Arbeit hat mich damals schwer begeistert. Und eigentlich ist sie auch ein wesentlicher Anstoß gewesen, anders über Themen der Identität nachzudenken.

Durch ihn kam ich auf die Idee zur Organisation einer Ausstellung namens Delphi. Die Fotogalerie Friedrichshain in Berlin fand die Idee zur Ausstellung gut und so kommt es, dass Ihr die Möglichkeit habt, mich und vier spannende Fotografen in der Fotogalerie Friedrichshain ab 23. April zu begrüßen.

Worum geht es in der Ausstellung Delphi? In Anlehnung an den Ödipusmythos geht es in Delphi um die Fragen zur Selbsterkenntnis („Wer bin ich?“) und zur Selbsttransformation („Wie kann ich mich verändern?“ und „Was und wer verändert mich?“).

Giampiero Assumma hat über den Zeitraum von mehreren Jahren in einer von sechs Psychiatrien in Italien Kriminelle portraitiert. In der Fotogalerie Friedrichshain stellt er seine Serie „The Lower World“ vor.

Ein Mann mit einer Zigarette, dahinter ein Mann im BH.

Giampiero hinterfragt damit nicht nur den Umgang mit psychisch kranken Insassen in Italien, sondern möchte mit visuellen Mitteln erkunden, was wir unter Wahnsinn verstehen. Es geht also darum, was unter „normalem“ Erleben und Verhalten verstanden wird. Seine Serie regt auch dazu an, nachzudenken, inwieweit Grenzen zwischen gesund und krank verschieb- und modifizierbar sind.

Der zweite ausstellende Künstler ist Sander Marsman. Sander habe ich über Freunde kennengelernt und war wahnsinnig begeistert von den Themen, die er mit fotografischen Mitteln erkundet.

Eine Frau schaut an sich herunter.

Sander dokumentiert das Leben der transsexuellen Dianna. „Every day is dressed up“ lautet der Buchtitel (ein Zitat von Dianna), der den Prozess der Geschlechtertransformation treffend beschreibt.

Die Fotografien beschreiben die Rituale zur Unterstreichung der zu diesem Zeitpunkt bereits eroberten eigenen Identität. Diese dokumentarischen Fotos sind anders als die Selbstportraits von Dianna. Sie sind nicht gestellt, drapiert oder geschönt. Man sieht alternde Haut, aber auch lebendige Augen. Starke Farben, die betont Weiblichkeit nachzeichnen.

Der Wunsch nach Individualität und der Wunsch nach Zugehörigkeit sind bei den meisten Menschen beiderseits stark ausgeprägt. Das heißt, dass jeder Mensch sein Äußeres frei gestalten kann.

Eine Frau schaut aus dem Fenster.

Wenn bestimmte Merkmale jedoch mit einer starken Abweichung von der Norm einhergehen, die ggf. sogar zum sozialen Ausschluss führen, kann das für das Individuum als sehr schmerzhaft empfunden werden.

In Sander Marsmans Projekt geht es nicht nur um die Geschichte eines transsexuellen Menschen, sondern auch darum, inwieweit Gesellschaften Individualität und Ausdruck eigener Identität fernab der Norm tolerieren und akzeptieren.

Der dritte Fotograf ist Petrov Ahner. Petrov hat von uns allen die längste Erfahrung mit Menschen- und Auftragsfotografie, da er lange für große Modekonzerne in Amerika und Paris wirkte.

Ein Mann schaut in die Kamera.

© Petrov Ahner

Nach 15 Jahren in Paris, einer Stadt der konservativen und festgelegten „Postkartenschönheit“, sucht Petrov Ahner das Gesicht seiner Wahlheimat Berlin zu erforschen, die geprägt durch die Gegensätze lebendig wird und einen unkonventionellen und unprätentiösen Begriff des Schönen formt.

Bestimmend für das 2011 begonnene Langzeitprojekt „Berlin Beauty“ von Petrov Ahner war anfänglich die Beobachtung, dass das zeitgenössische Berlin als eine Stadt ständiger Konstruktion, Dekonstruktion, Rekonstruktion und Fluktuation eine starke Anziehungskraft und Ausstrahlung ausübt.

Eine Frau steht da und raucht, eine alte Frau läuft hinter ihr entlang.

Hierbei sind es vor allem die Brüche und Widersprüche der Stadt, der ständige Wandel, die Weite, die Offenheit und Verschiedenartigkeit städtischer Infrastruktur und Lebenswirklichkeiten, die die Stadt außergewöhnlich machen und Möglichkeiten persönlicher Lebensentwürfe und gelebter Experimente zulassen, aber auch das Scheitern und Sich-Einfügen.

In Petrov Ahners Arbeit geht es daher vor allem darum, inwieweit ein Stadtbild die Identität von Menschen prägt und formt. Zu jedem Portrait gehört ein Text, der vom Portraitierten frei verfasst das eigene Lebensgefühl und sein persönliches Verhältnis zu Berlin ausdrückt.

Marit Beer ist die vierte Fotografin, die Euch auch als freie Redakteurin bei kwerfeldein bekannt ist. Marit beschäftigt sich mit den Innenansichten der menschlichen Psyche und versucht, nicht greifbare Persönlichkeitsanteile mit fotografischen Mitteln zu erfassen.

Eine Frau mit einem Spinnennetz.

In ihrer Serie „Metamorphosen“ begleitet und dokumentiert sie die Verwandlung von Personen in übermenschliche, naturgleiche Wesen. Es geht also bei ihr um eine andere Art von Transformation und um die Auseinandersetzung mit Teilaspekten unserer Persönlichkeit, die nicht durch Worte beschrieben werden können.

Das heißt auch, dass Aspekte des Selbst verborgen bleiben, solange man nicht offen ist, ihnen Gehör zu verschaffen. Nur durch ein gewisses Maß an Selbstreflexivität werden Metamorphosen, also eine Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen, möglich.

Eine Frau hält eine Puppe in der Hand.

Ich stelle modifizierte Kabinettkartenportraits aus dem 19. Jahrhundert aus, die ich mit malerischen Elementen verändert habe. Mich faszinieren Fotografien aus früheren Jahrzehnten, denn sie geben Aufschluß über Persönlichkeit vor dem Hintergrund einer historischen Veränderung.

Die Identität der abgebildeten Personen wird durch malerische Elemente verdeckt und verhüllt. Durch die farbigen Elemente werden die Personen in die Neuzeit katapultiert. Es geht bei meinem Projekt auch um die Vergänglichkeit der Fotografie als Mittel zur Bewahrung von Identität und Erinnerung.

Eine Kabinettkarte mit zertäubten Gesicht.

Wir freuen uns über Euer zahlreiches Erscheinen. Ich denke, dass Euch die fünf Arbeiten zum Nachdenken anregen werden und im Zweifelsfall könnt Ihr gern beim beteiligten Künstler direkt nachfragen.

Um auch ein bisschen Inhaltsvermittlung zu gewährleisten, wird Christian Kaufmann (ein promovierter Psychologe und Wissenschaftler) einen kurzen Vortrag zum Thema Selbsterkenntnis und Selbsttransformation halten.

An diesem Abend beantworte ich auch gern Fragen rund um das Thema. Und seid gewarnt: Im Handlesen ist unsere Marit ziemlich gut. Wenn ich Fragen also nicht beantworten kann, verweise ich gern auf sie.

Infos zur Ausstellung: Vernissage am 23. April 2015 um 19 Uhr, Fotogalerie Friedrichshain, Helsingforser Platz 1, 10243 Berlin.

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