Nur ein Portrait
Vor sechs Jahren war es ziemlich undenkbar, dass ich einmal Menschen fotografieren würde. Ich fand Gespräche mit Menschen eher anstrengend, klammerte mich an meine Kamera und klebte mit jener am Asphalt, um nach Dingen Ausschau zu halten, die sonst keiner sah.
Ich fühlte mich damit auch ziemlich toll. Ja, geradezu einzigartig und seltsam. Genau die Prädikate, mit denen ich mich immer selbst gern umschrieb. Ich zeigte meine Bilder damals oft meinem Vater, der mit seiner Meinung aber nie lange hinterm Berg hielt. „Langweilig“, „kontrastlos“ und „nett“ waren die Worte, mit denen er meine Bilder beschrieb. Er tat das mit einem Lächeln, wie Väter eben so sind.
Aber genau das war es. Mein Leben war kontrastlos, langweilig und nett, jedenfalls das, was ich davon festhielt. Aber ich wollte begeistern, jemanden mitreißen und zu mehr als nur einem mitleidigen Lächeln bringen. Ich wollte korrespondieren, Kontakt mit der Welt aufnehmen. Nicht nur zuschauen und etwas dokumentieren, ich wollte ein Teil davon sein.
Ich bewunderte die Portraits der alten Meister. Ich muss die Namen hier nicht aufzählen, sucht Euch einfach einen aus, es wird schon der oder die Richtige sein. Aber wie schafft man ein Portrait, das etwas in Dir auslöst, was Du auch an den Betrachter überträgst?
Die Antwort hielt ich bald in den Händen. – Ich wollte eine Freundin fotografieren. Jemanden, der vorher noch nie vor der Kamera stand. Jemanden, der so unbefleckt war wie ich selbst.
Wir waren beide aufgeregt. Da standen wir nun in meiner Einraum-Wohnung in Neukölln. Damals, als meine Freunde noch Angst hatten, mich zu besuchen, weil die Gangs vor der Haustür rumlungerten, als meine Straße noch nach Hundeköttel roch und nicht nach veganem Fastfood und als die einzigen Bärte an Männern die der Imame waren.
Meine Güte, das ist wirklich fünf Jahre her. Auf der Pergamin-Hülle mit den Negativstreifen steht: 16.1.2010 – Linda.
Ich verschoss zwei Schwarzweißfilme HP5 von Ilford, weil ich den damals so liebte. Wir brauchten zwei Stunden, in denen wir rumalberten, redeten oder dem Licht beim fahl werden zuschauten. Die Zeit verdichtete sich, Linda wurde greifbarer.
Obwohl ich sie kannte, erkannte ich etwas. Ich sah sie. Jedenfalls kann ich mich an diesen seltsamen Moment erinnern. Linda, die Schlaue, der Bücherwurm wurde gläsern. Irgendetwas fiel von ihr ab oder vielleicht war es eher ein Bild, das ich von ihr hatte. Es verschwand.
Heute halte ich dieses Bild in den Händen. Es ist unscharf, aber kontrastreich – es erfüllt mich immer wieder mit Wärme, wenn ich es betrachte. Damals ist etwas in mir zerbrochen, aber es ist nichts dabei kaputt gegangen, im Gegenteil. Ich fing an, auf die Menschen zuzugehen; ich hatte das Bedürfnis, sie zu sehen.
Heuet bin ich viel offener. Ich habe so viele Menschen über die Fotografie kennengelernt und so viele sind geblieben. Freundschaften haben sich gebildet, Kontakte sich ergeben und damit viel mehr Möglichkeiten als damals, als ich mit der Kamera den Asphalt untersuchte und mich nicht traute, aufzuschauen.