Ein Mensch mit Schweinemaske.
09. Februar 2015 Lesezeit: ~6 Minuten

Liebe, Leib und Lust

Corinna Sauer beschäftigte sich in ihrer Serie „Consensual“ mit Sadomasochismus. Die Arbeit der Fotografin visualisiert die Gratwanderung zwischen Schmerz und Lust und diskutiert damit die Grenzen des Normativen. Ein Beitrag über eine Serie, die einen künstlerischen Blick auf die Szene wirft, ohne wertend zu sein.

Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, hatte ich das erste Mal Fantasien, in denen ich entführt, in einem Keller gefoltert und erniedrigt werde. Diese Fantasien waren einerseits lustvoll, andererseits habe ich mich dafür geschämt. Die Tatsache, dass meine Fantasien nicht typisch männlich sind, hat mir mein Outing erschwert. Erst im Alter von 45 Jahren lebe ich so frei, wie ich es mir immer erträumt habe.

Diese Aussage stammt von einem Mann, den die Fotografin Corinna Sauer im Rahmen ihrer Serie „Consensual“ portraitiert hat. Für ihre Serie hat sie sich in SM-Studios begeben und Personen während des SM-Spiels fotografiert.

Durch ihre feine Beobachtungsgabe hat Corinna eine eigene Bildsprache entwickelt, die ausdrucksstark und ästhetisch über Menschen mit besonderen sexuellen Vorlieben spricht. Die Fotografin wollte mit ihrer Serie Spielformen der Sexualität aufzeigen, die sich außerhalb des Normbereichs bewegen.

Bondage im SM Studio

Corinna war am Anfang vor allem über den Einfallsreichtum bei sadomasochistischen Praktiken überrascht. Individuelle Fantasien werden in den Studios nach Maß zugeschnitten. Schlachtungsfantasien als Schwein, Entführungszenen oder die Vorstellung, für wenige Stunden als Kleinkind behandelt zu werden, gehörten neben den bekannteren masochistischen Praktiken zum Programm.

Bei einigen wenigen Szenen habe sie kurz das Studio verlassen müssen, berichtet die Fotografin. Die mehrstündigen Fotosessions gingen ihr vor allem am Anfang an die Substanz.

Unter sexuellem Sadomasochismus versteht man im Eigentlichen zwei Arten der Sexualpraktik: Die des Sadismus (dominant) und die des Masochismus (unterwürfig). Bei den meisten Anhängern kristallisiert sich über die Zeit hinweg die Präferenz für den aktiven oder den passiven Teil heraus.

Masochismus tritt jedoch oft zuerst in Erscheinung und ist vierfach so häufig wie Sadismus. Der höhere Bedarf an masochistischen Sexualfantasien wird durch Angebote in Bordellen abgedeckt.

Eine Frau trägt eine Maske.Frau mit Wachs.

Obwohl „sexueller Sadomasochismus“ im ICD-10 als psychische Störung definiert ist, sehen die meisten Psychiater und psychologischen Psychotherapeuten sadomasochistische Praktiken eher als Variante einer gesunden Sexualität an.

Klinisch relevant wird es jedoch dann, wenn sexuelle Fantasien mit einem Leidensdruck einhergehen oder Praktiken nicht einvernehmlich ausgeübt werden. In der Regel werden die sexuellen Praktiken jedoch mit Vorsicht und nach Absprache ausgeübt. Nicht immer, aber häufig gibt es ein Codewort, das die sexuellen Rituale unterbricht, so erzählt Corinna.

Sadomasochismus ist nicht für alle Menschen lustvoll, dennoch machen fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung einmal im Leben eine Erfahrung in diesem Bereich. „Die mangelnde Akzeptanz ist jedoch für viele SMler eine große Belastung“, sagt die Fotografin.

Noch immer herrscht ein allgemeiner gesellschaftlicher Konsens, dass sadomasochistische Neigungen Zeichen einer gestörten Psyche sind. Corinna berichtet, dass einige Menschen, mit denen sie sprach, lange Zeit ohne Beziehungspartner lebten. Tatsächlich sind in den meisten SM-Salons mehr Männer als Frauen anzutreffen.

Eine Frau liegt unter Plastik.Ein Mensch wird gefesselt.

Dass sadomasochistische Praktiken hauptsächlich von homosexuellen Menschen ausgeübt würden, sei jedoch ein Vorurteil, sagt Corinna. Trotzdem drängten sich auch bei der Fotografin zu Anfang ihrer Arbeit vorurteilsbehaftete Gedanken auf. Sie wollte mehr über die Motivation der Leute erfahren, die sich zum Erlangen sexueller Lust erniedrigen lassen oder andere demütigen.

Über die Ursprünge sadomasochistischer Neigungen wurde auch innerhalb der psychologischen Forschung lange Zeit gerätselt. Psychoanalytische Theorien postulieren, dass Masochisten sich in frühkindliche Phasen zurücksehnen und dies in Form von Sexualpraktiken ausleben können.

Auch wird vermutet, dass Masochisten im realen Leben überlegen sein wollen. Wenn dieser Wunsch in der Realität nicht umsetzbar ist, verkehrt er sich ins Gegenteil.

Neuere kognitiv-behaviorale Theorien postulierten dagegen, dass das Aushalten von Schmerz selbstwertstabilisierend wirkt. Manche Menschen könnten beispielsweise Stolz empfinden, wenn sie mehr Schmerz aushielten als andere.

Ein Mann atmet durch eine Schweinemaske.

Aus der Forschung zur Schmerzverarbeitung ist bekannt, dass einige Menschen schmerzinduzierende Techniken ausführen, um negative Gefühle zu regulieren oder starke Anspannung zu reduzieren. In diesem Zusammenhang wird häufig die Vermutung geäußert, dass masochistische Praktiken eine Erleichterung für Menschen darstellen, die unter enormem beruflichen Druck stehen und sich somit für kurze Zeit Entlastung durch Verantwortungsabgabe verschaffen.

„Meine Erfahrung ist jedoch“, so Corinna, „dass Sadomasochisten in allen Berufs- und Gesellschaftssparten auftauchen.“ Nur einmal sei ein Manager einer großen Firma in Lederkutte auf sie zugetreten und habe gebeten, die Bilder sichten zu können, um eine Erkennbarkeit seiner Person auszuschließen.

Während des Gesprächs trug er einen roten Ball im Mund, der Schreie dämpfen soll. Ein bisschen seltsam sei ihr dieses Gespräch zunächst schon vorgekommen, die Scheu vor dem Unbekannten habe sich aber schnell gelegt.

Man merkt der Fotografin an, dass sie sich nicht nur unter ästhetischen, sondern auch wissenschaftlich relevanten Gesichtspunkten mit Sadomasochismus beschäftigt hat.

Eine Domina steht auf dem Boden.

Entstanden ist eine Serie, die nicht nur Mut erfordert, sondern auch das Prädikat künstlerisch wertvoll tragen darf. Ihre Serie ist ein gutes Beispiel dafür, wie Fotografie ein Spiegel gesellschaftlich relevanter Phänomene sein kann.

Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Corinna nicht die einzige Fotografin ist, die Menschen mit der Vorliebe für sadomasochistische Praktiken portraitiert hat. Auch Fotografen wie Katrin Ingwersen und Florian Müller haben sich diesem herausfordernden Thema gestellt.

Corinna Sauer ist jedoch die einzige (mir bekannte) Fotografin, die sadomasochistische Praktiken außerhalb einer Sicherheitszone dokumentiert hat. Sie nutzte weder Studiolicht noch weniger bedrohlich wirkende Studiosettings. Stattdessen fotografierte sie mit Zustimmung der Beteiligten die sadomasochistischen Praktiken bei deren Durchführung.

Sich in dunklen Kellern aufzuhalten und schmerzverzehrte Gesichter während des Aktes über mehrere Stunden zu portraitieren, erfordert Mut und eine starke Psyche. Der Verzicht auf Farbe und das Setzen starker Schwarz-Weiß-Kontraste trägt zur Ausformung einer persönlichen und charakterstarken Perspektive bei.

Mann mit Gummimaske liegt auf LinoleumbodenAuf dem Boden sind Schatten geworfen.

Corinna Sauer ist derzeit als freie Fotografin in Berlin und bei Prospektphoto tätig. Neben der Umsetzung eigener künstlerischer Projekte ist sie Teil des Musikmagazins Musikmussmit und verbindet dort ihre Leidenschaft für Livemusik mit der Fotografie.

9 Kommentare

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  1. Es heißt „Gratwanderung“ :-)

    Ich fand die Bilder jetzt nicht sehr ansprechend, da sie aufgrund des klein gewählten Bildausschnitts wenig vom Umfeld zeigen, sondern eher den Betrachter auffordern, sich den Kontext (also den Raum, wer zuschaut, etc.) selbst zu denken, was schwer ist, wenn man sich nicht dafür interessiert und keine Erfahrungen hat.

    Da sie einen „künstlerischen Blick“ darauf wirft, scheint das aber beabsichtigt.

    • Susan Meiselas hat tatsächlich eine hervorragende Arbeit abgeliefert. Allerdings sind Kontext und Bildention in beiden Ansätzen unterschiedlich. Susan Meiselas ist eine Magnum Fotografin mit stärkerem Fokus auf Reportage. Daher setzt sie auch andere fotografische Mittel ein, um die SM-Szene zu porträtieren (größerer Bildausschnitt, Verwendung von Farbe, etc.).

      Corinna Sauer ist eine junge Fotografin mit stärkerer künstlerischer Intention. Es geht in ihrer Serie nicht um ein konkreteres Abbild der Realität oder die Befriedigung der Neugier des Betrachters, sondern um die Erzeugung einer Stimmung, die sie über den Verzicht auf Farbe, den Einsatz von starken Kontrasten sowie die Auswahl reduzierter Bildausschnitte erreicht. Aber der Vergleich zeigt auch, welche unterschiedlichen Zugänge verschiedene Fotografen (und Betrachter) zum gleichen Thema haben können! In diesem Sinne danke für den Hinweis auf Susan Meiselas.

  2. Ein interessanter Artikle und fantastische Aufnahmen werden uns hier präsentiert.

    Mit den beschriebenen Praktiken hatte ich es zwar noch nicht zu tun, aber die Fotos faszinieren mich auf einer gewissen Art.
    Die dunklen, düsteren, sehr geheimnisvollen Fotos mit ihren hohen Kontrast gefallen mir sehr gut. Detailaufnahmen, die nicht zuviel verraten und doch zum nachdenken anregen.
    Klasse!

    Gruß, Andreas

  3. Mir gefallen die Bilder ziemlich gut und ich finde die Umsetzung auch thematisch passend.

    Was mich sehr stört ist die versuchte Erklärung des psychologischen Kontext und diese subjektive „es steht zwar im ICD-10, aber viele Therapeuten sehen das anders…“
    Viele Psycho-XYZ sind überhaupt nicht qualifiziert um sich zu dem Thema äussern zu können.

    Die Fotos sind eine künstlerische Umsetzung. Die mag gefallen oder nicht. Mir gefällt sie und einfach war es sicher nicht.
    Da kann der Begleittext nicht mithalten. Dazu müsste er wenigstens 100 Seiten länger sein und die Leser dieser Webseite mehr psychologisches Hintergrundwissen haben. Tatsächlich ist es nämlich gar nicht so eindeutig, wie der Text es suggeriert. Schon allein die Deutungsunterschiede zwischen den verschiedenen psychologischen Strömungen. Dazu kommt, dass die Thematik an sich schon mehr Spezialwissen voraussetzt als allgemein vorhanden ist.

    Die Fotoarbeit ist gut, das Thema und auch der Einblick in die Schwierigkeiten der Arbeit sowieso. Aber dann sollte man auch sehen, wo die Grenze im Rahmen dieser Webseite liegt. Dann muss es auch am Leser liegen sich bei Interesse weiterführende Informationen an anderen Stellen zu beschaffen – ohne „embedded journalist“. Zu letzteren ist die Meinung der Tiefenpsychologie jedenfalls klar. :-)

  4. Ich denke den Bildern hätte es besser gestanden, wenn sie nur mit der Einleitung die Corinna Sauer auf ihrer Website selbst gewählt hat, hier gezeigt worden wären oder der Nachsatz: „…Es geht in ihrer Serie nicht um ein konkreteres Abbild der Realität oder die Befriedigung der Neugier des Betrachters …“ deutlich vorneweg gestanden hätte.

    Die Bilder zeigen einen kleinen Ausschnitt einer Welt, sie zeigen den Zugang den die Fotografin für sich als gangbar und erträglich empfunden haben dürfte. Sie erklären nicht und das finde ich gut. Den Text halte ich für ablenkend, gibt er doch denjenigen die Thema abgeneigt gegenüber stehen, genug Anhaltspunkte um sich bestätigt zu fühlen. Genau das – glaube ich – war jedoch nicht die Intention der Serie.

  5. Blogartikel dazu: Montagslinks 07/15 | Random Signals

  6. Man muss nicht immer das Umfeld fotografieren. Allein der Fokus auf einige wenige Körperbereiche, die vom Schmerz, von der Pein und von der Qual geprägt sind, vermitteln mehr Ausdruclsstärke als ein perfektes Bild in der Tiefenschärfe. Ich habe hier unter http://www.seejey.de/2015/07/23/ckfl-shooting-im-sm-club/ farbige Bilder hergenommen und die Intention ist natürlich eine komplett andere. Frauen in Perfektion geben sich der Lust hin und empfinden Freude. Corinnas Bilder vermitteln in S/W Tönen eine bedrückende Stimmung und das finde ich klasse.