Die Kunst von Paula Muhr
Paula Muhr beschäftigt sich mit Fotografie als historisches und zeitgenössisches Instrument der Wirklichkeitserzeugung. Ihre Installationen aus inszenierter Fotografie, Found Footage und filmischen Montagen basieren auf wissenschaftlichen Prinzipien und beziehen aktuelle empirische Befunde ein. Zentraler Gegenstand ist die Diskussion gesellschaftlicher Erscheinungs- und Verhaltensnormen.
Ich traf die aus Serbien stammende Künstlerin Paula Muhr in ihrer Berliner Wohnung, wir sprachen über biographische Bezüge ihrer Arbeit, die nicht nur Brücken zur Psychologie und Philosophie schlägt, sondern auch aktuelle Befunde der Neurowissenschaften einbezieht.
Paula Muhrs Arbeiten verzaubern, verstören, regen an und hinterfragen. Interessant an ihren Arbeiten ist vor allem, dass sie auch unabhängig von jedem theoretischen Hintergrund erfahren werden können. Das heißt: Paula Muhr bietet zwar Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Inhalten an, überlässt jedoch den Betrachtern, auf welchen Wegen sie mit den Arbeiten kommunizieren wollen.
Im folgenden Beitrag werden Hintergründe zu einigen ausgewählten Arbeiten vorgestellt. Es sei allerdings den Lesern überlassen, ob sie sich mit Text und Bild auseinandersetzen möchten oder die Arbeiten frei vom konzeptuellen Hintergrund auf sich wirken lassen wollen.
Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Fragen zur Konstruktion von Identität. Als Paula Muhr nach Deutschland kam, sah sie sich mit einem Land konfrontiert, in deren Sprache sie sich anfangs nicht frei ausdrücken konnte. Sie begann zunächst, die Verbindung zwischen Sprache und Gefühl sowie die Rolle des Umfelds zu erkunden.
Eine ihrer ersten Arbeiten, die in diesem Zusammenhang entstand, war „Etat normal“. Zentraler Bestandteil dieser Arbeit waren Selbstportraits, die in unterschiedlichen Momenten der Ekstase entstanden, in denen die Künstlerin keine Kontrolle über ihren emotionalen Ausdruck hatte.
Auf den Selbstbildnissen sieht man deformierte Gesichtszüge und Grimassen, die nicht eindeutig einem Gefühlsausdruck zuzuordnen sind, sondern eher gemischte Gefühle wiederspiegeln. Die Serie hinterfragt damit, inwieweit die Fotografie authentische Bildnisse produzieren kann, da die Persönlichkeit eines Portraitierten häufig nicht von ihrer Wirkung im Kontext eines Umfelds substrahiert werden kann. Paula Muhr erklärt genauer:
Ziel dieser Arbeiten war es, Selbstportraits zu erzeugen, die sich semantisch jeder einfachen und eindeutigen Interpretation entziehen. Damit wollte ich die Unlesbarkeit von gemischten oder komplexeren Gefühlen thematisieren. In der psychologischen Forschung wird häufig von den sechs Basisemotionen gesprochen (das heißt Freude, Angst, Ärger, Schuld, Scham, Überraschung). Menschen erleben allerdings in komplexen Situationen häufiger gemischte, anstatt eindeutig zuordenbare Gefühle. In meiner Arbeit wollte ich auf diese Diskrepanz zwischen Realität, Wissenschaft und Bild hinweisen. Tatsächlich ist es sehr schwer oder fast unmöglich, komplexe emotionale Zustände an Gesichtern oder der Fotografie eines Gesichts eindeutig zu identifizieren.
Paula Muhr erweiterte die Serie, indem sie Portraits entwickelte, die nach Vorgaben ihrer Mutter entstanden. Auf diesen „Nullportraits“ bestimmte ihre Mutter, dass sie sich konservativ anziehen und nicht lachen solle. Inhaltlich geht es darum, zu bestimmen, wo Identität anfängt beziehungsweise aufhört, das heißt, wer wir durch die Existenz des Anderen sind. Es geht aber auch um Abgrenzung von Identitätsvorgaben und wie man die eigenen Interessen, Wünsche, Ziele unabhängig von Anderen ausleben und gestalten kann.
Paula Muhr löst diesen Konflikt über das Mittel der Collage. Sie greift in die entstandenen Portraits ein, indem sie sich dem Willen ihrer Mutter auf gewisse Weise widersetzt. Die emotionslosen Augen ersetzt sie durch emotionsvollere Augen eines anderen Selbstportraits. Der neutrale Mund wird durch einen lachenden Mund ersetzt. Auf diese Weise gewinnt die Künstlerin Kontrolle über ihre eigene Identität zurück. Diese Selbstportraits in Momenten der Ekstase, Portraits nach Vorgabe ihrer Mutter sowie die zerstörten Nullportraits bilden eine Arbeit, da sie die Formierung von Identität in Abhängigkeit von äußeren Quellen kritisch beleuchten.
Von diesen Selbstportraits ausgehend, begann Paula Muhr über historische Emotionskonzepte in Bezug zu Geschlechterverhältnissen zu forschen. Dabei stieß sie auf Arthur MacDonald, der 1885 das Buch „Abnormal Woman“ publizierte. Interessanterweise war MacDonald kein Wissenschaftler, sondern pflegte eine gewisse Leidenschaft für wissenschaftliche Erkenntnisse und führte psychologische Experimente fernab von ethischen Konventionen als Hobbywissenschaftler durch.
MacDonald postulierte, dass Gefühle der Liebe bei Frauen zu Wahnsinn führen. Er definierte Liebe als Zustand der Obsession und eines Deliriums, der sich in borderline-typischen Gefühlsschwankungen zeige. Er ging davon aus, dass Männer, im Gegensatz zu Frauen, charakterstärker und für intensive Gefühlsregungen unempfänglicher seien.
Um seine Hypothesen zu überprüfen, rekrutierte er Frauen über Kontaktanzeigen, in der er als „Mann höherer sozialer Klasse“ nach Frauen suchte, die ihm offen über die eigene Person Bericht erstatten. Im Prinzip verschleierte er sein Forschungsvorhaben im Rahmen einer uneindeutig formulierten Kontaktanzeige.
Tatsächlich fand er Frauen, die sich für seine Forschung zur Verfügung stellten. MacDonald vermaß den Körper und die Reflexe der Frauen, aber auch ihre Reaktionen auf Druck und Schmerz. Paula Muhr nimmt auf diese historische Quelle Bezug und portraitiert den weiblichen Körper mit Nadeln gespickt. Die Fotografien entwickeln durch ihre Konzeption malerisch-sinnliche Ästhetik, und hinterfragen die rationale, erkenntnistheoretische Kraft der pseudowissenschaftlichen Erkenntnisse von MacDonald.
Um die Serie noch stärker in einen zeitgenössischen Kontext zu transportieren, bat Paula Muhr Frauen aus heutiger Sicht auf die Kontaktanzeige zu antworten. Zusätzlich bat sie einen Mann in der Funktion eines Ghostwriters aus der Perspektive einer Frau auf die Anzeige zu reagieren. Diese Antworten, die sie durch eine computergenierte Stimme wiedergibt, kombiniert sie mit filmischem Material aus „How a French Nobleman Got a Wife through the New York Herald ‚Personal‘ Column“ (1904).
Die Geschwindigkeit des Films ist so adjustiert, dass eine hypnotische Stimmung erzeugt wird. Die Verlangsamung des Tempos und durch die Montage mit der computergenerierten Stimme wird absichtlich ein Komik-Effekt erzeugt. Die Montage wirkt also ein bisschen slapstick-artig und ist von einer Art schwarzem Humor geprägt.
Paula Muhr hinterfragt damit historische und zeitgenössische Zuschreibungen der Persönlichkeit von Frauen sowie die Definition von Krankheit in medizinisch-psychologischen Abhandlungen des 19. Jahrhunderts.
Bei ihren weiteren Recherchen stieß Paula Muhr auf psychoanalytische und medizinische Schriften sowie neurologische Dokumente über Hysterie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In ihrer Serie Double Flowers erweitert sie die Annäherung an historische Wirklichkeitskonstruktion anhand des Beispiels „weiblichen Wahnsinns“.
Der Titel Double Flowers bezieht sich auf eine Bezeichnung Joseph Breuers, in der Hysterikerinnen als Beispiel für verführerische weibliche Abnormität dargestellt werden. Das Projekt nutzt Originalfotografien hysterischer Patientinnen der Nervenanstalt Salpêtrière in Paris zwischen 1870 und 1905, die zum Zwecke der Katalogisierung von Erscheinungsformen der Hysterie erstellt wurden.
Die historischen Abbildungen weiblicher Patientinnen wurden mit Gegenständen, Pflanzen und Tiere collagiert, um die symbolische Bedeutungen der Ikonografie der Stilllebenmalerei zu berücksichtigen. Behutsam schmiegen sich Weidenblüten, Insekten, Hase und Hummer an den Körper der Frauen, eine Mooslandschaft bedeckt den weiblichen Schoß.
Durch die Neukombination wurde die ursprüngliche Bedeutung der Pathologien aufgehoben und die Portraits erhalten eine neue ikonografische Bedeutung. Paula Muhr stellt damit die Codes von Abnormalität in Frage. Durch die lebensgroße Darstellung der Portraitierten erhalten die abgebildeten Frauen ihre Persönlichkeit zurück, die in den ursprünglichen medizinischen Abhandlungen entmenschlicht wirken.
Des Weiteren wird die Rolle der Fotografie in wissenschaftlichen Abhandlungen kritisch diskutiert. Paula Muhr erklärt, dass man die Abbildungen in medizinischen Handbüchern zur Hysterie heute ohne den angehängten Text nicht mehr verstehen kann. Auf vielen Portraits ist der zugeschriebene Wahnsinn nicht wirklich kenntlich.
Dieses Projekt unterstreicht, dass die Definitionen von psychischen Störungen immer vor dem Hintergrund einer Zeitgeschichte wirken und demnach variabel sind. Vor dem Hintergrund aktueller Debatten um das DSM-5 (ein Handbuch psychischer Störungen) sind die Arbeiten von Paula Muhr hochaktuell.
Die Arbeit von Paula Muhr hat nicht nur durch diesen aktuellen gesellschaftspolitischen Bezug ein Alleinstellungsmerkmal. Ihre Arbeiten erinnern mich an die Konzeptkunst von Sophie Calle, gepaart mit der Aussagekraft der performativen Arbeiten der aus Belgrad stammenden Performancekünstlerin Marina Abramovic. Ihre Projekte bestechen nicht nur durch die feinfühlige Analyse menschlichen Erlebens und Verhaltens, sondern auch durch die ausgewählten ästhetischen Gestaltungsprinzipien.
Wer sich näher mit der großartigen Kunst von Paula Muhr beschäftigen möchte, sei eingeladen ihre Webseite oder eine ihrer kommenden Ausstellungen zu besuchen.