Gründe für die Straßenfotografie
Ich habe versucht, zu ergründen, warum ich Fotos von Fremden mache, anstatt von meiner Familie oder Freunden. Von Menschen, zu denen ich keinerlei persönliche Beziehung habe, die die Bilder wahrscheinlich nie sehen werden und möglicherweise noch nicht einmal gutheißen würden, wenn sie sie zu Gesicht bekämen.
Ich erinnere mich an das erste Mal, ich war noch ein Teenager, meine Mutter war irritiert und fragte mich: „Warum verschwendest Du Dein Geld für Filmentwicklungen, wenn auf den Bildern niemand zu sehen ist, den Du kennst?“
Darauf hatte ich keine befriedigende Antwort, ich hatte mir darüber nicht mal Gedanken gemacht. Eigentlich ging es nur darum, Bilder von Leuten zu machen, ohne dass sie das merkten, um mehr ging es mir nicht. Am Ende war das aber auch nur eine Phase, die schnell verging, für lange Jahre schlummernd.
2012 fühlte ich mich gelangweilt von den immer gleichen Bildern von Familie und Freunden und den üblichen Urlaubsschnappschüssen und ich erinnerte mich an den Bildband von Henry Cartier-Bresson, den ich von meinen Kollegen zum Abschied geschenkt bekommen hatte, als ich den Job wechselte.
Das Buch weckte diese schlafende Leidenschaft und ich war Feuer und Flamme. Das dringende Bedürfnis, wieder auszugraben, was an künstlerischem Ehrgeiz vielleicht noch in mir verborgen war, brachte mich wieder zu dieser speziellen Obsession, der „heimlichen Fotografie“.
Jetzt, nachdem ich über Jahre hinweg in vier verschiedenen Ländern fotografiert habe, finde ich mich wieder auf einer harten, ziemlich dünnen Matratze in einem kleinen Hochhaus-Appartement in Chengdu und ich frage mich: Hat sich irgendetwas geändert? Warum Bilder von fremden Menschen?
Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass es zur Sucht geworden ist. Oft ist das Befriedigen des Dranges wichtiger, als die Ergebnisse zu sehen, die sehr enttäuschend sein können, speziell, wenn ich mich mit den herausragenden Werken anderer Fotografen in dieser Disziplin vergleiche.
Aber Droge ist Droge, egal wie gut oder schlecht ich mich am Ende fühle. Ich wache mit der Sucht auf, gehe mit ihr zu Bett und ich bin dankbar dafür! Du kommst in diesen Rhythmus: Gehst raus, um das Bild zu machen, kommst heim, ziehst Dir das Ergebnis rein und wenn die Droge wirkt, dann wirkt sie richtig, das Ergebnis macht Dich sehr zufrieden, zumindest für eine Weile, dann lässt die Euphorie langsam nach und dann musst Du wieder raus, versuchst, es besser zu machen, versuchst aus der Vergangenheit zu lernen, etwas Neues zu schaffen, aufregend, andersartig, etwas, das wirklich aus Dir kommt.
Warum also Fremde? Die einleuchtendste Antwort ist, dass ich fasziniert bin von Menschen und ihren Lebensumständen. Also, warum sollte man sich nicht auf die konzentrieren, die man nicht kennt, schließlich können sie genauso interessant, lustig, verrückt, schön, vorhersehbar (oder auch nicht) sein, wie all meine Freunde oder meine Familie, wenn nicht sogar mehr!
Mich interessieren auch Verhaltensmuster, speziell über verschiedene Kulturen hinweg, genauso wie die Unterschiede, die man finden kann. Humor, Ironie, das Absurde, Tragödien und alles, was man für skurril halten könnte, berührt mich stark. Ich mag dieses Wort: skurril, das bringt es auf den Punkt.
Farbe ist wichtig, schwarzweiß habe ich begonnen, aber ich habe die Farbe lieben gelernt, die Möglichkeiten, die sie mir bietet, eine ansprechende Ästhetik in meinem Werk zu entwickeln.
Eine wirklich schlüssige Antwort, warum ich all das mache, kann ich nicht bieten. Der Gedanke, die Kamera nicht zur Hand zu nehmen und zu fotografieren, ist mir unbequem, das würde eine große Leere in mir hinterlassen. Vielleicht ist das der wahre Grund für diese, für meine Obsession.
Dieser Artikel wurde von Tilman Haerdle für Euch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.