Eine ältere Frau mit weißen Haaren und rot geschminkten Lippen schaut versunken weg.
26. August 2014 Lesezeit: ~9 Minuten

Dianna

Léonard fühlt sich unwohl unter Menschen, wirkt schüchtern und fühlt sich oft einsam. Dianna hingegen ist lebendig, im Umgang mit anderen Menschen offen und warmherzig. Dianna hat 55 Jahre als Léonard gelebt, bis sie sich dazu entschloss, die Person zu sein, die sie wirklich ist. Ein dokumentarisches Projekt des Fotografen Sander Marsman.

Sander Marsman habe ich über einen gemeinsamen Freund kennengelernt und eher durch Zufall sind wir auf das Thema Fotografie zu sprechen gekommen. Sander erzählte mir, dass ihn vor allem die fotografische Auseinandersetzung zu Themen der Identitätskonstruktion, als Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“, interessieren.

An einem Abend drückte er mir dann ein Buch in die Hand, das seine Abschlussarbeit an der Kunsthochschule an der Royal Academy of Art in Den Haag darstellte und die bewegende Geschichte von Dianna erzählt.

Ein Selbstpotrait einer Frau mit weißen Haaren in einem schwarzen enganliegenden Rock.Eine Frau mit blondem Bob, im Wohnzimmer stehend.

Dianna ist heute 79 Jahre alt und wirkt auf den Fotografien einige Jahre jünger. Das mag daran liegen, dass Dianna rein rechnerisch in ihren Zwanzigern steckt, denn Dianna hieß bis zum 55. Lebensjahr Léonard. Das Fotobuch von Sander Marsman beinhaltet Fotografien, die Dianna über Jahrzehnte von sich selbst gemacht hat:

Dianna im roten Top und schwarzen Rock.
Dianna im schwarzen, schulterfreien Kleid.
Dianna im hellblauen Kleid.
Dianna in der Öffentlichkeit.

Dianna sitzt in einem blauen Kleid auf dem Boden und schaut zur Kamera.Dianna sitzt auf einer Wiese und um sie herum eine ganze Menge Menschen.

Diese Fotos hat sie in einem Album aufbewahrt und unter Verschluss gehalten. Dianna existierte nur auf diesen Fotos, denn im realen Leben hatte Léonard eine Familie zu versorgen und konnte Dianna keinen Platz einräumen.

Besonders daran ist, dass Dianna in einer Zeit „Selfies“ von sich selbst angefertigt hat, in der man noch analog fotografierte. Die richtige Position im Bild zu finden, war nicht immer einfach (und im Zweifelsfall teuer). Die Selbstportraits könnte man als Möglichkeit verstehen, dass Dianna sich davon überzeugen wollte, dass sie tatsächlich existiert; auch dann, wenn Léonard den Alltag bestreiten musste.

Dianna schminkt sich.

In einem zweiten Teil des Buches befinden sich dokumentarische Fotos von Sander Marsman, in denen er Dianna beim Morgenritual begleitet. „Every day is dressed up“ lautet der Titel des Buches (ein Zitat von Dianna), der diesen Prozess treffend beschreibt.

Die Fotografien beschreiben die Rituale zur Unterstreichung der zu diesem Zeitpunkt bereits eroberten eigenen Identität. Diese dokumentarischen Fotos sind anders als die Selbstportraits von Dianna. Sie sind nicht gestellt, drapiert oder geschönt. Man sieht alternde Haut, aber auch lebendige Augen. Starke Farben, die betont Weiblichkeit nachzeichnen, lassen nachvollziehen, wie schwer es Léonard gefallen sein muss, seine Tage „schauspielernd“ zu bestreiten.

Dianna zeigt ihren Oberkörper.

Bereichert wird das Buch durch eine Aufzählung der 220 Kleidungsstücke, die Dianna besitzt, sowie Tagebuchaufzeichungen aus dem Jahr 2012. Ein Auszug:

Dress 23in 060cm Blue-black strapless
Dress 24in 061cm Black Rosie
Dress 24in 061cm White-blue with belt
Dress 25in 064cm Spring off shoulder with slip and belt
Dress 25in 064cm Green
Dress 25in 064cm Mauve
Dress 26in 066cm Blue pinafore§

Die Haut am Unterarm wird mit zwei Fingern zusammen geschoben.

Aus den Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass Kleidung eine ganz besondere Rolle bei der Manifestierung der eigenen Identität von Dianna spielt. Dianna schreibt nicht nur nieder, wo sie wann war, sondern auch, was sie an den jeweiligen Tagen trug. Diese Aufzählungen haben einen obsessiven Charakter, die wahrscheinlich nur ein Mensch nachvollziehen kann, der jahrelang gesellschaftliche Rollen ausfüllen musste, die zu eng und unbequem sind.

Im Verlauf des Projekts hat Sander Marsman auch ein Video gedreht, das Dianna beim Rasieren zeigt. Ähnlich wie die Tagebuchaufzeichnungen, ist das Rasieren für sie ein tägliches Ritual. Jeden Tag zählt sie exakt achzig Rasierbewegungen, die vielleicht als eine Möglichkeit zur zwanghaften Kontrolle gesehen werden könnten, wo lange keine Kontrolle über das eigene Leben möglich war.

Wenn man auf die letzte Seite des Buches blättert, entdeckt man ein Foto von einem grau wirkenden alten Mann in Uniform. Die Haare wirken wild und der Gesichtsausdruck leer. Man muss tatsächlich zwei Mal hinschauen, um Züge von Dianna darin zu erkennen.

Daneben ist ein herausnehmbares Foto von Léonard in jungen Jahren. Ein schöner Mann, der gleichfalls traurig und abwesend wirkt. Dass man dieses Foto herausnehmen kann, war Dianna wichtig, erzählt Marsman, weil sie sich heute mit der dort abgebildeten Person nicht mehr identifizieren kann und ungern an diese Zeit erinnert werden möchte.1

Ein weißer Fön liegt auf dem Schoß einer Frau.

Wenn Sander Marsman versucht, Dianna als Mensch zu beschreiben, zeichnet sich auf seinem Gesicht immer noch ein waghalsiger Versuch des Enträtselns und ein Moment der Faszination ab. Er berichtet, wie lebendig, charmant und präsent Dianna ihm erschien und auch, was sich während dieser Zeit bei ihm bewegte.

Er erzählt, dass er mit seinem Projekt die Frage diskutieren wollte, wer wir fernab von sozialen Konventionen sind und ob Gesellschaft „echte“ Individualität, also ein Anderssein, zulässt. Der Wunsch nach Individualität und der Wunsch nach Zugehörigkeit sind bei den meisten Menschen beiderseits stark ausgeprägt. Das heißt, dass jeder Mensch sein Äußeres frei gestalten kann.

Wenn bestimmte Merkmale jedoch mit einer starken Abweichung von der Norm einhergehen, die ggf. sogar zum sozialen Ausschluss führen, kann das für das Individuum als sehr schmerzhaft erlebt werden. Wir können uns verrückt kleiden, tätowieren oder mit Schmuck behängen. Wiegt man jedoch einige Kilo zu viel, überschreitet die 2-Meter-Körpergrößengrenze oder steckt im falschen Körper fest, eckt man mit erhöhter Wahrscheinlichkeit bei anderen an.

Dianna beim schminken.

Tatsächlich zeigen Studien, dass normkonforme (z.B. beispielsweise „schöne“) Menschen leichter in bestimmte Berufsfelder gelangen oder in gewisser Hinsicht auch mehr Erfolg bei der Partnerfindung haben. Transgender-Personen haben es hier besonders schwer, im Konformitätswahn zu bestehen.2

Insbesondere dann, wenn die eigentliche Identität sehr spät vollkommen angenommen wird, ist es schwieriger, das biologisch ausgeprägte Geschlecht gekonnt zu maskieren.

Dianna beim anziehen, sie sitzt auf einem Stuhl und hat eine Strumpfhose an.

Geschlecht, so erzählt Marsman, wird in unserer Gesellschaft immer noch als Dichotomie gesehen. Zwischen den Polen männlich und weiblich existiert jedoch eine Grauzone, die häufig den Stempel „außerhalb des Normbereichs“ erhält und weitestgehend auf wenig Akzeptanz stößt.

Sander Marsman berichtet weiter, dass das Denken in Dichotomien, also in männlichen und weiblichen Geschlechtern, das Leben auf den ersten Blick vereinfacht, denn die darin verankerten Rollenmuster und Verhaltensweisen strukturieren das Zusammenleben.

Andererseits lässt es jedoch außer Acht, dass eine „Aufweichung“ solcher Zuschreibungen enorme Freiheiten mit sich bringt. Vor allem birgt es die Möglichkeit, genau so zu leben, wie man es möchte und so zu sein, wie man sich fühlt. In diesem Sinne kann man sagen, dass Menschen, die sich gegen ihr biologisch bestimmtes Geschlecht entscheiden, eine Vorreiterrolle bei der Aufweichung (auch anderer) festgesetzter, gesellschaftlich tradierter Konventionen, einnehmen. Oder, wie Sander Marsman es beschreibt:

Jeder lebt in gewissem Sinne in einem Käfig. Nur ist dieser nicht immer für alle sichtbar.

Dianna fönt sich die Haare und sitzt vor einem Tisch, auf dem ihr Geschmeide liegt.

Dass Geschlecht eher auf einem weiteren Spektrum beschreibbar ist, belegen auch Aufzeichnungen aus verschiedenen anderen Kulturen. In indianischen Kulturen hatten die „Two-Spirits“ (Menschen, deren Erleben und Verhalten dem anderen Geschlecht zuzuordnen ist) beispielsweise eine besondere Stellung.

Dem „dritten Geschlecht“ wurden sogar besondere Kräfte und Eigenschaften zugesprochen. Dieses Beispiel unterstreicht, dass der Umgang mit Geschlechtern innerhalb verschiedener Gesellschaften und über Zeiträume hinweg sehr unterschiedlich sein kann. Das heißt auch, dass gängige Definitionen von Norm stetigen Veränderungen unterworfen sind.

Sander Marsman berichtet:

Die Akzeptanz von Transgender-Personen ist heute auf dem gleichen Stand, auf dem sich die Homosexuellenbewegung in den 70er Jahren befand.

Es bleibt daher zu hoffen, dass sich die Akzeptanz von Transgender-Personen langfristig wandelt. Transsexualität ist heute stärker enttabuisiert als zu Léonards Zeiten.

Vielerorts ist es heute möglich, die Pubertät von Heranwachsenden zu stoppen und eine Hormontherapie dann einzuleiten, wenn transidente Gefühle über einen längeren Zeitraum benannt werden. Unter Diskriminierung leiden jedoch auch heute noch viele Menschen, deren biologisches dem psychologischen Geschlecht widerspricht. Schon allein die Tatsache, dass im ICD-10 (einem Klassifikationssystem für psychische Störungen) Transsexualität als „Störung“ aufgeführt wird, ist bezeichnend.

Wir sehen das Buch und auf dem Cover das Profil von Dianna.

Dass Dianna und andere diesen Mut gefunden haben, sich von äußeren und inneren Zwängen zu lösen, verdient eine große Portion Respekt. Die Art und Weise, wie Sander Marsman uns die Geschichte von Dianna erzählt, auch.

Wer sich näher mit der Geschichte von Dianna auseinandersetzen möchte, kann eines der Fotobücher direkt beim Fotografen bestellen (30 €, Auflage von 250, handsigniert von Dianna).

Anmerkungen:

1 Wir verzichten aus diesem Grund auf das Zeigen von Bildern von Léonard. Wer sich mit dem kompletten Bildband beschäftigen möchte, kann bei Sander Marsman ein Exemplar bestellen.

2 Im vorliegenden Artikel werden die Begriffe Transsexualität, Transgender, Transvesititismus aus Platzgründen nicht definiert. Interessierte Leser können unter Transsexuell nachlesen.

5 Kommentare

Die Kommentare dieses Artikels sind geschlossen. ~ Die Redaktion

  1. Es ist zu spüren, dass derjenige, der den Text geschrieben hat, nicht versteht, was „Transsexualität“ bedeutet. Wenn ein Mädchen mit vermännlichten Körpermerkmalen geboren wird, dann heisst das nicht, dass es ein Junge ist, der sich non-konform verhält, sondern, dass da ein Mensch ist, der bereits von Geburt an dem Spektrum geschlechtlicher Vielfalt angehört, da dieser Mensch für seine Vermännlichung nichts kann. Was sich im Aussen zeigt ist also nicht das Resultat irgendwelcher Tätigkeiten, sondern das Ergebnis dessen, was passiert, wenn man einem Mädchen zu viel Testosteron zuführt: Es vermännlicht.

    „Transgender“ oder „Trans*“ heisst in der Tat genau das Gegenteil davon. Da würde dann die Aussage stimmen: Es gibt Menschen, die in einem Geschlecht geboren werden, aber dann mittels des Aktes des Gender-Übertritts sich dazu entscheiden in einem anderen als dem ihren angeborenen Geschlecht zu leben.

    Es ist ziemlich ärgerlich, wenn das immer wieder durcheinander gebracht wird. Wer Vielfalt anerkennen will, sollte in der Lage sein sie auch als Vielfalt zu begreifen. Es gibt geschlechtliche Abweichungen, die mit „gender expressions“ zu tun haben (Transgender) und es gibt Abweichungen, bei denen sich die Menschen, die es betrifft, völlig darüber im Klaren sind, dass ihre geschlechtliche Besonderheit angeboren ist.

    • statt zu schreiben: „…Es ist ziemlich ärgerlich, wenn das immer wieder durcheinander gebracht wird…“ kann man das auch einfach erklären.
      Wer nicht selbst betroffen ist, für den ist es nicht einfach, sich in dieser Vielfalt exakt zurechtzufinden; auch wenn das die Betroffenen nicht verstehen; es ist in der heutigen Zeit immerhin ein deutlicher Fortschritt, dass inzwischen überhaupt hierüber in der Öffentlichkeit gesprochen wird. Da braucht es eben noch „ein paar Jahre“, bis auch für die Mehrheit die Begriffe klar sind und nichts mehr durcheinander geschmissen wird. – Geht mir in meinem Beruf auch täglich so…

    • Liebe Kim Schicklang,

      dass das Thema insbesondere bei Betroffenen starke Emotionen auslöst, kann ich gut nachempfinden. In diesem Sinne freue ich mich über Anregungen und Hinweise.

      Zur Begriffsverwendung: Sander hat den Text vorab gelesen und die Begriffsverwendungen so abgesegnet. Er hat mich damals auch darauf hingewiesen, dass sich Dianna selbst nicht auf ein Label festlegen will bzw. dass es über die Zeit hinweg diesbezüglich Schwankungen und Veränderungen gibt, was es auch nicht ganz einfach gemacht hat, durchweg mit einem einheitlichen Terminus zu operieren. Die Definition, die Du hier aufführst, weicht von denen, die ich aus dem DSM-IV-TR und ICD-10 (Klassifikationssysteme) kenne, ab; aber ich überprüfe das nochmal kritisch. In diesem Sinne danke nochmals für Deinen Kommentar.

      VG,
      Kat Kapo

  2. ich finde es toll das dianna es geschaft hat ihr leben soweit wie möglich zu leben, es ist halt schwer in der gesellschaft, auch wenn man nur eine kleine behinderung hat, wird man diskreminiert
    lg

  3. Hallo,
    vielen Dank für diesen Artikel. Ich denke, Transgender ist ein Thema, für das wir noch viel zuwenig Aufmerksamkeit und Sensibilität zeigen. Angeregt durch diese Fotos erlaube ich mir an dieser Stelle auf ein Foto- und Textprojekt der Hamburger Fotografin Kathrin Stahl hinzuweisen, das den Titel „Sören ist Sophie“ trägt und wirklich sehr berührende Einblicke in das Leben transidenter Menschen gewährt. Schaut euch die Fotos einfach mal an…
    http://blog.kathrinstahl.com/category/transgender_fotoprojekt/

    LG Tina