Zwischen Autobahn und Tagebau
Es ist oft nur ein ganz kurzer Moment, ein Blick im Vorbeifahren, ein Satz im Radio, eine Zeile in der Zeitung oder ein Bild im Internet, das meine Aufmerksamkeit weckt. Es setzt etwas in Bewegung und lässt mich nicht mehr los. Vielleicht eine angeborene Neugier, die mich antreibt, die in mir den Wunsch weckt, tiefer blicken zu wollen und die dafür sorgt, dass ich mich monatelang mit einem Thema beschäftige.
Ich habe mich bei meiner Arbeit in den letzten Jahren immer wieder gefragt: Wie leben Menschen unter besonderen Bedingungen? Ich war in einem Gefängnis und in einem Asylbewerberheim. Ich habe mich gefragt: Wie leben Menschen entlang einer Autobahn? Oder eben auch: Wie leben sie mit einem Tagebau?
Alle Menschen, die ich dabei kennen gelernt und fotografiert habe, hatten etwas gemeinsam: Sie passen ihr Leben jeden Tag an Umstände an, die uns zunächst fremd sind, die wir auf den ersten Blick nicht verstehen können, die uns vielleicht sogar unwirklich, abstoßend, bedrohlich oder skurril erscheinen. Für diese Menschen sind sie aber normal geworden, sie haben sie angenommen und sich damit arrangiert. Mich interessieren genau diese Menschen und diese Lebensumstände – und wie sie einander prägen.
Zwischen Mensch und Landschaft gibt es dabei eine tiefe Verbundenheit: Die Landschaft prägt den Menschen, der in ihr lebt und gleichzeitig prägt auch der Mensch die Landschaft. Es ist eine Symbiose, deren Verbundenheit oftmals an ihren Widrigkeiten noch stärker wird. Der Mensch und seine Umwelt scheinen mir unzertrennlich. Fast immer bestehen daher auch meine Arbeiten aus Portraits und Landschaften im weitesten Sinne.
Dabei ist es egal, an welchem Thema ich arbeite. Ob ich an der A40 stehe und Tausende von Autos an mir vorbeirasen oder ob ich vor einem 250 Meter tiefen Loch stehe, das ein Bagger langsam durch die Landschaft gräbt. Die Fragen, die ich mir stelle, bleiben gleich: Wer lebt hier und wie lebt er hier? Wie sieht seine Umwelt aus und wie wirkt sie auf ihn ein?
Viele Monate lang beschäftigte ich mich mit der A40 und mit dem, was ich hinter den Schallschutzwänden fand. Ich nahm jede Ausfahrt, lief die Strecke auf und ab, immer auf der Suche nach dem, was man im Vorbeifahren nicht sieht. Was ich fand, waren teils skurrile Landschaften, die uns zeigen, wie sehr sich der Mensch arrangieren kann und wie er sein Leben an diese Umstände anpasst. Er macht Campingurlaub im Schutze der Schallschutzwand, er weidet seine Kühe unter der Autobahnbrücke, er geht schwimmen im Dunst des Verkehrs und selbst aus dem Grab blickt manch einer noch Richtung Autobahn.
Die Menschen, die ich traf, fanden das nicht ungewöhnlich. Sie haben sich so sehr daran gewöhnt, dass sie den Lärm gar nicht mehr hören. Ich suchte unter ihnen nach einem Querschnitt durch das Ruhrgebiet und fand die unterschiedlichsten Typen: Vom Kleingärtner in Bochum über den Studenten in Essen bis hin zum Pferdebauern in Moers waren für mich alle gleich interessant. Aus Landschaften und Portraits entstand so ein Gesamtbild, das für mich das Gefühl einer ganzen Region widerspiegelt.
Mit Unterstützung der RWE Stiftung bekam ich dann die Möglichkeit, eine neue Arbeit anzufertigen. Ich entschied mich für das Thema „Tagebau“, ohne zunächst eine Ahnung von dessen tatsächlichen Ausmaßen zu haben.
Als ich dann zum ersten Mal im Tagebau Garzweiler und in den angrenzenden Gebieten unterwegs war, wurde ich von den Eindrücken und von der Größe dieses Projektes beinahe erdrückt. „Hier wird der Tagebau in den 40er Jahren sein“, sagte die Begleitperson, die mir am ersten Tag zur Seite stand. Wir befanden uns weit ab vom jetzigen „Loch“. In den 40er Jahren? Es hörte sich an, als spreche sie von der Vergangenheit, doch sie meinte die Zukunft.
Noch heute ist mir die Logistik dieses monumentalen Eingriffs ein Rätsel und jedes Mal, wenn ich dort war, hatte ich das Gefühl, der Wirklichkeit entkommen zu sein. Alles scheint irreal, fast surreal, wie in einem Film oder Traum. Die Empfindung für Zeit und Größe verschiebt sich, denn hier herrschen andere Dimensionen.
Nachdem ich die ersten Eindrücke verarbeitet hatte, kamen schnell wieder dieselben Fragen in mir auf, die mich auch sonst beschäftigen. Sie dienten mir als Orientierung in dieser fremden Welt:
Wer lebt hier und wie tut er das? Welche Aufgaben hat der Mensch hier? Wie sieht seine Umwelt aus und wie wirken Mensch und Umwelt aufeinander ein?
Wichtig war mir dabei, verschiedene Positionen deutlich zu machen. Nur die alte, für den Tagebau geopferte Welt zu zeigen, wäre mir zu einfach gewesen. Und es wäre auch schlichtweg falsch. Es werden Orte abgerissen – es werden aber auch neue, moderne Orte erschaffen. Die Umwelt wird angegriffen, aber es wird Energie gewonnen, die wir benötigen. Ich habe Menschen gesprochen, für die ihre Umsiedlung ein schlimmes Ereignis war, aber ich habe genauso mit Menschen gesprochen, die sich über ihre neue Heimat freuen. Es gibt beide Seiten und das zeigen auch meine Bilder.
Egal, ob ich in einem verlassenen Ort durch die leeren Straßen lief, ob ich am Rande des Tagebaus vor dem gewaltigen Bagger stand oder ob ich die Neubausiedlung durchquerte: Es herrschte immer und überall eine besondere Atmosphäre. Sie ist schwer zu beschreiben, es liegt einfach etwas in der Luft, von dem ich hoffe, es mit meinen Bildern transportieren zu können.
2012 erschien mein Buch „Tagebau“ im Kettler-Verlag. Darin fasse ich die ganze Arbeit zusammen und zeige einen umfassenden Blick auf die verschiedenen Aspekte rund um Garzweiler II. Das Buch kann direkt bei mir zum Vorzugspreis erworben werden, Bestellung über meine Homepage. Vor Kurzem wurde die Arbeit nun mit dem Felix-Schoeller-Award für Landschafts- und Naturfotografie ausgezeichnet.