Bildvorstellung: why do birds…?
Wie entsteht ein Bild? Aus gegebenem Anlass konnte ich den Prozess einmal genau verfolgen und in Form eines Kurztagebuches festhalten.
Montag, 17. Juni: Heute erscheint die vorletzte Bildvorstellung unserer kleinen Serie. In einer Woche bin ich dran und aus verschiedenen Gründen habe ich noch gar kein Bild dafür parat.
Die letzten Monate waren vor allem mit anderen Dingen gefüllt, aber nicht mit Fotografie. Und wenn ich fotografiert habe, dann kleinere Aufträge, um eine Kamera zu testen oder ich fotografierte eine Serie. Überhaupt fertige ich nur sehr selten Einzelbilder an, von Schnappschüssen mal abgesehen, ich denke und arbeite eher in Serien.
Dienstag, 18. Juni: In meinem Ideenbuch gibt es allerdings genug zusammenhanglose Ideen, von denen sich einige auch für Einzelbilder eignen, anstatt sie, meiner Gewohnheit folgend, zu einer kleinen Serie „aufzublasen“. Ich blättere darin herum, greife ein paar heraus und überlege, welcher ich zugeneigt bin und welche überhaupt in den wenigen Tagen noch schnell und gut umsetzbar sind.
Eine davon ist, mit Materialien zu arbeiten, die von unserer Hochzeit – der Hauptgrund, warum ich monatelang nicht zum Fotografieren kam – vor drei Monaten übrig geblieben sind. Mein Brautstrauß ließ sich beispielsweise nicht als Ganzes trocknen, daher habe ich die Blütenblätter und andere Einzelteile getrocknet und aufbewahrt.
Mittwoch, 19. Juni: Während ich programmiere, korrigiere und andere alltägliche Dinge erledige, entwickelt sich der Ansatz einer Idee weiter, es formt sich ein Bild aus den in Frage kommenden Teilen. Am Wochenende habe ich Fotos von Räumen zusammengesetzt und habe jetzt sowieso das überschwängliche Gefühl, in Photoshop alles Beliebige zusammenbasteln zu können.
Dazu kommt meine Begeisterung der letzten Zeit für großartige Fotocollagen, die sich nicht nur auf die Fotografie beschränken, sondern bei Bedarf auch Zeichnung, Malerei, Strukturen und sonstige Elemente mit einbeziehen. Meistens schwarzweiß gehalten, recht dramatisch. So etwas möchte ich auch machen.
Donnerstag, 20. Juni: Dabei sein sollen: Ich im Selbstportrait, der Satinstoff mit den Rostflecken vom Drahtgestell des Brautstraußes, getrocknete Blütenblätter aus dem Strauß und mein Hochzeitskleid. Letzteres wahrscheinlich invertiert, also schwarz.
Für den Hintergrund könnte ich meine Wandtafel benutzen, auf der sich über die Zeit durch ständiges Beschriften und wieder abwischen eine nette, zufällige Kreidestruktur abgesetzt hat. In meiner Vorstellung ist die Komposition dunkel und symmetrisch ausgerichtet. Vielleicht mit einer Art Mehrfachbelichtung, damit es nicht so statisch ist.
Freitag, 21. Juni: Wie geplant baue ich die Kamera mit Stativ gegenüber der Wandtafel auf und probiere eine Weile herum, bis ich eine gute Aufnahmehöhe und -perspektive gefunden habe. So, dass ich mich nicht zu sehr verbiegen muss, gleichzeitig möglichst viel Tafel aufs Bild bekomme und mich in den 10 Sekunden des Selbstauslösers positionieren und die Augenbinde aufsetzen kann.
Ich mache zusätzlich noch ein paar Aufnahmen vom ausgebreiteten Rockteil meines Kleides und lasse abschließend die getrockneten Blätter vom Brautstrauß zwischen Kamera und Wandtafel herunterrieseln, um sie im freien Fall festzuhalten statt irgendwo ausgelegt. So haben sie auch die gleiche Beleuchtung wie meine Selbstportraits.
Samstag, 22. Juni: Eigentlich wollte ich eine Skizze vom Bild in meinem Kopf machen, wo ich den Entstehungsprozess schon einmal so schön festhalte. Aber so richtig ist dafür heute keine Zeit und ich fürchte, es würde mich zusätzlich frustrieren, wenn ich beim Zusammensetzen dann nicht das hinbekomme, was ich aufgezeichnet hatte.
Sonntag, 23. Juni: Die in schwarzweiß konvertierten Bilder hatte ich schon am Freitag nach den Aufnahmen in verschiedenen Belichtungen exportiert, um die stark einseitige Beleuchtung auszugleichen. Nachdem ich das umgesetzt habe, lade ich die fünf Bilder unterschiedlicher Posen (auch eine ohne Augenbinde) als übereinanderliegende Ebenen in Photoshop.
Schnell ist klar, dass sie im Modus „Negativ multiplizieren“ und per Einstellungsebene um mehrere Belichtungsstufen abgedunkelt wie eine Mehrfachbelichtung übereinander liegen sollen. Eine Tafelseite war durch meinen Schatten zu dunkel, also setze ich dort gespiegelte Teile der Bilder noch einmal neu ein.
Ein oder zwei Stunden lang versuche ich, mein Kleid so einzubauen, wie ich es mir vorgestellt habe, aber gegen die durch die Überlagerung unscharf wirkenden Selbstportraits ist es viel zu scharf, es fällt optisch vollkommen heraus und lässt sich durch keinen Effekt näher heranbringen. Also verwerfe ich das Material vom Kleid.
Eher zufällig ergibt sich, dass ich nun die Blätter aus meinen Händen nach oben – anstatt wie geplant nach unten über das jetzt fehlende Kleid – fallen lassen kann. Da hatte ich also Glück, dass mir das verworfene Material keinen kompletten Strich durch die Rechnung gemacht hat.
Am Ende habe ich mehrere Handvoll Ebenen, mit denen ich Details betone oder verschwinden lasse und fallende Blätter aus vielen Einzelbildern eingefügt habe. Dazu kommen unzählige Einstellungsebenen, um hier abzudunkeln, dort aufzuhellen, den Kontrast einiger Ebenen anzuziehen oder das Bild nach oben um ein Stück angesetzten Tafelhintergrund zu erweitern.
Fertig: „why do birds sing when you are near me?“ (Saybia)
Montag, 24. Juni: Ein geglücktes Experiment erfüllt mich immer mit Freude und Stolz. Am schlimmsten ist es, wenn es viel in einem Bild zu entdecken gibt, wie hier. Nicht nur für den Betrachter – auch ich kann es nicht sein lassen, immer noch einmal über das Bild zu streifen und Assoziationen und Formen nachzugehen.
Ich mag, wie meine an den Kopf gehaltenen Hände aus einer Belichtung auf den ersten Blick wie ein Schleier aussehen. Und wie die übereinandergelegten Ebenen ganz weiche Gesichtskonturen zeichnen. Und wie man erst nach vielen Blicken die geöffneten Augen entdeckt, die sich hinter den anderen Belichtungen verstecken.