25. Juni 2013 Lesezeit: ~6 Minuten

Marathon

Die Welt des Langstreckenlaufens blieb mir Zeit meines Lebens fremd. Ich war dem Schmerz nie zugetan und die Beglückungen des oft kolportierten Adrenalinrauschs blieben mir stets versagt. Das erste Mal, dass Langstreckenläufe dennoch mein Interesse erregten, war mit Alan Sillitoes Erzählung „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“* sowie mit Tony Richardsons Verfilmung* der Erzählung.

Wir lasen die Erzählung irgendwann im Englischunterricht und damals sahen wir auch den Film. Ich weiß, dass ich beides mochte. Es war eine angenehme Begegnung mit dem Langstreckenlauf, die sich im Sitzen erleben ließ. Ich glaube, man hat uns damals erzählt, dass der Langstreckenlauf bei Sillitoe eine Metapher für das Leben sei, vielleicht ist das so, wenngleich höchstens eine Metapher für ein Leben voller Qualen und Entbehrungen, wie es der Ich-Erzähler zu erdulden schien.

Und der Ich-Erzähler versuchte redlich, mir Hinweise darauf zu geben, wie die Entbehrungen des Langstreckenlaufs zu ertragen wären: „Denn eigentlich renn ich mit niemandem um die Wette; ich lauf einfach, und irgendwie ist mir klar, wenn ich nicht dran denk, daß es ein Wettrennen ist, und bloß so langtrab, bis ich nicht mehr weiß, daß ich lauf, da gewinne ich jedesmal.“ Und: „Und das alles kann ich, weil ich dabei nachdenke; und ich frag mich, ob ich in der Laufbranche der einzige mit diesem System bin, das Laufen vor lauter Nachdenken zu vergessen (…).“1

Marathon © Jürgen Bürgin

Meine nächste nennenswerte Begegnung mit dem Langstreckenlaufen fand viele Jahre später statt: In Berlin. Dort geht die Laufstrecke des jährlichen Marathons nicht weit an unserer Wohnung in Kreuzberg vorbei. Und hin und wieder besuchte ich die Strecke und sah den Läufern zu. Beinahe gezwungenermaßen, denn eine Marathonstrecke stellt ein schier unüberwindliches Hindernis dar. Die nicht enden wollenden Massen an Läufern halten einen davon ab, zur so nahe scheinenden gegenüberliegenden Straßenseite zu gelangen.

Ein Marathonlauf ist ein verkehrstechnischer Ausnahmezustand: Um von A nach B zu kommen, bedarf es ausgeklügelter Planungen und fundierter Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten. Nun stand ich also am Straßenrand und beobachtete Tausende von Läufern, die alle das eine Ziel hatten: Die 42,195 Kilometer erfolgreich zurückzulegen – wie schnell auch immer, jedenfalls schneller als der von hinten dräuende Besenwagen, der dem Lauf jener, die zu langsam unterwegs waren, irgendwann gnadenlos ein Ende setzte.

Marathon © Jürgen Bürgin

Ich sah in die Gesichter der Läufer, beobachtete ihre Körperhaltung beim Laufen, versuchte einzuschätzen, wie sehr einige bereits an ihr Limit gerieten. Aber was mich am meisten überraschte, war, dass mir die Marathonläufe gar nicht als einsame, einzelgängerische Unternehmung erschienen, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Die Läufer schienen ein Gemeinschaftserlebnis zu durchleben, sie liefen zusammen, man sprach miteinander, winkte dem Publikum zu, trug lustige Kostüme, machte Faxen.

Und irgendwann fing ich an, beim Berlinmarathon zu fotografieren. Irgendwie hatte ich im Sinn, den Schmerz, die Leiden, aber auch die Freude und das Gemeinschaftserlebnis der Läufer abzubilden. Doch eigentlich gelang mir das nicht wirklich – und bald erschien mir das auch zu langweilig. Aber dann fand ich jene Stelle, an der die Feuerwehr Schläuche installiert hatte, mit denen Wasser auf die Laufbahn gespritzt wurde. Die Läufer konnten unter dem Wasserstrahl hindurch laufen und sich abkühlen.

Marathon © Jürgen Bürgin

Und statt das Leiden und die Freude der Läufer zu dokumentieren, versuchte ich fürderhin – und fürderhin bedeutet für die nächsten drei Stunden, in denen ich mich nicht mehr von der Stelle bewegte – meinen Bildern einen abstrakten, verfremdeten Eindruck mitzugeben. Was ich damit meine, ist das Folgende:

Erstens: Das aufspritzende Wasser, die Lichtflecken und die Schatten hinterlassen eine grafische, künstliche Wirkung, erzeugen abstrakte Strukturen. Die Tropfen und Spritzer, die im Licht funkeln, die Schatten der Füße und der Körper erzeugen eine unwirkliche, zeichnerische Bildsprache.

Zweitens: Die Silhouetten der Körper im Gegenlicht wirken wie stilisierte Archetypen von Läufern. Die eingefrorenen Gesten – der nach hinten geworfene Kopf, der angespannte Muskel, die in die Luft gestreckten Arme, die zum Wasser gerichteten Hände – all das sind mehr aufs Äußerliche reduzierte Elemente, die nichts wirklich über die Mühsal der körperlichen Anstrengung erzählen.

Marathon © Jürgen Bürgin

Dieser abstrakte Charakter der Fotos verhalf mir zu einer Erkenntnis: Marathon und Fotografie repräsentieren gewissermaßen zwei diametral entgegengesetzte Konzepte: Bewegung zum einen und das Einfrieren einer Bewegung zum anderen. (Aus-)Dauer einerseits und Sekundenbruchteil andererseits. Körperlichkeit einerseits und rein äußerliche Ästhetik andererseits. Wenn wir die Bilder betrachten, führen wir die Bewegungen in Gedanken fort:

Der Fuß wird gleich den Boden berühren, das Wasser wird gleich aufspritzen, der Läufer wird einen Fuß hinter den anderen setzen, noch viele tausend Mal. Das Bild zeigt Statik, aber unsere Wahrnehmung und unsere Erfahrung erwarten Bewegung.

Marathon © Jürgen Bürgin

Meine Bilder erzählen nichts vom Schmerz, nichts vom Leiden, nichts vom Glück, nichts vom Adrenalinschub. Ich bin dem Verständnis dessen, was die Faszination eines Marathonlaufes ausmacht, keinen Deut näher gekommen. Aber ich habe eine Serie von Fotos produziert, die in ihrer Verfremdung, in ihrer Abstraktion eine Spielerei mit den visuellen Elementen eines Marathonlaufs darstellen. Immerhin.

Und weil ich nicht viel übers Langstreckenlaufen gelernt habe, stattdessen einige abschließende Worte vom Langstreckenläufer aus der Erzählung: „Manchmal denk ich, ich bin noch nie so frei gewesen wie in den beiden Stunden, wenn ich den Weg draußen vor den Toren langtrotte und bei der laublosen, breitbauchigen Eiche am Ende des Heckenwegs wende. Alles ist tot, aber gut, weil’s tot ist, bevor’s lebendig wird, und nicht tot ist, nachdem’s lebendig war.“ 2

Marathon © Jürgen Bürgin

Klingt gut.

  1. Alan Sillitoe: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers. Zürich 1975, S. 66.
  2. S. 12.

24 Kommentare

Die Kommentare dieses Artikels sind geschlossen. ~ Die Redaktion

  1. Auch (oder gerade weil) meine Einstellung zum Thema ähnlich wie die des Autors war, bin ich begeistert vom Text und natürlich auch von den Bildern!
    Klasse!

  2. Grundsätzlich finde ich die Bilder gut! Dennoch fehlt mir der direkte Bezug zum (Langstrecken-) Lauf. Das letzte Bild und das 3. letzte, das bringe ich mit Laufen in Zusammenhang. Die anderen könnten auch „Tanz im Regen“ oder ähnlich lauten. Da ist für mich kein „Sport“, kein Marathon drin.
    btw.: Danke für den Buchtip. Hab’s mir sofort bestellt!

    • Wie der Autor schon sagte, war das ja mehr oder minder ja schon seine eigentliche Intention. Was ihm aber nicht so recht gelang und deshalb diese eher abstrakte Serie daraus entstand ;)

      • Stimmt! Insofern revidiere ich meine Aussage in Bezug auf den Textzusammenhang hier!
        Ich habe mir inzwischen auch mal die anderen „Marathon“-Bilder auf der HP angeschaut: klasse! Und da muss ich sagen, sehe ich auch noch mehr den Sport in jedem Bild.

  3. Sehr schöne Bilder!
    Du schreibst „Meine Bilder erzählen nichts vom Schmerz, nichts vom Leiden, nichts vom Glück, nichts vom Adrenalinschub. Ich bin dem Verständnis dessen, was die Faszination eines Marathonlaufes ausmacht, keinen Deut näher gekommen. “
    Aber ich finde, Du hast Dir unbewusst eine perfekte Stelle zum Fotografieren rausgesucht.

    Bin selbst schon einige Marathons und andere Langstrecken gelaufen, manche im Regen, manche an heißen Tagen und manche im Schnee.
    Jedes Deiner Bilder erzeugt eine für Läufer bestimmt nachvollziehbare Gänsehaut bei mir.
    So eine Dusche ist an einem heißen Tag eine Wonne, je später sie im Lauf kommt, umso wertvoller ist sie, man sieht an der Körperhaltung, wie die Läufer die Dusche genießen. Es ist wie die eisgekühlte leckere Limo für einen Verdurstenden in der Wüste.
    Je länger der Lauf, desto konzentrierter ist die eigene Wahrnehmung, jeder Stein, jede Unebenheit im Boden wird zur Belastung, zum Hindernis. So eine Dusche kann einem dann 10-20m Glück schenken, bevor einen der harte Asphaltboden, die Hitze und die Schwere wieder einholen.
    Eine Pfütze im Regen macht die Füße nass und die Schuhe und Socken schwerer bis hin zur Unerträglichkeit. Das Wasser bewegt sich unangenehm zwischen den Zehen beim Laufen. Aber in Deinem Foto sieht sie eher aus, wie ein kindlicher Trittspaß mit Vorfreude auf das Ziel, also eine positive Pfütze.
    An welcher Kilometermarke stand die Dusche? Ich nehme an, gegen Ende?

    Gerade durch die Abstraktion schaffst Du allgemeingültige und emotionale Bilder.
    Wunderbar. Danke!

    • Wow, vielen, vielen Dank, das freut mich sehr, was du schreibst. Ich hab gerade nochmal nachgesehen, die Stelle war schon knapp vor der Hälfte, ungefähr km 18. Bist du den Berlinmarathon auch schon mal gelaufen?
      Grüße! Jürgen

      • Danke für die Info! Dann war es also eine kleine Belohnung kurz vor Halbzeit. ;)
        Vielleicht war dort auch das Finish für die Halbmarathonis.
        Ja, in Berlin bin ich vor einigen Jahren auch schon gelaufen und muss als Köln/Bonner leider gestehen, dass dort die Stimmung damals sogar noch besser war als in Köln.
        Wenn man vom Jubel unendlich vieler Menschen über die Distanz getragen wird, das ist das Schönste.
        Viele Grüße!

    • Du sprichst mir aus der Seele. Das Bild mit der Pfütze erinnert mich auch an eine Szene, bei der ich die Socken dann weg geschmissen habe und in quietsch nassen Schuhen weiter gelaufen bin, das war wirklich unangenehm. Die Bilder sind beindruckend, 32 km auf Pflaster zu laufen, ist echt eine Strapaze. Es gibt da Menschen, die einem etwas Gutes tun wollen, aber meist ist das nicht so gut, wie ich erfahren musste :-) Na ja, manch einer muss es mal erlebt haben! LG aus Berlin Jörg

  4. Hallo Jürgen, mein Kompliment für diesen Text und die Bilder. Sillitoes Roman habe ich natürlich auch gelesen und er steht immer noch in meinem Bücherregal.
    Gruß
    Ralf

  5. Hallo Jürgen, na dann mal auf diesem Weg ein Kommentar, da ich wie gesagt zur Eröffnung in Friedrichshain nicht kann – sehr schön, dies alles in SW und nur der letze Läufer in Farbe, wie ein Zurückreißen in die Realität. Ich glaube, nur Fotografen können wohl beurteilen, wie schwer es ist, solche eindringlichen Bilder in „Strecke“ und nicht als Zufallsprodukt zu schaffen – meinen Respekt dafür! Nicht nur ein gutes Auge ist die Voraussetzung, sondern auch über die Interpretation des Gesehenen eine Aussage zu schaffen, die unabhängig vom persönlichen Zugang allgemein „verstanden“ wird. Das ist auch im Text sehr genau gelungen – auch etwas, das längst nicht viele Fotografen können. Bin sehr angetan und etwas überrascht : Friedrichshain aktuell schien mir etwas zu bunt und durcheinander – ich werde mir die Endversion noch ansehen und auch mit meiner Privatklasse besprechen. Sehr konsequent daher diese Reihe, mit einem Auge, das man nicht lernen kann. Im Übrigen kann das letzte Zitat aus dem Buch auch für Fotografie gelten, wenn man das Laufen durch Fotografieren ersetzt. Mein Vater war Langstreckenläufer. Ich war Fotograf; bis ich noch anderes tat. Mit Gruß O.S.Scholten

  6. Wow, ich bin begeistert von deinem Text und deinen Bildern. Besonders Bild 2 und 4 innerhalb des Beitrags haben es mir angetan. Leider bin ich kein Experte auf dem Gebiet der Fototgrafie und kann somit einfach nur sagen, dass mir die „Effekte“ (im einen Bild die Schatten und im anderen das hochspritzende Wasser) sehr gut gefallen. Insgesamt auch eine grandiose Idee, an so einer Stelle des Laufs zu fotografieren. Mach weiter so!