Fantastische Bildbände zur Straßenfotografie, Teil 1
Nachdem ich mich 2010 vermehrt von der Landschaftsfotografie ab und der Straßenfotografie zuwendandte, wuchs auch mein Interesse an Bildbänden. How-to-Bücher wollte ich keine mehr lesen, sondern mir direkt die Arbeiten urbaner Fotografen ansehen und mich daran erquicken. Heute stelle ich im Rahmen unserer Buchwoche ein paar davon vor, weitere Vorstellungen werden folgen.
Ich finde es hochspannend, sich einem Genre der Fotografie zu verschreiben und dann auf globale Bewegungen hin zu untersuchen. Was haben andere Fotografen und Fotografinnen bisher erschaffen? In welcher Zeit und Kultur wurde gearbeitet? Welche Stilmittel genutzt?
All das sind Fragen, auf die mir Bildbände in gewisser Weise Antworten geben können. Und das auf ihre ganz langsame, natürliche Art, die sich doch so von der Hektik des Netzes unterscheidet. Außerdem: Ich fahre gern mit den Fingerspitzen über Fotografien und spüre die Schwere eines Buches mit Freude. So möchte ich mit dem ersten Band beginnen, dem ich ganz sicher den Klassiker-Status zusprechen kann:
„Streetphotography Now“* | 18,95 € | 27,2 x 23,9 x 2,3 cm
Wenn es ein Buch gibt, das mich beim ersten Ansehen gleich erschüttert und bewegt hat, war es „Streetphotography Now“. Als ich es zum ersten Mal in Händen durchblätterte, musste ich mehrmals pausieren, denn die massive Dichte der Bilder überforderte meine Aufnahmekapazität um ein Vielfaches. Selten war ich so gezwungen, mir mehrere Wochen Zeit zu nehmen, um einen Fotoband kennenzulernen.
Das Buch wirkt bis heute nach und es wird noch für eine lange Zeit eine Quelle der Inspiration bleiben.
Auf 240 Seiten haben die Autoren Sophie Howarth und Stephen McLaren einen Bildband herausgegeben, der mit dem Wort „umfassend“ betitelt werden kann. Insgesamt 46 zeitgenössische Straßenfotografen werden darin inklusive Kurzbiografie vorgestellt und satte 301 Bilder laden mehr als eindrucksvoll dazu ein, in die Diversität und Leuchtkraft einzutauchen und die Zeit zu vergessen.
Magnum-Größen wie Bruce Gilden, Martin Parr und Alex Webb gehören wie selbstverständlich zum Kanon, jedoch gibt es auch zahlreiche Fotografen und Fotografinnen, die der großen Öffentlichkeit bis zur Erstauflage kaum bekannt waren. Außerdem beschränkt sich „Streetphotography Now“ nicht nur auf europäische und amerikanische Künstler, sondern besucht mit Bruno Quinqet Tokyo, mit dem nicht unbekannten Herren Titarenko St. Petersburg und mit Musem Wasif Dhaka, um nur ein paar herauszustellen.
„Streetphotography Now“ ist in seinem breitgefächerten Umfang ein weiterer Beweis dafür, dass die Straßenfotografie noch lange nicht tot ist, sondern – und das mag im Buch selbst zu kurz kommen – auch durch das Internet eine Renaissance erlebt, global schwierigen Rechtslagen trotzt und Großartiges vollbringt.
Auch heute suche ich mir gern bei einer Tasse Kaffee einen Fotografen heraus und betrachte dessen Bilder. Das reicht auch völlig aus, denn bei Interesse befinde ich mich zehn Minuten später auf einer Erkundungsreise im Netz, um alle anderen publizierten Fotos meiner Entdeckung zu bestaunen.
„Stern Fotografie: Bruce Gilden“* | 18 € | 27,8 x 52,7 x 1,4 cm
Obwohl die Art und Weise, mit der Bruce Gilden bis heute Menschen auf der Straße fotografiert von einem Großteil der Fotografie-Szene (inklusive Straßenfotografen) kritisch beäugt wird, bin ich bekennender Adorator (sic!) des US-Amerikaners. Das klingt pathetisch. Ist es auch. Ich liebe diesen Kerl.
Um mir seine Aufnahmen schön groß zu gönnen, kaufte ich mir Ende des zurückliegenden Jahres die 64. Ausgabe der Reihe „Stern Fotografie“. Diese deckt Gildens Portraits Krimineller, Gangster und Mafiosi ab, die ebenso schonungslos abgebildet werden wie diese ihr Leben wahrscheinlich unterhalten.
Gilden, Soziologe und selbst Sohn eines Kriminellen, kennt das Milieu, in dem er sich aufhält. Und vielleicht hat er auch deshalb den Mut, diese Menschen ohne Vorwarnung direkt anzublitzen und sich in potentielle Gefahr zu bringen. Seine Bilder hingegen erklären die Portraitierten nicht zu Helden, sondern konfrontieren den Betrachter in aller Härte mit Narben, Eigenheiten und Gewaltbereitschaft der Szene.
Nahezu intim wirken die Bilder, die wie ein Ausdruck der Worte Robert Capas – If your pictures aren’t good enough, you’re not close enough – wirken. Und „close enough“ bin ich auch als Betrachter, denn in ihrer Größe von knapp A3 (pro Seite!) kann ich keine sachliche Distanz aufbauen, sondern werde beinahe ins Geschehen hineingezwungen.
Bei Fotografien, die nur einseitig gedruckt wurden, ist die gegenüberliegende Seite schwarz, was den bedrückenden Charakter des Bandes unterstützt. Des Weiteren wurde auf Seitenzahlen und Bildunterschriften gänzlich verzichtet und diese auf die letzten beiden Seiten des Bandes verfrachtet, um den Fotografien ihren Platz einzuräumen.
Es sind sicher keine angenehmen Bilder, die uns Bruce Gilden in diesem Band vor Augen hält. Aber sie erzählen von einem Teil unserer Gesellschaft, der heute gern verdrängt wird und höchstens bei einem Skandal kurz hochstilisiert wird. Ich möchte jedem, der sich mit dieser Realität befassen möchte und ein wenig tolerant gegenüber Gildens Ansatz ist, empfehlen, sich diesen Bildband zuzulegen.
„Henri Cartier-Bresson: Meisterwerke“* | 6,95 € | 18,8 x 14,4 x 1,2 cm
Der erste Bildband, den ich zur Straßenfotografie in den Händen hielt, war – so wollte es der Zufall – ein Geschenk. Damals war ich nur flüchtig mit dem Sujet vertraut und das Büchlein staubte lange Zeit im Schrank vor sich hin.
Seitdem mir die Straßenfotografie 2010 vollständig den Kopf verdrehte, zupfte ich es hin und wieder aus der hintersten Buchreihe, um darin zu schmökern. Dass ich ein fotografisches Schmuckkästchen in der Hand hielt, wurde mir sofort bewusst und es scheint, als ob die Fotos mit jedem Ansehen an Attraktivität gewinnen.
Auf 128 Seiten präsentiert der Verlag Schirmer/Mosel insgesamt 52 Schwarzweißaufnahmen des Meisters Cartier-Bresson. In chronologischer Reihenfolge von 1932 bis ’99. Jedoch beginnt die Reise zweimal von vorn: Einmal mit Bressons Straßenfotos und das andere Mal mit dessen Portraits. Diese Fotos sind jeweils „einseitig“ abgebildet: Die Gegenseite bleibt, wie oben zu sehen ist, stets weiß.
Der Bildband startet mit einem zwölfseitigen, lesenswerten Essay des Straßenfotografen selbst, datiert auf 1952 und mit dem Titel – wer hätte es gedacht – „Der entscheidende Augenblick“. Am Ende des Büchleins schließt die Klammer eine kurzbiographische Übersicht.
Bresson war seinerzeit überzeugt davon, dass Fotografen seines Genres Technik soweit wie möglich außen vor lassen und die zu Fotografierenden nicht damit belästigen sollten. Bressons Begeisterung für natürliches Licht und Authentizität schlägt sich – meiner Meinung nach – in sämtlichen Straßenaufnahmen sowie Portraits nieder.
Für bislang mit Bresson Unbekannte wird es eine Überraschung sein, dass der Mitbegründer von Magnum Photos auch Ikonen seiner Zeit ablichtete. So findet der geneigte Bewunderer unter den abgebildeten Aufnahmen des Bandes eingängige Portraits von Monroe, Sartre, Picasso und vielen anderen.
Auch, wenn ich vor Jahren nicht so recht wusste, was nun mit diesem Bändchen anzustellen sei, ist es mir heute doch sehr ans Herz gewachsen. Einziger Wermutstropfen: Der Preis von 6,95 € ist unschlagbar, jedoch hat sich der günstige Einband mit der Zeit recht schnell gelöst.
„Saul Leiter (Photofile)“* | 12,55 € | 12,3 x 19 x 1,3 cm
Die Fotografien von Saul Leiter entdeckte ich, als Jürgen Bürgin hier bei uns im Magazin eine Buchrezension über den Künstler publizierte. Diese Bilder wirkten einige Zeit nach, sodass ich mir ein paar Wochen später den hier vorgestellten Bildband zulegte. Ich traute mich noch nicht, die Retrospektive zu kaufen, denn ich war mir nicht sicher, ob ich mich in diese Fotos tatsächlich verlieben könnte. Eines Besseren belehrt, das wurde ich.
Heute zählt dieser Bildband zu meinen liebsten überhaupt. Leiters Art, zu fotografieren hat mich geprägt und das vor allem deshalb, weil sie mich tief berührt und eigentlich nicht mehr so ganz in Ruhe gelassen hat.
Das Buch „Saul Leiter“ ist Bestandteil der derzeit 24-teiligen Photofile-Reihe von Thames & Hudson, die sich damit schmückt, Fotos der weltbesten Fotografen in guter Qualität für jedermann zu produzieren. Denn nicht selten kosten solche Schmöcker mehr als der Studentengeldbeutel erlaubt. Somit ist die Photofile-Reihe ein wahres Vergnügen für jeden Interessierten.
Doch zurück zum Bildband. 144 Seiten umfassen eine Reihe von insgesamt 64 Fotos. Auf der Coverinnenseite steht, dass 38 davon in Farbe sind, nachgezählt habe ich nicht. Aber vom Gefühl her scheinen es bei jedem Mal mehr zu werden; wahrscheinlich deshalb, weil die Farbfotos etwas ganz Besonderes sind.
Der heute 89-jährige Saul Leiter zog 1946 nach New York, um Maler zu werden. Dieser Absicht folgte er auch, jedoch begann er bald, die Kamera als verlängerten Arm zu nutzen und fotografierte – zur Nachkriegszeit unter Künstlern verpönt – auch auf Farbfilm.
Leiter selbst hatte nicht das geringste Interesse daran, sich selbst als Meister der Straßenfotografie darzustellen, denn er verstand sich nach wie vor als Maler. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Entdeckung seiner außergewöhnlichen Bilder noch recht jung ist und dieser Mensch über 40 Jahre lang ohne Rampenlicht auskam. Dies sah er als ein großes Previleg an, wie Jürgen Bürgin berichtete.
Seine ungewöhnliche Art, zu fotografieren wurde nicht minder von seinem Hang zur Malerei und der Freundschaft zu abstrakten Expressionisten, die er in New York kennenlernte, beeinflusst. Wenn ich mir seine Bilder anschaue, dann wundere ich mich jedes Mal, wie Leiter eigentlich seine Motive komponiert. Er hat einen ungemein scharfen Blick für Linien, Menschen und vor allem: Farben.
Leiter präferierte, durch vereiste oder von Kondenswasser beschlagene Scheiben zu fotografieren und mit Spiegelungen den Betrachter zu verwirren. Jedoch sind die Bilder stets so gehalten, dass sie nicht zu sehr abstrahieren, sondern – zumindest mir – stets der Kontext klar bleibt. Außerdem sind im Zentrum seiner Bilder: Menschen im urbanen Kontext.
Desweiteren gefallen mir Leiters Bilder deshalb, weil er sich ständig einen feuchten Kehricht um Fotoregeln scherte und recht häufig Menschen im Bild frech an irgendwelchen Stellen abschnitt. Bestes Beispiel: „Red Umbrella“. Ein Mensch mit rotem Schirm steht an einer zugeschneiten Straße, die sich in einer Rechtskurve um den Menschen schlängelt. Die Person und der Schirm sind jedoch nur angerissen, gut zwei Drittel des Menschen ließ Leiter einfach weg. Und: Lässt mich als Betrachter nach mehr sehnen.
Solche Spielereien sorgen dafür, dass ich diese Bilder nicht vergessen kann. Denn – zwar nicht immer, aber oft – widersetzen sie sich meinen Sehgewohnheiten und verhaken sich tief im Langzeitgedächtnis.
Im Buch werden die Fotos (meist) einseitig gedruckt, auf den Gegenseiten finden sich Titel und Jahr der Aufnahme. Das Büchlein beginnt mit einem erweiterten und wunderbar zu lesenden Essay des Historikers und Fotografen Max Kozloff.
Ich darf sagen, dass ich kein Buch so oft studiert habe wie dieses. Gerade, weil Leiter so einmalig fotografierte, habe ich bis heute nicht die geringste Langeweile beim Betrachten seiner Werke empfunden. Letzte Woche habe ich mir übrigens die Retrospektive bestellt. Jetzt bin ich mir sicher: In Leiters Fotografien habe ich mich verliebt.
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