08. Februar 2013 Lesezeit: ~4 Minuten

Holt mich hier raus!

Wachstum ist noch immer das Leitmotiv unserer Zeit. Nur wirtschaftliches Wachstum kann uns aus der Krise holen, eine Firma vorm Bankrott retten, unsere Bildung und Altersvorsorge sichern.

Ohne Wachstum keine Zukunft. Die Weltbevölkerung wächst und wächst, aus Städten werden Großstädte, aus Großstädten werden Mega-Cities. Wachstum ist +, Wachstum ist positiv, Wachstum ist gut, Wachstum ist groß, ist hoch, ist weit.

Doch gleichzeitig gibt es Orte der Schrumpfung, Orte an denen die Dinge irgendwie anders funktionieren müssen. Weil die großen Firmen nicht mehr da sind, weil die Arbeitslosigkeit langweilig wird, weil die Sterberate über der Geburtenrate liegt, weil die Menschen wegziehen.

Auf mich haben diese Orte schon immer einen großen Reiz ausgeübt. Ich stellte mir vor, dort alternative Lebens- und Überlebenskonzepte finden zu können. Es müssten Orte sein, an denen man frei ist, sich zu entfalten.

Denn es gibt genug Platz. Das Leben kostet nicht viel. Die Zeitungen berichten nicht mehr. Es ist kein Geld da für staatliche Kontrolle. Und auch die sich ständig beschwerenden Nachbarn sind längst weggezogen.

Doch die Bilder der Fotografen, die sich seit dem Beginn der aktuellen Wirtschaftskrise diesem Thema gewidmet haben, entsprechen so gar nicht meinen Fantasien dieser Orte.

Ihre Fotoserien zeigen leere Häuser, „zu verkaufen“-Schilder, Junkies und gelangweilte Jugendliche auf dem Weg zum Junkie. Verlassenheit, Depression, Schatten, Verfall, Trauer. Eine visuelle Untermauerung der Wachstumsdoktrin.

Doch wo sind die Potenziale, die neuen Ideen, die Querdenker? Im Frühjahr 2010 habe ich mich auf die Suche begeben und bin nach Dessau gefahren. Und tatsächlich: Die leerstehenden Gebäude drängen sich mir geradezu auf und auch in den Gesichtern der Passanten sehe ich mehr Leere denn sprudelnde Ideen.

Ein Viertel der Einwohner haben seit der Wende die Stadt verlassen und ich spüre, dass sich auch die Menschen hier verlassen fühlen. Dessau hat es auch wirklich nicht leicht gehabt: Die meisten Betriebe haben den überstürzten Wechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus nicht überlebt.

Die Lokalpolitiker wollten die Schrumpfung nicht als Zukunftsszenario akzeptieren und haben für immer weniger Einwohner immer mehr Einkaufszentren gebaut.

Bis zum Jahr 2002. Mit einem Paukenschlag kündigten Politiker und staatliche Institutionen ihren Kurswechsel an: „Less is future“ lautete das Motto der Internationalen Bauausstellung.

Internationale Experten und Künstler gaben über die Köpfe der lokalen Bevölkerung hinweg mehr als 200 Millionen Euro aus, um ein altes Konzept neu zu verkaufen: Abnahme an Bevölkerung = Abriss von Gebäuden.

Nur sollten diesmal „von grünen Bändern umgebene urbane Kerne“ entstehen, es sollte also gezielt abgerissen werden. Das Ergebnis war ein Desaster: Durch Aufrechterhaltung der flächenmäßigen Ausdehnung der Stadt bei abnehmender Einwohnerdichte wurde die Instandhaltung der Infrastruktur zu teuer.

Und so könnte Dessau bald so aussehen wie ein Foto der Krisenfotografen: Stillgelegte Bushaltestellen, verstopfte Kanalisation und verrottende Straßen.

Aber vielleicht auch nicht. Denn es gibt Leute wie Alex, der zusammen mit seinen Freunden auf einem stillgelegten Güterbahnhof eine Dirtramp gebaut hat. Agi, deren „erotischer Sozialservice“ sich auf eine ältere Kundschaft spezialisiert hat.

Einen Verein, der eine Bierbrauerei zu einer Kletterhalle umgebaut hat. Und Sergej, ein Ex-Balletttänzer, der mittlerweile einen hervorragenden Automechaniker abgibt.

Es sind vereinzelte Leute, ihre Gesten, ihre Ansichten und Projekte, die meine Fantasien der schrumpfenden Städte als Orte enormer Potenziale gerettet haben. Aber es sind Fantasien geblieben.

Dessau © Nico Baumgarten

Und so wusste ich, dass ich soeben den Titel meiner Fotoserie gefunden habe, als ich im Staub einer Fensterscheibe las: „Es ist so weit, holt mich hier raus.“

Meine Suche geht weiter.

23 Kommentare

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  1. Was ich nicht verstehe: Der letzte Teil des Textes, der von den Menschen handelt die trotz all dem Desaster dort doch noch etwas angefangen oder aufgebaut haben, macht eigentlich Hoffnung und man beginnt mit Respekt auf diese Menschen zu schauen (Der Mann mit dem Bagger zum Beispiel oder Sergej, von dem ich gerne ein Bild gesehen hätte).
    Und dann kommt im vorletzten Satz dieser Titel „Es ist so weit, holt mich hier raus.“
    Das ist wie ne volle Klatsche ins Gesicht. Entweder ich kapiers nicht, oder da ist etwas nicht stimmig.

    Grüße
    Andreas

  2. Ein sehr guter Artikel mit noch sehr viel besseren Fotos. Ich hab mir gerade auch den Rest der Serie angeschaut und muss sagen, ich bin begeistert. Die Bilder fangen wirklich die Stadt ein ohne zu dramatisch oder überzogen zu wirken. Außerdem zeigen sie, wie du im Beitrag beschrieben hast, ein bisschen Hoffnung und Ideenreichtum der Einwohner. Was mich persönlich noch interessieren würde (was aber leider nicht in den Kontext deines Artikels passte), wie du bei deiner Arbeit vorgegangen bist. Also wie gehst du auf die Menschen zu die du abbildest? Erzählst du ihnen die Geschichte und die Idee hinter der Doku?

    Ich freu mich auf mehr von dir!

  3. Wenn Du noch weitersuchst, dann komm Mal in meine Heimatstadt. Seid der Wende ist die Einwohnerzahl um ein Drittel geschrumpft. Um den Oberbürgermeisterstatus aufrecht zu erhalten wurden dann vor ein paar Jahren etliche Dörfer eingemeindet – wobei da teilweise zwanzig Kilometer dazwischen liegen. Die Stadtfläche von New York ist schon erreicht, jetzt muß nur noch die Fläche zugebaut werden. Am besten mit leerstehenden Indusrie- und Geschäftsgebäuden. Dessau hat wenigstens noch das Bauhaus als Touristenmagnet – die meisten Städte haben das jedoch nicht.

    Ansonsten schöne Bilder, welche die Tristesse schön einfangen und wiederspiegeln. Vor allem das mit dem Abrissarbeiter ist gelungen und das letzte Bild hat auch was.

  4. ganz böse gesagt: jau, solche Foddos hab ich in den 70ern auch gemacht, nur landeten die bei mir in keinem Album, sondern in der Tonne…

  5. Wow, Dein Artikel hat mich sehr beeindruckt, gefällt mir gut. Schön wäre, wenn es immer mehr Querdenker und mutigen Menschen gäbe, die sich nicht von der Depression vereinnahmen lassen.

  6. Bilder, die Trostlosigkeit ausdrücken sollen, sähen für mich anders aus. Vielleicht liegt’s an der manchmal bunten Farbgebung, vielleicht am BMX-Fahrer, die Lebendigkeit ausstrahlen? Was grundsätzlich nicht schlecht wäre, denn in trostlose Gegenden verirrt sich kaum ein Tourist oder Investor.

  7. Gutes Projekt!

    Ich denke es werden noch viele Bilder im Buch sein.
    Eventuell ein Link zum Buch?

    In SA tut sich viel, aber es gibt auch viele Winkel im Umbruch!

    Mach weiter so! Mich interessieren z.B. auch die Dörfer. Ich fahre ab und an mal durch SA z.b. von Brandenburg nach Stendal.

    Genthin wäre bestimmt auch mal eine Reportage wert. Letztens habe ich gesehen, wo die Bahnlinie von Genthin in Richtung Stendal abgebaut wurde.

    Grüße und viel Erfolg mit dem Projekt!

  8. ich hätte die Bilder anders genannt „kinder des trotzes“ oder „trotzkinder“ eben leute die trotz dieser scheinbaren hoffnungslosigkeit da bleiben und das beste draus machen.
    ist ne andere perspektive.
    aber ist dein ding, die reihe ist sehr stark
    Gruß
    julia

  9. Sorry, für mich ist diese Serie eine Aneinanderreihung beliebiger Bilder – es fehlt der rote Faden. Die Eigenheime durchs Geäst könnten schon fast ein Stockfoto sein, beim BMXer steht der Fahrer ganz klar als Hauptmotiv und die Damen vom Gewerbe sind auch wieder irgendwie was komplett Eigenständiges.

      • Markus, dies ist mehr als ein journalistischer Beitrag zu werten. Die Fotos stehen im Zusammenhang mit dem Text. Preisverdächtig sind die Fotos bei weitem nicht, aber sie erfüllen wunderbar ihren Zweck. Hier steht mehr die Doku im Vordergrund, weniger fotografisches Handwerk.

  10. Eine wichtige Aufgabe der FotografIe ist es, gesellschaftliche Ereignisse im Bild festzuhalten. Das Ergebnis sind keine fine-art-pics, allerdings geht es dabei auch nicht darum, sondern um die Dokumentation aktueller Zustände. Deshalb: Daumen hoch für die Bilder und für den Artikel!
    Henry

  11. Hy Martin,
    Ganz großes Lob , für deinen Blog. Einfach Super wie du schreibst und vorallem mit wieviel Engagement du den Blog betreibst , hoffe das da noch einiges kommt.

    Gruß rené

    • Hallo Rene, dieser Beitrag stammt nicht von Herausgeber Martin, sondern von Gastautor Nico Baumgarten.

      Und es kommt vermutlich noch einiges, kwerfeldein gibt’s ja auch schon viele Jahre und wir wollen noch viele Jahre weitermachen. ;)

  12. Sehr bewegender Artikel mit sehr bewegenden Bildern. Ich hoffe die Suche endet erfolgreich. Potenzial = Zukunft und der Titel der Serie ist überragend gut. Ein wirklich tolles Werk. Beeindruckend und mitfühlend.
    Große Klasse !

    Liebe Grüße

    Rikarda