26. Februar 2021 Lesezeit: ~8 Minuten

Wie ich zur Fotografie kam und sie zu mir

Das hört sich vielleicht ein bisschen wie ein Märchen an, aber wenn ich zurückblicke, war es das irgendwie auch. Die Fotografie kam sozusagen wie ein Held auf einem Pferd in mein Leben geritten, um mich aus einem wirklich ziemlich dunklen und tiefen Loch herauszuholen.

Dieses dunkle und tiefe Loch, von dem ich spreche, sind meine Depressionen. Vor über zwei Jahren kam ich in eine Abwärtsspirale. Ich fühlte mich wie ausgebrannt, verbrachte meine Tage im Bett mit der Decke über dem Kopf, unfähig aufzustehen, zu essen, mir die Haare zu kämmen, Menschen zu treffen oder sogar Freude zu empfinden.

Bei zu viel Trubel wurde ich wie überfahren zurückgelassen, ohne dass überhaupt jemand wusste, wie intensiv die Synapsenparty war, die sich in solchen Momenten in meinem Kopf abspielte. Ich war so oft traurig, dass die Tränen, die ich seitdem vergossen habe, gefühlt ein ganzes Meer füllen würden. Ich aß kaum noch etwas, da es mich zu viel Kraft kostete, mich um mich selbst zu kümmern.

Nach einigen Monaten „gute Miene zum bösen Spiel machen“ war mir klar, dass etwas ganz und gar nicht mit mir stimmte und sich etwas ändern musste.

Frauenportrait

Entgegen meiner Erwartungen sollte dies ein langer Prozess aus Therapiesitzungen, Klinikaufenthalten und Selbstexperimenten werden. Eines dieser Experimente war sozusagen der Sprung in die Fotografie und es war wirklich eher eine Arschbombe als ein graziler Köpper, so unvorhergesehen und kraftvoll war mein erstes Eintauchen in diese Welt.

Für mich stand die Idee im Raum, schöne Fotos von mir machen zu lassen und zu schauen, was sie in mir auslösen. Würde ich die alte Mary, die mit beiden Beinen im Leben stand, wiederfinden? Die Mary, die trotz Mini-Körbchengröße und tausend Leberflecken auf der Haut mit sich im Reinen war? Einen Versuch war es wert.

Bei meiner Suche wurde ich auf Herbert Ahnen aufmerksam, der schon länger als Hobbyfotograf tätig war und immer nach neuen Gesichtern suchte. Also versuchte ich mein Glück und schon im ersten Kontakt wurde klar, dass wir einiges gemeinsam hatten, nicht zuletzt unsere Krankheit: die Depressionen.

Frau mit Handtuch auf dem KopfDetailaufnahme eines Körpers

So verabredeten wir uns für meine allererste Fotosession. Rückblickend kann ich sagen, dass dies der Anfang einer unglaublichen Geschichte für mich war. Während dieses ersten Treffens mit Herbert hatte ich das Gefühl, mich seit Langem einmal wieder voll und ganz entfalten zu können. Ich konnte wieder Freude empfinden und kreative Ideen wuchsen in meinem Kopf, was wieder Farbe in mein zu diesem Zeitpunkt graues Leben brachte.

Die Fotos gefielen mir, ich sah mich das erste Mal seit langer Zeit so richtig an. Da war die Frau mit den Depressionen, in wenigen Momenten aber auch die alte Mary. Aber, was mich am meisten überraschte, auch eine neue: die mit dem Funkeln in den Augen, sobald die Kamera auf sie gerichtet war.

Was sich aus dieser ersten Session entwickelte, war irgendwie Schicksal. Herbert suchte schon seit Langem nach einem Modell für ein Projekt mit nur einer Person. Und nun stand ich da, völlig unerfahren in Sachen Fotografie und mit ganz viel Neugier. Es war klar: Wir würden uns wiedersehen, der Aha-Moment war da und nach der zweiten Session dann auch das Ja zum gemeinsamen Buchprojekt.

PortraitFrau rennt nackt duch ein Feld

Es war der Beginn einer unglaublich intensiven Zeit. „Along comes Mary“ wurde ins Leben gerufen. Über ein Jahr und in insgesamt 14 Sessions stellten wir uns die Frage: Kann Fotografie Therapie sein? Für mich kann Fotografie das, trotzdem war es kein Klacks, das sage ich Euch. Aber durch dieses regelmäßige Vor-der-Kamera-Stehen, den kreativen Prozess und den kontinuierlichen Anspruch, die Sessions konsequent anzugehen, konnte ich mich selbst reflektieren, an mir arbeiten und ein wenig heilen, was eine Therapie allein bei mir nicht möglich gemacht hätte.

Seit meiner ersten Session mit Herbert durfte ich schon einige andere Fotograf*innen kennenlernen. Ich kann sagen, dass die Foto-Community eine große Therapiegruppe für mich geworden ist. Die meisten, mit denen ich in Kontakt getreten bin, hatten doch einiges zu verarbeiten. Egal, ob man hinter der Kamera den Blick durch den Sucher als Rückzugsort einnimmt, um einfach mal wieder tief durchatmen zu können oder ob man vor der Kamera steht und diesen Raum als Verbindung zur Außenwelt nutzt, ist es für viele der einfachste Weg, sich auszudrücken und sich ein wenig selbst zu therapieren.

Frau mit Schaum in der Wanne

Nicht zuletzt auch wegen des tollen und oft auch intensiven Austauschs vor der eigentlichen Session lernt man Menschen kennen, die ähnlich fühlen, Gleiches erlebt haben oder auch einfach nur zuhören. Vielleicht habe ich auch schon Fotograf*innen überfordert, weil beim ersten Blick auf die Fotos die Tränen liefen. Aber im Nachhinein war es für beide Seiten okay und für mich einfach ein gutes Gefühl, mit den Gefühlen, die mein Spiegelbild in mir auslöst, nicht allein zu sein.

Ich hoffe, dieses Glücksgefühl, das ich empfinde, wenn ich an die Fotografie, die tollen Menschen, die ich kennenlernen durfte, und auch an dieses einmalige Geschenk des Buchprojekts denke, bleibt mir noch lange erhalten. Und natürlich auch die vielen positiven Erinnerungen, die eine Session begleiten, wie zum Beispiel der nette Austausch bei Kaffee und Tee, die tolle Gesellschaft oder der Spaß, der einen noch Stunden danach mit Glück erfüllt.

Frauenakt

Natürlich kann es sich auch wie ein Faustschlag im Gesicht anfühlen, wenn man sich ein Foto anschaut und die Realität in diesem Moment für immer eingefangen sieht. Für psychisch kranke Menschen ist es oft kaum zu ertragen, sich so intensiv und genau anzuschauen. Aber es ist dennoch eine gute Überprüfung oder ein Spiegelblick, wie es einem tatsächlich geht und das alles ohne ein Pokerface, das man doch zu oft und zu gern in Gesellschaft aufsetzt.

Die Unperfektion ist für mich etwas Schönes geworden, was ein wirklicher Segen ist, in einer Welt, in der alle perfekt, schön oder am besten sein wollen. Denn es ist gerade das, was nicht so gerade sitzt, was wundersam, bemerkenswert und außergewöhnlich ist, was einen Menschen meiner Meinung nach generell oder auch vor der Kamera ausmacht. Das sage ich jetzt so locker flockig, bin aber selbst eine ziemliche Perfektionistin und strenge Kritikerin.

Gerade wenn es nicht so gut läuft und man mit letzter Kraft vor der Kamera steht, kamen für mich überraschend gute und vor allem ehrliche Fotos dabei heraus. Dieser Prozess ist zwar steinig und schwer, hilft einem aber ungemein, die eigene verzerrte Sichtweise auf sich selbst zu relativieren.

Frau verdeckt ihre Augen mit den Haaren

Nicht jedes Märchen geht gut aus, deshalb möchte ich darauf aufmerksam machen, dass dies meine Geschichte ist. Es gibt keine Garantie dafür, dass es gut tut, vor oder auch hinter der Kamera zu stehen oder dafür, dass man es aushält, sich immer wieder so intensiv anzuschauen und mit sich zu arbeiten oder auch, dass man immer den richtigen Personen über den Weg läuft, die einem eine gute Stütze sein können oder ein offenes Ohr haben.

Was ich aber sagen kann: Man muss den Mut aufbringen, sich ein bisschen umzuschauen, um herauszufinden, was einem so richtig gut tut. Das bedeutet auch, zumindest den großen Zeh ins kalte Wasser zu stecken und je nachdem, wie angenehm es ist, ihn schnell wieder herauszuziehen und es an einer anderen Wasserstelle zu versuchen oder eben sogar eine Runde schwimmen zu gehen. Strenge hilft dabei meiner Meinung nach nicht. Aber einen Schritt nach dem anderen machen.

Ich bin auf jeden Fall froh, dass die Fotografie mich so erfüllt, mich immer noch fest in den Arm nimmt, wenn ich sie brauche und wir uns gut tun. Somit reite ich weiterhin dem Sonnenuntergang entgegen, eher auf einem Packesel anstelle des edlen Rosses, mit weiterhin ganz schön viel Last auf den Schultern, aber zuversichtlicher, meinen Weg mit „Happier End“ zu finden.

Informationen zum Buch

„Along comes Mary“ von Herbert Ahnen
Seiten: 284
Format: 210 x 297mm
Preis: 28 €

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