Gebäude
22. Februar 2021 Lesezeit: ~8 Minuten

Weinsberger: ein ortsgebundenes Projekt – weltweit

Am Fuß des markanten Hangausläufers Mesental südlich des Wesergebirgs-Kamms in Ostwestfalen öffnet sich ein Panoramablick in das südlich der Porta Westfalica beginnende Flusstal der Mittelweser. Hier, am Saum von Feldrain und dicht aufgewachsenem Laubwald, betreibt die Gemeinde Porta Westfalica seit 1968 eine etwa 2 ha umfassende, parkähnliche Friedhofsanlage.

Am Waldrand des östlichen Talanstiegs liegt auf vorgelagertem Geländeplateau das eingeschossige, flach proportionierte Gebäude, die ehemalige Friedhofskapelle am Weinsberg in Eisbergen mit samt getrennt aufragendem Glockenturm. Nach langjährigem Sanierungsstau war der Betrieb der Kapelle 2008 kurzerhand eingestellt worden. Heute steht sie für Kultur- und Bildungsveranstaltungen zur Verfügung, nachdem sie, bereits dem Abriss geweiht, durch Privatinitiative erhalten werden konnte.

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Es handelt sich um ein bauhistorischen Glücksfall, denn der orthogonale Ziegelbaukörper mit seinen zeittypisch weiß abgesetzten Stahlbeton-Vordächern und -Stürzen und einem filigran aufgesetzten Oberlichtkranz wurde in seiner ursprünglichen Erscheinung kaum verändert. Das Bauwerk überliefert das Verständnis der Architekten der 60er Jahre – landschaftlich charaktervolle Situationen durch zurückhaltend eingestellte Kubaturen zu unterstreichen, gern auch mit einer markanten punktuellen Geste (hier: die schlank emporsteigende Glockenträger-Konstruktion).

Seit dem Aufkommen von SARS-CoV-2 im vergangenen Jahr hat sich Miteigentümer Elmar Kuhlmann diese Umgebung zunutze und die Kapelle zu einem Atelier gemacht. Im Lauf der Zeit sind eine Anzahl Objekte eigener Art entstanden. Alltagsgegenstände, oft bereits vergessen oder entsorgt, wurden aus ihrem profanen Kontext herausgelöst und neu sortiert. Oft als Reihung gleicher Bauteile, wurden sie zum Ausgangsmaterial fragiler, ausbalancierter Konstruktionen – Gebilde ohne Vorbild. Nichts für die Ewigkeit, oder? Fragen an den Initiator.

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Hallo, Elmar! Erst einmal: Wer bist Du, was machst Du? In der Signatur steht Architekt, auf den Bildern sehe ich Objektkunst, es gibt einen konzeptuellen Rahmen und auch Fotografie ist mit dabei – wie passt das alles zusammen, wie würdest Du es beschreiben?

Als Architekt ist man ja von Haus aus mit räumlichen An- und Unordnungen befasst, mit der Zeit bestückt sich ein persönlicher Katalog aus Material, Formungen und Fügungen. Dieser bildet die Ausgangsbasis. Hinzu kommt dann ein Thema, wie in diesem Fall die verbindungslose Kombination von Elementen. Verbindungslos? Nageln, schrauben, tackern, kleben oder schweißen – alles tabu. Erlaubt hingegen ist setzen, stellen, legen (~ engl., „to put“), stecken, klemmen. Kurz: Gewicht, Eigenspannung und Schwerpunktlage des Materials nutzen. Dadurch entstehen fragile Konstruktionen, die zudem reversibel sind, also problemlos wieder in ihre Bestandteile zerlegt werden können.

Die Fotografie (alle Aufnahmen und Nachbearbeitungen: Fairphone 3) entsteht aus der Hand. Sie sollte ursprünglich nur der Dokumentation im digitalen Raum dienen (Plattform: EyeEm). Der Projektverlauf zeigte jedoch, dass die fotografische Sammlung eigenständig funktioniert. Womit das Weinsberger-Projekt sich als zweiteiliges entwickelt hat.

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Wie bist Du zur Fotografie gekommen und welche Rolle spielt sie in Deiner künstlerischen Arbeit?

Die Architekturfotografie hat mir in der Zeit des Studiums die Essenz richtungsweisender Gebäude visuell klar gemacht. Eigene fotografische Versuche wurden mit vereinzelten Verkäufen an die Fachpresse (deutsche bauzeitung, Bauwelt) belohnt.

Rolle und Stellenwert der Fotografie beginne ich gerade neu einzuordnen. Weil sich daraus ein Zwillingsprojekt zum eigentlichen Objektbau entwickelt hat.

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Welche Rolle spielt dieses Projekt oder allgemeiner die Kunst in Deinem Leben? Hobby, Neben- oder eher Hauptberuf Künstler?

Möglich wurde der Objekt-Zyklus durch eine zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit in Berlin, die mir ein unverhofftes Dreivierteljahr Zeit verschaffte. Dass in der alten Heimat mit der Kapelle am Weinsberg ein dienlicher Rückzugsort auf seinen Nutzer wartete, war ein glücklicher Umstand.

Vor Berlin war ich unter anderem an der FH Bielefeld für das Fach „Grundlagen der Gestaltung“ gebucht, ohne mich denen selbst eingehend gewidmet zu haben. Das veränderte sich im Frühjahr 2020 mit Beginn der Objektreihe (Arbeitstitel „Schwerkraft & Leichtsinn“). Womöglich etabliert sich daraus eine dauerhafte Betätigung, nach der ich lange gesucht habe. Zum Broterwerb wird sie sicher nicht.

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Was „suchst“ Du im künstlerischen Prozess? Kindliches Spiel, Auseinandersetzung mit der Welt oder Theorien? Inwieweit spielt für Dich eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, was eigentlich Kunst ist (oder wer etwas zu solcher erklärt) bei dieser Serie eine Rolle? Sie drängt sich ja auf, zum Beispiel durch die Verwendung von als solche erkennbaren Alltagsgegenständen.

Ob ein im engeren Sinne ein künstlerischer oder einfach gestaltender Prozess vor sich geht, liegt im Auge der Betrachterin oder des Betrachters und muss mich als Art-Fremden nicht beschäftigen. Theoretische Erwägungen spielen also keine Hauptrolle, eher schon Auseinandersetzung mit Weltgestalt und Weltgestaltung. Wenn die gelegentlich einer kindlichen Neuentdeckung nahekommt, ist alles erreicht.

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Was ist das für Material, mit dem Du arbeitest? Einiges sieht nach Alltäglichem aus, anderes ist schon sehr speziell.

Es handelt sich überwiegend um Fundstücke aus Brachflächen, Abrisshäusern, Schrottplätzen oder hinterlassenen Lagerbeständen. Daneben um Entnahmen aus der umgebenden Natur. Die verwendeten Materialien verdanken sich weitgehend dem Zufall ihres Auftauchens. Die Herausforderung besteht darin, aus ihnen entgegen jeweiliger Ausgangsbestimmung spannungsvolle Formationen hinzubekommen. Dass bei verbindungsfreien Montagen Gleichgewicht und Balance zum Thema werden, liegt in der Natur der Sache(n).

Manches Gebilde wirkt fast wie ein gefundenes Zufallsstillleben, anderes hat einen Charakter, der viel bewusster geschaffen und vor allem wie ausgestellt im Raum arrangiert wirkt – was passiert nach der Aufnahme mit Objekten und Material? – Zerlegung, Wiederverwertung?

Die Ausgangsmaterialien könnten jederzeit in den Kreislauf ihrer Ursprungsnutzung oder ihres Herkunftsorts zurückgeführt werden, wären sie nicht oft bereits funktionslos, ausrangiert oder schlicht vergessen worden. Sie werden nach Aufbau und Ablichtung eingelagert – zu optionalem Wiederaufbau oder einer Neuverwertung.

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Interessant finde ich den Einfluss von verschiedenen Arten der Vergänglichkeit bei diesem Projekt: Du sagst, die Objekte werden eingelagert, bei Laub und ähnlichem Material habe ich dann gestutzt, andererseits lässt sich das natürlich durch neues ersetzen – dann bin ich gedanklich schon bei Konzeptkunst und Deine Fotodokumentation wird fast zur Anleitung, um sich ein Objekt selbst herzustellen.

Das wäre ein Erfolg! Der Überzeugung wegen, dass das, was ich mache, gleichfalls all jene hinkriegen können, die Charme und Charakter von Alltagsgegenständen identifizieren. Die Fotoforen sind voll von Ansätzen, Dinge in ihrer Eigenheit, ihrer Eigentlichkeit zu erfassen.

Ähnlich und doch anders verhält es sich mit dem Licht: Wenn es im Foto im Zusammenspiel mit einem Objekt abgebildet ist, wird es durch die (unterstellt) bewusste Wahl des Abbildungsmoments ein Teil des Kunstwerks.

Womit eines der Unterscheidungsmerkmale zur räumlichen Präsentation mit wechselnden Licht- und Sichtverhältnissen benannt ist. Neben dem Umstand, dass das fotografische Subjekt das reale Objekt wohl überleben wird.

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Beim Betrachten der Bilder fühle ich mich zwar teilweise stark in die Situation versetzt, ein Objekt vor Ort im Raum zu betrachten, andererseits ist es eben nur eine zweidimensionale Abbildung. Wahrscheinlich hätte ich bei einer realen Interaktion ganz andere „Favoriten“ unter den Objekten als unter den Fotografien.

Das kann nur der Ortsbesuch klären, wofür eine Einladung hiermit bekräftigt wird. Tatsächlich aber geht es den vereinzelten Besucherinnen und Besuchern genau so: Sie kommen mit anderen Favoriten als sie gehen. Das ist spannend zu beobachten.

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Bisher zeigst Du die Arbeiten online. Warum? Und welche Rolle spielen für Dich Rückmeldungen, die Du darauf bekommst?

Das Netz eröffnet einen Verbreitungsradius, den die Ausstellung à place nicht erreicht. Teils gehen internationale Reaktionen ein. Doch die Fotoserie konkurriert nicht mit dem Ort des Geschehens. Im Gegenteil kann sie Appetit machen, die realen Objekte zu inspizieren.
Feedback ist wichtig, ja. Eine befreundete Kunstpädagogin meinte jüngst etwa, die Arbeiten hätten auch viel mit Humor zu tun. Für mich war das selbstverständlich, erstmals verbalisiert aber ein Erkenntniszugewinn.

Der Arbeitstitel der Online-Präsentation lautet bisher: „Bilder keiner Ausstellung“, die bisher aus bekannten Gründen unterblieb. Zu wünschen ist, dass sich die geltenden Bewegungs- und Kommunikationshemmnisse bald ändern. Und dann? Ist zum Beispiel zu erwägen, ob in der Kapelle neben den Objekten auch deren Fotografien gezeigt werden.

Vielen Dank für diese Einblicke, Elmar! Ich bin gespannt darauf, wie sich das Projekt weiter entwickelt und hoffe sehr darauf, dass es bald wieder möglich sein wird, Deine Werke vor Ort im Raum erleben zu können.

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