10. Juni 2020 Lesezeit: ~7 Minuten

Days Gone – Portraits in Zeiten von Corona

Am 10. März 2020 besuchte ich mein vorerst letztes Konzert: The Big Moon. Zwei Tage später begann meine eigene soziale Isolation. Glücklicherweise nicht vollkommen, teilen doch Maike und ich Bett, Kühlschrank und Küche, Bücher- wie Plattenregal, aber auch moralische und ästhetische Grundsätze. Abseits unserer Partnerschaft schränkten wir unsere sozialen Kontakte jedoch sehr ein.

Maikes Arbeit beschränkte sich auf eine sehr abgespeckte Home-Office-Variante und meine Fotografieaufträge wurden abgesagt. Außer für Lebensmitteleinkäufe verließen wir unsere eigenen vier Wände nicht. Es war eine komische, surreale Zeit.

Meine introvertierte Seite kam zum Tragen: Ich genoss Zeit für Zweisamkeit und Müßiggang, wir erfreuten uns an aufwändigeren Gerichten, an Gesellschaftsspielen, ausgiebigem Musikhören und Lesen.

Lächelnde Person in einem Zimmer

Person malt auf einer LeinwandFarbpalette

So sehr ich dies auch genoss, so schnell vermisste ich auch das Fotografieren. Ich sehnte mich nach Abhilfe. Unter Bekannten etablierten wir eine kreative Herausforderung: Täglich zog jemand von uns einen Begriff, der uns dann innerhalb eines Tages zu einer Umsetzung inspirieren sollte. Auch wenn ich dafür durchgehend meine Kamera nutzte, war es zwar schön, aber trotzdem nur eine unzureichende Ersatzbefriedigung. Mir fehlte schnell etwas.

Auch wenn es mir vorab rational bewusst war, ich damit teilweise sogar kokettierte, führte mir nun diese Zeit auch emotional schnell vor Augen: Im Mittelpunkt meiner Fotografie steht der Mensch. Und auch wenn meine Portraits anderer Menschen sicherlich auch immer Autobiographisches aufweisen, so stellte ich fest, dass das Selbstportrait nicht mein Medium ist. Ich selbst war und bin mir fotografisch nicht genug. Es musste also eine externe Lösung her.

Portrait

Hand mit Zigarette und AschenbecherPerson raucht vor einem städtischen Hintergrund

Je mehr ich mich mit meiner eigenen sozialen Isolation auseinandersetzte und umso je ich das Fotografieren vermisste, desto mehr wuchs mein Wunsch, diese Zeit und daraus resultierende Themen in einem freien Projekt zu verarbeiten. Aber wie könnte ich diesen Wunsch angemessen umsetzen? Wie den Spagat meistern zwischen sozialer Verantwortung und eigenem künstlerischen und dokumentarischen Antrieb?

Ich brauchte erst einmal Zeit zum Grübeln. Zeit zwischen Idee, Wunsch und Realisierung. Gerade die Komponente soziale und gesellschaftliche Verantwortung in dieser besonderen Zeit machte mir sehr zu schaffen. Im regen Austausch mit Maike versuchte ich mich an einem Konzept, das beiden Seiten gerecht wird.

Klare – mir selbst wie auch den Portraitierten auferlegte – (Distanz-)Regeln gaben mir Sicherheit. Mit zunehmender Dauer fiel mir durch dieses Grundgerüst die Interaktion mit Teilnehmer*innen dann sogar leichter als mit eigenen Bekannten. Welch’ eine seltsame Zeit.

Portrait vor einer Hecke

Person mit Holzstöcken im Wald stehendHolz im Gras

Fünf standardisierte Fragen (bzw. ihre Antworten) bilden zusammen mit drei unterschiedlichen Fotomotiven das Grundgerüst dieser Serie:

  1. Wie lange befindest Du Dich bereits in sozialer Isolation?
  2. Was machst Du noch außerhalb Deiner vier Wände?
  3. Was vermisst Du?
  4. Was machst Du mit Deiner „gewonnenen Zeit“, was Du genießt?
  5. Was wird sich dauerhaft durch Corona verändern – für Dich persönlich oder im größeren Zusammenhang?

Die drei unterschiedlichen Motive für die Fotos beinhalten:

  1. eine Aufnahme bei einer selbstgewählten, für die Protagonisten in dieser Zeit typischen Tätigkeit
  2. eine Detailaufnahme in Zusammenhang mit der Tätigkeit
  3. eine Portraitaufnahme aus sicherer Distanz (von mindestens anderthalb Metern)

Person macht Kaffee in der Küche

Eine Flüssigkeit wird in einen Becher gekipptPortrait einer sitzenden Person

Beim ersten Motiv versuche ich, durch Tiefenschärfe, durch das Fotografieren durch Fenster oder Türen den Distanzcharakter auch auf dem Foto zu verstärken. Alle Fotos sind mit einer 50-mm-Brennweite und in schwarzweiß fotografiert. Blende und ISO wählte ich trotz unterschiedlichster Lichtverhältnisse identisch. Zweiteres in Anlehnung an meinen Lieblings-Schwarzweißfilm und meine Vorliebe für „körnige“ Fotos. Identische Voraussetzungen beim Fotografieren sollen den Seriencharakter unterstreichen.

Auch wenn einzelne Motive in Farbe sicherlich besser zur Geltung kämen, schafft die Wahl der Schwarzweißbearbeitung eine einheitliche Bildästhetik und verstärkt dadurch den Seriencharakter. Die Bilder wirken harmonischer und der Fokus liegt mehr auf den teilnehmenden Personen. Außerdem unterstreicht diese Bildästhetik den düsteren Charakter der Zeit.

Die Festlegung auf drei Fotos je Teilnehmer*in ist eine Reminiszenz an Triptychon-Darstellungen darstellender Kunst. Durch die Anordnung der Detailaufnahme als mittleres Bild wird der besonderen Zeit gehuldigt, diese über das Individuum gestellt.

Portrait

BlumenPerson bei der Gartenarbeit

Das finale Portrait – hier im Sinne der Fragen und Antworten sowie der Bilder – der Teilnehmer*innen spiegelt in Wort und Bild ihre individuelle Situation in dieser Zeit wieder.

Dem Kind fehlte nun nur noch ein Name. Bei meiner Namenssuche schließt sich der Kreis und ich gelangte wieder zur Musik: das dunkle, dystopische Lied „Days Gone“ von Mind Against stand (Namens-)Pate. Es passt sogar im doppelten Sinne, Melodie wie Titel harmonieren für meine Wahrnehmung famos mit der Idee der Serie. Zeitgleich bildet das Lied nun einen wunderbaren Kontrast zu den Antworten der bisherigen Teilnehmer*innen, die dieser Zeit trotz allem auch viel Positives abgewinnen können.

Mit zunehmender Projektdauer und ebenso mit den zunehmenden Lockerungen der Beschränkungen modifizierte sich auch der Inhalt dieser Serie. Mit dem Fokus auf dem Thema „Soziale Isolation und dem Umgang der Menschen damit“ gestartet, entwickelte sich „Days Gone“ zu einer Bestandsaufnahme, wie Menschen zu Zeiten von Corona leben.

Portrait

Buch und KopfhörerPerson mit Schallplatte

Die Möglichkeit, eine Serie wachsen und sich entwickeln zu lassen, ihr während des Arbeitens an ihr den Freiraum einzugestehen, sich zu verändern, war (und ist) neu für mich. Es ist vielleicht meine spannendste persönliche Erkenntnis durch dieses Projekt.

Aber nicht nur am Inhalt der Serie änderte sich etwas während des Prozesses, auch bei der Herangehensweise justierte ich nach: Während anfangs alle Teilnehmer*innen nach Aufrufen auf unserer Webseite und soziale Medien auf mich zukamen, wuchs mit zunehmender Dauer mein Wunsch, Personen aktiv zu kontaktieren. Ein langes, intensives Gespräch bei einer Teilnehmerin bestärkte mich dann vollends in der Idee, dass gerade dieser Mix spannend sein könnte.

Zumal sich meine Hoffnung, dass sich durch die gestreute Suche im Internet auch Menschen fernab meiner eigenen „Blase“ finden, als Utopie erwies: es kontaktierten mich bisher nur Menschen – unabhängig davon, ob ich sie vorab kannte oder nicht – die mir ideologisch unmittelbar nahe standen, die Standpunkte vertraten, in denen ich mich oft wiedererkannte oder von denen ich viel mitnehmen konnte.

Blick in ein Wohnzimmer von oben

voller AschenbecherPerson mit Zigarette und Glas

Und so sehr ich bewunderte, wie alle Teilnehmer*innen dieser Zeit auch etwas Positives abgewinnen können, so schnell wurde mir dann aber auch bewusst, dass dies am Charakter dieser Serie liegen könnte: Für diejenigen, für die diese Zeit vorwiegend nur etwas Dunkles oder Schreckliches ist, ist die Hürde, dann auch noch an einem Fotografieprojekt teilzunehmen und sich so einer Öffentlichkeit zu zeigen, vielleicht zu groß.

„Days Gone“ half mir (trotz Einschränkungen), die Fotografie, wie ich sie mag und schätze, trotz dieser Zeit in mein Leben zu integrieren und es schenkte mir unheimlich viele, tolle und inspirierende Begegnungen. Vielen Dank dafür allen Beteiligten!

Den weiteren Lockerungen zum Trotz begleitet mich auch weiterhin diese Serie. Einige Portraits finden in den kommenden Wochen den Weg ins Netz. Weitere Treffen sind in Planung. Sollte nach de, Lesen dieser Zeilen Deine Lust, selbst bei „Days Gone“ dabei zu sein, geweckt worden sein oder solltest Du jemanden kennen, der dabei sein sollte, dann schreib mir gern. Ich würde mich sehr freuen!

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