Ausstellung: Fotografie als Migrationsgedächtnis
Seit ihrer Erfindung spielt die Fotografie eine wichtige Rolle bei der Konstruktion des Familienbildes und des Familiengedächtnisses. Es ruft ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Familie hervor. Das Familienfoto ist ein Medium, das das Bild der Familie und ihrer Erinnerung formt. Dies ist im Rahmen des Migrationsprozesses von großer Bedeutung, denn hier besteht das Risiko, sowohl das Familienbild als auch das Gedächtnis sowie kulturelle Aspekte zu verlieren.
Das Familienfoto ist Gedächtnis und Erinnerung: Es zeigt eine Vergangenheit, die von einer Gruppe von Menschen, der Familie, geteilt wird. In der Migrationsgeschichte spielen familiäre Identität und Herkunft eine zentrale Rolle. Die junge – die zweite oder dritte – Generation, die in der vertrauten „Fremde“ geboren wurde, möchte die Orte und Geschichte ihrer Familie entdecken. Warum wohl haben die Eltern ihre damalige Heimat verlassen?
Die nächsten Generationen sind es, die versuchen, die Bilder und Traditionen ihrer Herkunft innerhalb der „neuen Welt“ zu konservieren. In diesem Konstruktions- und Vermittlungsprozess entsteht die Möglichkeit, mit Hilfe der Fotografie ein Familiengedächtnis zu schaffen. Darüber hinaus bestehen Empfindlichkeiten und Bedenken hinsichtlich des Rekonstruktionsprozesses, die dazu motivieren, die Familienbilder als Ideal zu schützen.
In den Bildern von Rosanna D’Ortona, Francesca Magistro und Luisa Zanzani können wir mit dem Philosophen Roland Barthes zwischen den Schöpfer*innen (operator) und den Betrachter*innen (spectator) der Fotografie unterscheiden. Barthes bezeichnet Studium als „eine Art Erziehung (Wissen und Wohlverhalten), die es gestattet, den Operator zu entdecken“.1
Grundsätzlich bedeutet Studium das „höfliche Interesse“ an einem fotografischen Bild. Es zeigt die Absicht der Fotograf*innen. Sie setzen ihre Idee fotografisch um. Die Betrachtenden gehen umgekehrt vor: Sie müssen die Fotografie interpretieren, um die Idee und Absicht dahinter nachzuvollziehen.
Wenn wir vor den Bildern von Rosanna D’Ortona, Francesca Magistro und Luisa Zanzani stehen, sehen wir zusätzlich auch die Kultur des familiären Hintergrunds unterschiedlicher italienischer Regionen. Die Künstlerinnen erzählen uns die Geschichte ihrer Herkunft und rekonstruieren durch ihre Fotografie, Fotoarchive und Objekte ihre eigene, nahe und ferne Vergangenheit. Es ist eine Rückkehr zu ihren Wurzeln, die von Menschen, in diesem Fall von Frauen – ihren Großmüttern – verkörpert werden.
Wie können wir als Betrachtende die fotografische Rückkehr zu den Orten ihrer Kindheit interpretieren? Hier erfährt der Austausch zwischen ihrer eigenen Migrationsgeschichte und unserer Geschichte eine universelle Bedeutung. Als Betrachter*innen sind wir die Fotografinnen selbst. Ihre Geschichte der Migration spiegelt unsere Geschichte. Es spielt keine Rolle mehr, wo man geboren wurde.
D’Ortonas, Magistros und Zanzanis Italienbilder werfen die Frage auf, welche Rolle die Fotografie bei der dynamischen Konstruktion der Erinnerung spielt. Im Kontext der aktuellen historischen und politischen Entwicklung haben ihre Italienbilder eine universelle Bedeutung für die Konstruktion unserer Identität und unseres kollektiven Gedächtnisses. Als Betrachter*innen sind wir aufgerufen, uns aktiv einzubringen, um dies zu ermöglichen.
Informationen zur Ausstellung
Italienbilder von Rosanna D’Ortona, Francesca Magistro und Luisa Zanzani
Eröffnung: 15. September 2019, 15 Uhr
Zeit: 16. September – 27. Oktober 2019
Ort: Projektraum Fotografie, Huckarder Straße 8–12, 44147 Dortmund
1 Roland Barthes, Die helle Kammer. Frankfurt am Main 1985. S. 37. Titelbild: Rosanna D’Ortona