27. Februar 2019 Lesezeit: ~9 Minuten

Der zerbrochene See

Ich habe in der Vergangenheit viel über eine Szene nachgedacht, die Stanislaw Lem ganz nebensächlich im ersten Abschnitt seines Science-Fiction-Romans „Fiasko“ beschreibt. Ein Arbeiter auf einem Saturnmond ist dort gezwungen, vor seiner notfallbedingten Schockfrostung eine grenzenlos bizarre Szenerie aus Eis zu betrachten.

Viele Gedanken gehen ihm dabei durch den Kopf – aber eine zentrale Idee dreht sich um die Tatsache, dass die Natur die großartigsten Kunstwerke weit abseits bewohnter Gebiete hervorbringt. Dabei gebiert sie eine Vielfalt Formen und Impressionen, die alle menschlichen Künstler*innen vor Ehrfurcht erblassen lassen – und ist trotzdem frei von jedweder Eitelkeit, diese Gebilde zur Schau zu stellen.

Diese Gedanken begleiten mich seitdem auf vielen Reisen – ob in den Grotten von Postojna, zwischen den Dünen der Sahara oder vor den Eisbergen von Ilulissat. Stets ist es der Mensch, der einen weiten Weg auf sich nehmen muss, um die Wunder der Natur betrachten zu dürfen. Nie biedert sich die Natur mit ihren Werken bei uns an. Sie kreiert, ohne nach Publikum zu fragen – und zerstört, ohne nach Dauerhaftigkeit zu streben.

Doch nun zur Fotografie. Als Landschaftsfotograf steht man oft vor der Frage, wie weit zu gehen man bereit ist, um seine Motive zu finden. Zum Glück ist es nicht notwendig, wie in Lems Roman einen Saturnmond aufzusuchen, denn auch auf unserem Planeten finden sich Plätze voll überbordendem, visuellem Reichtum und Schönheit.

Als ich im Alter von 18 Jahren zusammen mit einem Freund den Skierfe am Rand des Sarek-Nationalparks bestieg und im Abendlicht den unglaublichen Ausblick auf die schlangenartig verästelten Arme des Flusses Rapaälv genießen durfte, wusste ich: Der Weg in die Natur lohnt sich und belohnt mich – immer.

Gletscher

Der Russell-Gletscher

Seit ich zum ersten Mal Bilder des Russell-Gletschers in der Nähe von Kangerlussuaq (Grönland) gesehen habe, übte er eine geradezu magische Anziehungskraft auf mich aus. Mystische Kathedralen aus Eis, verborgen in der Einsamkeit des grönländischen Hinterlandes – das verhieß intensive Inspiration und interessante Motive.

Im Winter 2012/13 fasste ich den Beschluss, nicht länger zu warten und meinen Vorstellungen und Träumen wirklich Erlebtes hinzuzufügen. Als ich dann im Februar 2013 bei Temperaturen zwischen -30 °C und -40 °C meine ersten Begegnungen mit dem Gletscher hatte, wurden meine Erwartungen nicht enttäuscht, sondern übertroffen.

Der Russel-Gletscher ist für grönländische Verhältnisse sehr gut zu erreichen. Es führt nämlich die längste Straße Grönlands an ihm vorbei. Das Attribut „längste Straße“ mag opulent klingen, in der Tat handelt es sich um einen ca. 35 km langen Schotterweg von Kangerlussuaq zum Point 660 am Inlandeis.

Er wurde um das Jahr 2000 von der Firma Volkswagen erbaut, denn der Autokonzern betrieb über wenige Jahre an einer mehr als 100 km innerhalb des Inlandeises gelegenen Stelle ein Testgelände für seine Fahrzeuge – abseits von Industriespionage und neugierigen Blicken unbefugter Fotograf*innen.

Der Autohersteller hat das Testgelände Mitte der 2000er Jahre aufgegeben, aber die Straße existiert weiterhin und stellt momentan den einzigen befahrbaren Weg zum grönländischen Inlandeis dar. In Kangerlussuaq lässt sich abseits der regelmäßig stattfindenden Ausflüge per Unimog-Vehikel relativ unkompliziert ein Allrad-Transfer zu den interessantesten Stellen organisieren.

Dabei ist es notwendig, den Transfer bei einer Firma zu buchen, die für das Gebiet eine offizielle Zulassung besitzt, sonst wäre an der massiven Schranke, die jenen Bereich des Hinterlands, der als Naturschutzgebiet deklariert ist, abriegelt, das Ende der Tour erreicht.

Eisberge

Eisberge

Der See

Nun ist es so, dass auch der Russell-Gletscher wie fast jeder Gletscher der Erde seit einigen Jahren den global steigenden Temperaturen Tribut zollen muss. Daher erreicht er nicht mehr seine volle Größe; Einheimische beteuern, dass die Gletscherzunge in den vergangenen Jahren etwa ein Drittel ihrer Höhe eingebüßt hat.

Und auch seine Ausdehnung reicht gerade an den Flanken nicht mehr bis zum früheren Maximum – zwischen dem Gletscher und seiner nördlichen Seiten- und Endmoräne klafft eine Lücke von mehreren hundert Metern. In diese freie Fläche fließt im Sommer Schmelzwasser ein und staut sich zu einem kleinen See, der zum Winter hin selbstverständlich zufriert.

Doch der Gletscher schiebt sich auch im Winter weiter – eine Aussage, die ich bezüglich der Geschwindigkeit erhielt, ging in die Richtung von bis zu 30 cm pro Tag. Durch den Druck und die gewaltige Reibung am Grund des Gletschers entsteht Wärme, die das Eis dort schmelzen lässt, was wiederum wie ein Schmiermittel wirken mag und die Bewegung des Gletschers begünstigt.

Durch das Nachrücken des Gletschereises wirkt im Winter auf die Eisdecke des gefrorenen Sees ein gewaltiger Druck in horizontaler Richtung. Dieser Druck schiebt die Eisdecke des Sees gegen die Moränen, wo die Bewegung gestoppt wird. Da das Eis des Sees nicht mehr weichen kann, wird es an den Kanten nach oben gebogen, aufgefaltet und ineinander geschoben. Dabei entstehen bis zu 15 m hohe Skulpturen aus Eis, die ich bei meinem ersten Besuch im Februar 2013 bereits ausgiebig bewundern durfte.

Eisgebilde

Eisgebilde

Im Kristallgarten

Als ich im Februar 2014 zum Russell-Gletscher zurückkehrte, hatte ich natürlich insgeheim gehofft, dass sich das Phänomen des vertikalen Sees in diesem Jahr wiederholen und mich wieder diese Fülle faszinierender Formen erwarten würde. Aber auch in diesem Jahr hat mich das, was ich vorgefunden habe, überrascht. Denn zu meinem großen Erstaunen war die Faltung des Sees noch ausgeprägter und vielfältiger als im Jahr zuvor.

Ich möchte an dieser Stelle keine Rückschlüsse über eine jährliche Entwicklung ziehen, denn das gesamte Ensemble war auch in der kurzen Zeitspanne meiner Anwesenheit komplett „im Fluss“: Während an einem Tag eine riesige Skulptur einstürzen und in tausend kleine Teile zerbrechen konnte, war es möglich, dass sich das Eis an anderer Stelle über Nacht zu einem neuen Kunstwerk aufwarf.

Diese Dynamik machte sich auch anderweitig bemerkbar: Obwohl ich die Zeit am Gletscher völlig allein verbrachte, war ich von andauernden Geräuschen umgeben. Die ständigen Spannungen im Eis entluden sich oft binnen weniger Minuten als lauter Knall, bisweilen gefolgt vom Poltern rutschender Eisbrocken oder einstürzender Eistürme.

Diese permanente Demonstration von Entstehen und Vergehen hatte natürlich zur Folge, dass man selbst ohne Unterbrechung auf der Hut sein musste, um nicht als Teil der Vergänglichkeit von herunterfallenden Eisbrocken erschlagen oder gar von einer Spalte im Eis verschluckt zu werden.

Doch zunächst galt es, ganz banale Hindernisse zu überwinden: Da in diesem Jahr auf der Eisdecke fast kein festgefrorener Schnee lag, musste ich mir vor dem Aufbruch in die „Zone“ unbedingt Spikes für meine Stiefel besorgen, um nicht regelmäßig selbst in die Horizontale zu gehen.

Eisfläche

Eisgebilde

Trunken von den Einrücken der imposanten Eiswände und in der Sonne schillernden Türme und Gipfel dauert es einige Zeit, bis ich mich auf die Details zu fokussieren vermochte. Doch wie bei meinen Begegnungen mit den Kindern der Eisberge vor Ilulissat bringt auch hier das Eintauchen in die Welt der kleinen Eisjuwelen ungeahnte Schätze zum Vorschein. Einer Interpretation dieser Formen scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein.

EisEis

Am späten Nachmittag hatte sich die Sonne zeitweise hinter eine Wolkenbank zurückgezogen. Mein Weg war durch große Eistrümmer blockiert und ich musste mich im oberen Bereich einer Geröllhalde weiter vorarbeiten. So ergab sich die Gelegenheit zu einer Übersichtsaufnahme eines großen Teils der Szenerie.

Alle auf dem folgenden Bild sichtbaren Hügel gehören zur ausladenden Moräne der nördlichen Flanke des Russell-Gletschers. Es ist schön zu sehen, wie die teilweise deutlich über einen halben Meter dicke Eisdecke des Sees am Hang der Moräne nach oben gebogen wird, bricht und sich ineinander schiebt.

Gletscher

Das gedämpfte Licht des langsam herabsinkenden Abends verwandelte die Szenerie des vorher noch gleißenden Kristallgartens in eine zwischenweltliche Zone jenseits allen realen Empfindens von Zeit und Raum. Im Labyrinth aus Eis zeigten sich ständig neue Formen in überraschenden Schattierungen und Blautönen.

Begleitet von den Klängen des wandernden Eises und dem Kratzen der Spikes auf der oft spiegelglatten Eisfläche suchte ich meinen Weg, vorbei und hindurch zwischen erstarrten Eiseruptionen, chaotisch aufgetürmten Bergen und im Zwielicht durchscheinenden Eisflächen, deren Zeichnung wie urzeitliche Gemälde eines fremden Planeten erschienen. Bisweilen erschrak ich, wenn in meiner Nähe aus unersichtlichem Grund wieder einmal Steine die Geröllhalde herabrollten. Doch ich blieb in der Zone allein.

Eisgebilde

Polarlichter über einer verschneiten Landschaft

Als Stunden später die Scheinwerfer des Geländewagens aus der Ferne durch die Finsternis der unendlichen Nacht schnitten und mich der Fahrer vom vereinbarten Rendezvouspunkt in den 500-Seelen-Ort Kangerlussuaq zurückbrachte, klang die Berührung einer fremden Welt noch lange nach.

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