The Big Boda Boda Book – Alltag in Uganda
„Das geht sich nicht aus“, denkt sich der Neuankömmling, der sich zum ersten Mal auf dem Rücksitz des Motorrads durch das Verkehrsgewühl in Kampala bewegt. „Das geht sich nicht aus“ und presst die Knie fest zusammen, möchte sich schmäler machen, um der scheinbar unvermeidlichen Kollision im dichten Stadtverkehr zu entgehen.
„Das geht sich nie im Leben aus“ und über der Verkehrshölle kreisen Marabus – aas- und müllfressende Vögel, die aussehen wie gealterte übergewichtige Störche mit Doppelkinn. Der vorhersehbare Zusammenstoß findet dann doch nicht statt; zwischen Autos, Lastwägen, Fahrrädern und Schlaglöchern finden die Motorräder auf wundersame Weise ihren Weg.
Am Anfang steht der Nervenkitzel. Boda Bodas – die Motorradtaxis Ugandas – sind einfach überall. In der Hauptstadt Kampala sind sie der einzige Weg durch den zum Ersticken dichten Verkehr, auf dem Land brettern sie über holprige Staubpisten. Helme sind ebenso selten wie Fahrdienste mit Führerschein und alle in Uganda haben ihre eigenen spektakulären Boda-Boda-Erlebnisse zu erzählen.
Dann kommt die Neugier: Wir wissen so wenig vom Leben in Subsahara-Afrika – jenseits von Kriegen, Korruption und Katastrophen oder jenseits von romantischen Safari-Klischees. Wir haben keine Ahnung, wie Millionenstädte auf diesem Kontinent funktionieren – und davon gibt es mehr als drei Mal so viele wie in Europa. Und wenn uns klar wird, dass es in den meisten afrikanischen Städten kaum Jobs gibt, wie wir sie kennen, dann wird uns auch klar, dass wir keine Vorstellung davon haben, wie Menschen dort ihren Lebensunterhalt verdienen.
Das waren die Überlegungen, die am Anfang von „The Big Boda Boda Book“ standen. Boda Bodas sind in Uganda schlicht unübersehbar, sie sind so allgegenwärtig wie lauwarme Cola, Sportsman-Zigaretten und Waragi-Gin – das sind die drei Produkte, die es in jedem noch so kleinen Laden auch im abgelegensten Ort zu kaufen gibt. Und Boda Bodas sind nicht nur viele, sondern auch wichtig: Wenn man junge Menschen in Uganda fragt, was sie einmal machen möchten, dann ist Motorradfahren ihr Karriereziel.
Boda Bodas bieten hier eine der wenigen Zukunftsperspektiven. Studien der Magerere-Universität zufolge leben bis zu zwei Millionen Menschen von der Branche – das sind fünf Prozent der Bevölkerung (Händler*innen, Mechaniker*innen, Schildermaler*innen eingerechnet). Zum Vergleich: in westeuropäischen Staaten leben fünf Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft.
Frauen auf Motorrädern sind nach wie vor selten: In den zwei Monaten, die wir durch Uganda gezogen sind, haben wir nur eine Fahrerin kennengelernt. Aber sie sind langsam auf dem Vormarsch; es ist auch in Uganda zumindest nicht mehr undenkbar, dass Frauen – die ohnehin sehr viel arbeiten – so auch ihr Geld verdienen.
Mit Boda Bodas wird alles tranportiert: Familien, Kinder auf dem Weg zur Schule, ganze Bettgestelle, hoch gestapelte LKW-Reifen, lebende Ziegen, Särge – oder wenn gerade kein Sarg zur Hand ist: Tote auf ihrem letzten Weg – feierlich bekleidet und eingeklemmt zwischen Fahrdienst und Begleitperson.
Das gäbe spektakuläre Bilder von vollgepackten Motorrädern. Was uns allerdings mehr interessiert hat, war die Frage, wie die Branche funktioniert, wie die Fahrdienste ihr Geschäft finanzieren und ihre Familien erhalten, was man braucht, um ins Geschäft zu kommen und welche Marketingstrategien auf den Straßen Ugandas am besten funktionieren.
In „The Big Boda Boda Book“ stecken zwei Jahre Recherchearbeit, davon zwei Monate vor Ort, 50 Interviews und gut doppelt so viele Fotoshootings. Wir haben Fahrer*innen begleitet, sie und ihre Familien besucht und versucht, ein Portrait des Alltagslebens dieser ugandischen Geschäftsleute zu zeichnen.
Das hat auch die fotografische Perspektive bestimmt. Ausgangspunkt war oft die Suche nach schön dekorierten Motorrädern, auffälligen Aufklebern oder Sinnsprüchen auf Auspuff oder Schmutzfänger. Das ist Marketing für die Fahrdienste: Wer ein auffälliges Motorrad hat, hofft so auf mehr Geschäft. Und wer sich in dieser Hinsicht offen zeigt, ist auch gesprächsbereiter, war unsere Hoffnung.
Daraus sind viele Bilder entstanden, die diese Malereien und Verzierungen in den Vordergrund stellen. Wir haben es dabei den Fahrer*innen überlassen, ob sie im Bild sein wollten, sie beim Fotografieren in ein Gespräch verwickelt und meist erst dann um ein Portraitfoto gebeten.
Im Alltag, in Aktion fallen diese vielen Details manchmal gar nicht auf. Fast alle fahren das gleiche Modell: Es sind indische Bajaj-Boxer-Motorräder, die auch gezielt für den ostafrikanischen Markt produziert und vermarktet werden. Sie sind robust und dadurch überaus schwer und nicht besonders leistungsstark: Bei etwa 15 PS bringen sie stolze 250 kg auf die Waage – das ist gut das Doppelte dessen, was vergleichbare japanische Motorräder wiegen.
Neben Aufklebern und Malereien sind bunte Überzüge für Sattel oder Tank, bunte Griffe für die Lenker und eben die Schmutzfänger beliebte Dekorationsvarianten. Schmutzfänger werden aus alten Autoreifen, manchmal auch aus Plastikresten zurechtgeschnitten, bunt bemalt und mit Sprüchen beschriftet. Schildermalereien haben dabei einige Sprüche im Standardrepertoire, am beliebtesten sind aber personalisierte Spezialanfertigungen.
Schmutzfänger sind das Tuning. Wo europäische oder amerikanische Motorradfahrer*innen auf Chrom, hochgezogene Lenkergabeln oder Sportauspuffanlagen setzen, verleiht hier das alte Stück Gummi die individuelle Note. Auch daran hängt eine kleine Industrie: Zahlreiche Menschen verkaufen die Deko-Objekte, rund um Werkstätten oder Waschplätze, die manchmal nur eine seichte Pfütze sind.
Ein zweiter Schwerpunkt in der Suche nach Fotomotiven war der Versuch, das Chaos abzubilden. Im Zentrum Kampalas ist alles dicht gedrängt: Läden wuchern aus Einkaufszentren auf Gehsteige hinaus, dort versuchen auch Straßenhändler*innen, ihren Platz zu behaupten, Fußgänger*innen bewegen sich dazwischen, weichen auf die Fahrbahnen aus, gehen zwischen Autos, die sich meist ohnehin nur im Schritttempo bewegen können – und dazwischen schlängeln sich Boda Bodas durch das Gewühl.
Der Old Taxi Park, an dem sich Matatus, die Sammeltaxis Ugandas, um Fahrgäste bemühen, ist ein unübersehbares Gedränge von Minibussen. Der fremde Beobachtende kann sich kaum vorstellen, wie ein Bus seinen Weg hier herausfinden soll. Ampeln gibt es in Kampala erst seit 2017, sie werden noch immer eher nur als unverbindliche Empfehlungen empfunden.
An jeder Kreuzung drängen sich Pulks aus Motorrädern in langsamer, aber unaufhörlich fließender Bewegung an stehenden Autokolonnen vorbei. Manchmal geht gar nichts mehr; wenn die letzte Lücke verstopft ist, gibt es auch für Motorräder kein Durchkommen mehr.
Gerade weil die Mengen so allgegenwärtig sind, ist es schwer, sie ins Bild zu rücken. Wir haben vom Straßenrand aus fotografiert, vom Rücksitz eines Boda Bodas im Gedränge, von den Balkonen der Einkaufszentren, sind auf Laternenmasten geklettert, um eine passende Perspektive zu finden.
Das meiste Kopfschütteln habe ich erregt, als ich mich in der Mitte eines Kreisverkehrs auf die Reste einer Verkehrsinsel gekniet habe, um einen passenden Blick auf die sich heranwälzenden Kolonnen zu erwischen. Es hat nur kurz funktioniert, weil dann die Menschen verwundert stehengeblieben sind, um herauszufinden, was der seltsame Typ hier mitten auf der Straße auf dem Boden macht. Aber bis dahin sind es gute Bilder geworden.
Die dritte Art von Bildern, die wir gesucht haben, erzählen von den langen Tagen auf dem Motorrad, vom Warten und vom Leben auf und von der Straße. Boda-Boda-Fahrer*innen essen auf ihren Motorräden oder machen zwischendurch ein Nickerchen. In kleinen Städten cruisen sie einmal rund um den Marktplatz, tauschen Neuigkeiten aus und warten weiter. Im Verkehrsgewühl oder auf steinigen Feldwegen stehen Motorräder für Anspannung, Stress, Fahrkönnen.
Tunen und Dekorieren bedeutet Coolness, die Fahrer*innen posen und üben sich in Selbstdarstellung. Dazwischen passiert aber oft gar nichts. Man wartet auf Kundschaft, sucht aussichtsreichere Plätze, belagert die Ausgänge von Busbahnhöfen oder Fährhafen, um Passagiere abzupassen – und wartet dann weiter.
Das waren die besten Momente, um mit Fahrer*innen ins Gespräch zu kommen, um mehr über die Organisation der Boda-Boda-Branche zu erfahren, über Verdienstmöglichkeiten, Träume und persönliche Geschichten. Wir haben einige von ihnen Zuhause besucht, ihre Familien kennengelernt und sehr persönliche Portraits gesammelt.
Die Summe sind Bilder und Geschichten von Hoffnung und Resignation zugleich, von Aufbruch und Abwarten. Die Beschäftigung mit Boda Bodas als einem Alltagsphänomen lehrt viel über Uganda als ein Beispiel für Subsahara-Afrika. Es ist leicht, hier ein Auskommen zu finden, wenn es ums Überleben geht. Es ist aber sehr schwer, ein geordnetes Leben mit Bildungs- und Zukunftschancen für die Kinder zu führen. Essen, ein Dach über dem Kopf – das lässt sich leicht verdienen. Teuer wird das Leben, wenn Schulgelder oder Arztkosten bezahlt werden müssen. Auch das Reisen, sogar innerhalb des Landes, ist für viele Menschen ein Luxus.
Junge Menschen investieren viel ins Aussehen und die Ausstattung ihrer Motorräder. Die älteren sind zurückhaltender. Kaum einer von ihnen hat geplant, zehn Jahre oder länger auf dem Motorrad zu bleiben – für die wenigsten haben sich aber Alternativen ergeben. Mit ihrem Einkommen gehören Boda-Boda-Fahrdienste zur Mittelklasse des Landes, die nicht nur überleben, sondern auch ein wenig konsumieren kann.
Solche unteren Mittelklassen entstehen in verschiedenen Szenen und Branchen an allen Ecken des Kontinents. Sie sind es, die Afrika letztlich entwickeln und verändern werden – sie legen Wert auf Freiheit, auf Ordnung, auf Sicherheit. Sie treten selbstbewusster auf und wehren sich gegen Korruption. Auch das ist eine Geschichte, die sich durch „The Big Boda Boda Book“ zieht, eine Geschichte, mit der wir neue Bilder zeichnen möchten, was sich in einem den meisten Europäer*innen so unbekannten Kontinent tut.