Diverse Dinge vor weißem Hintergrund.
16. November 2018 Lesezeit: ~7 Minuten

Interview: Below the Surface – Fundstücke als Bild

In Amsterdam ergab sich eine Möglichkeit, die fürwahr selten ist: Die Möglichkeit, eine Reise durch die Zeit zu machen. Wenn diese Situation sich also ergibt, benötigt man die richtigen Methoden und bestenfalls fachkundige Unterstützung, um alles entsprechend aufzuzeichnen und zu dokumentieren. Im folgenden Projekt möchten wir Euch eine Situation zeigen, in der all dies zusammenkam.

Mitten im Amsterdam beginnt die Reise. Dort bestand die Option, sehr tief in die Stadtgeschichte und somit auch die Geschichte von Veränderungen hineinzugraben – im wahrsten Sinne des Wortes. Durch Veränderungen in der Infrastruktur, genauer gesagt Umbauten am U-Bahn-System der Nord-Süd-Linie, die zufälligerweise die Amstel unterläuft.

Da Wasserwege generell interessante Fundorte sind, durch alles, was sie mit sich führen, werden sie dies natürlich noch umso mehr, wenn man die Option hat, eine Stelle vom Wasser zu befreien, um die Sedimente und Ablagerungen samt aller verlorenen und weggeworfenen Fundstücke zu untersuchen. Durch die Jahrhunderte hinweg lagert sich hier einiges Spannendes an.

Diverse Dinge vor weißem Hintergrund.

Die Stadt engagierte Archäolog*innen und einen Fotografen, um die während der Arbeit freigelegten Fundstücke zu analysieren und visuell festzuhalten. Tausende Objekte, verlorene, weggeworfene oder vergessene persönliche Gegenstände und Zeichen von historischer und materieller Veränderung können nun auf Below The Surface untersucht werden.

Wir hatten die Möglichkeit, mit Jerzy Gawronski, Leiter der Stadtarchäologie von Amsterdam, und Harold Strak, dem Fotografen, ein E-Mail-Interview zum Projekt im Hinblick auf Fotografie und Archäologie zu führen. Denn auch die Archäologie ist – wie die Fotografie – ein möglicher Weg, um Dinge festzuhalten und zu begreifen.

Drei Personen in orangen Westen unter der Erde

Danke, dass Ihr Euch die Zeit für dieses Interview nehmt! Jerzy, würdest Du uns eine kurze Einführung in das Projekt „Below the Surface“ für unsere Leserschaft geben?

Das archäologische Projekt war Bestandteil der Tiefbauarbeiten an der Metro. Die archäologischen Arbeiten konzentrierten sich hierbei auf Grabungen im historischen Stadtzentrum von Amsterdam: die Central Station, Station Damrak und Station Rokin. Die Bauarbeiten fanden im Flussbett der Amstel statt, die durch die Innenstadt fließt.

Die archäologische Arbeit in diesem Metro-Bauprojekt war tatsächlich die archäologische Untersuchung eines Flussbetts, das als Bewahrer verlorener Objekte und weggeworfenen Mülls aufschlussreich ist. Das Flussbett bot uns eine extrem hohe Anzahl Fundstücke (zirka 700.000), die urbanes Leben in all seinen Facetten von jüngster Zeit an aufzeigen. Das Projekt dauerte insgesamt von 2003 bis 2018. Ausgrabungen wurden dabei in der Zeit von 2003 bis 2012 durchgeführt.

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Wann kam es zur Entscheidung, mit einem Fotografen zusammen zu arbeiten und „Below the Surface“ für die Öffentlichkeit zu realisieren?

Fotografie ist generell in der Archäologie wichtig für die Dokumentation der Arbeit und der Fundstücke. Bei diesem Projekt haben wir die Fotografie auch als wichtiges Instrument für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit betrachtet. Wir wollten verschiedene Wege nutzen, über das Projekt zu sprechen. Zumal dies auch zu den Zielen öffentlicher, städtischer Projekte gehört. Einer der Wege war die Nutzung hochqualitativer Fotografien der Fundstücke.

Drei Personen in orangen Westen unter der Erde

Harold, würdest Du uns kurz etwas über Dich erzählen sowie über die hauptsächlichen Themen innerhalb Deiner Fotografien oder in Bezug auf Deine fotografische Auseinandersetzung?

Ich bin Fotograf und lebe in Amsterdam. Meine Hauptthemen sind Stillleben, Innenräume und ab und an auch Landschaften. Portraits mag ich ebenfalls gern, doch meine Schüchternheit hält mich davon ab, tiefer in diese fotografische Richtung einzutauchen. Ich bin ein sehr präziser Charakter und investiere viel Aufwand in die Fotografie als Handwerk. Häufig bin ich zudem beim Drucken von Arbeiten anderer Fotograf*innen sowie für Ausstellungsdrucke und Bücher beteiligt.

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Harold, wenn man sich Deine Webseite anschaut, sieht man, dass Du bereits vor „Below the Surface“ an der Schönheit von Fundstücken interessiert warst. Bist Du früher in ähnlichen Projekten eingebunden gewesen?

Nie zuvor war ich an ähnlichen Projekten beteiligt. Die Fundstücke, auf die Du Dich beziehst, sind in der Tat Fundstücke, jedoch eines ganz anderen Ursprunges. Die Schwarzweißaufnahmen sind Überreste von Insekten, die ich in der Nähe von Spinnennetzen gefunden habe und in düsteren Ecken – alle innerhalb meines Studios. Alle waren in Spinnfaden eingewickelt oder was davon übrig war. Diese Serie wurde 2011 auch im Buch „Arthropoda“ publiziert.

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Jerzy, gemeinsam mit P. Kranendonk, dem Projektmanager Archäologie der Nord-Süd-Linie, hast Du über den gesamten Prozess des Projekts geschrieben. Die besondere Konstellation zwischen „dem Fluss“ und „der Zeit“ fällt dabei besonders auf. Was können wir durch diese Zeitschichtungen entdecken?

Der Fluss verhält sich wie ein Reservoir für unsere materialistisch geprägte Kultur und zeichnet somit zugleich ein historisches Bild von Amsterdam durch die Jahrhunderte. Mit Fundstücken von 1150 bis in die heutige Zeit, da ein Fluss beinahe alles enthält, was das alltägliche Leben, die Stadt und die urbanen Funktionen in seiner Nähe widerspiegelt. Die tiefsten Schichten des Flusses enthielten Material von vorstädtischen, vorgeschichtlichen Zeiten an diesem Ort.

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Harold, da Fotografie und Archäologie für dieses Projekt eine große Rolle gespielt haben, was sind Deiner Meinung nach die Gemeinsamkeiten oder Vorteile, beide zusammenzubringen?

Ich denke, Fotografie ist ein großartiger Weg, um die Sichtbarkeit archäologischer Fundstücke zu verbessern. Nicht nur dadurch, dass sie die Dinge durch die Reproduktion für alle sichtbar machen kann, aber auch – vielleicht sogar mehr noch, da Fotografie buchstäblich die Bestandteile visualisieren kann. Beispielsweise bringt sie mehr Detailtreue in dunkle oder verschmutzte Objekte. Die realen Objekte verharren in der Realität, Fotografie kann die Realität überwinden – zum Vorteil unserer visuellen Wahrnehmung.

Drei Personen unter der Erde.

Betrachten wir nun Archäologie und Fotografie genauer. Wo überschneiden sich die beiden Prozesse in Euren Augen?

Harold: Auf jeden Fall befassen sich Fotografie und Archäologie beide mit der Zeit. Und dem Tod. Beide machen etwas konkret, was einmal war und nicht mehr ist. Sie lassen uns über die Vergangenheit staunen und erregen unsere Fantasie, während wir versuchen, sie zu begreifen. Der Unterschied ist, dass Archäologie die Vergangenheit konserviert und Fotografie die Gegenwart. Aber ach!, für die Fotografie springt die Gegenwart in die Vergangenheit im Moment der Bildaufnahme. Archäologie ist eine Wissenschaft, Fotografie ein Werkzeug.

Jerzy: Im visuellen Festhalten und Analysieren der Fundstücke.

Eine verrostete Filmdose

Man findet auch einen Kleinbildfilm, wenn man durch die Fundstücke klickt. Hat jemand versucht, diesen Film zu entwickeln?

Harold: Ich denke nicht.

Jerzy: Die Filmrolle gehört als Fundstück zu den archäologischen Objekten und muss wie sie vorgefunden worden ist, konserviert werden. Daher ist eine Entwicklung nicht möglich.

Vielen Dank für Eure Zeit und Antworten!

Zum Projekt ist ein Buch mit dem treffenden Titel „Stuff“ entstanden, das insgesamt 11.279 Fotografien von Harold Strak enthält und bei Van Zoetendaal / De Harmonie verlegt wird. Das obige Video zeigt den Entstehungsprozess des Buches. Zudem gibt es auf der Webseite diverse spannende Hintergrundinformationen und die Möglichkeit, selbst mit den Fundstücken kreativ zu werden. Ein Teil der Fundstücke kann in der Station Rokin auch in echt bestaunt werden.

Dieses Interview wurde von unserer Redakteurin Tabea Borchardt in Englisch geführt und anschließend übersetzt.

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