Einblick in die armenische Fotoszene
In Armenien fallen Portfoliopräsentationen anders aus: Unter einem Apfelbaum in der warmen Novembersonne zeigt mir Ed Tadevossian Arbeiten aus seiner Moskauer Zeit. Kleine Aluplatten zwischen gefallenen Blättern und einigen Äpfeln zeigen eindrucksvolle Schwarzweißportraits. Sieben Jahre verbrachte Ed in Moskau, bevor er im Sommer 2016 wieder in seine Heimat Armenien zurückkehrte.
Auf den ersten Blick erinnert der 35-jährige Fotograf an Jesus, wobei der Aufenthalt im ersten christlichen Land der Welt diese Assoziation nahelegt. Voller Leidenschaft und mit einem unglaublichen Perfektionismus sieht sich Ed Tadevossian als zukünftiger Dokumentarfotograf seiner Heimat Armenien, ganz in der Tradition seines Vorbilds Gagik Harutyunyan, der in der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion das Leben in Armenien dokumentierte.
In Moskau arbeitete Ed in der Druckerei seines Bruders. Zurückgekehrt, um seine Mutter zu unterstützen, erwirbt er einige Apartments, von deren Mieteinkünften er heute lebt und sich als Autodidakt täglich der Fotografie widmet. Er ist somit in seiner Fotografie völlig unabhängig und kann seinen Interessen folgen.
Am ersten Tag unserer Begegnung führt er mich durch sein Yerevan und damit beginnen zwei Wochen einer fotografischen Symbiose. Natürlich ist es für einen Reisenden wie mich hilfreich, mit den Orts- und Sprachkenntnissen eines Armeniers unterwegs zu sein und gerade als Fotograf versuche ich, eigene, neue Perspektiven zu finden. Dabei zeigt sich, dass meine Suche nach Motiven auch Ed neue Blickwinkel ermöglicht.
Die meisten Tourprogramme für Urlaubsgäste preisen Armeniens Klöster und die heiligen Denkmäler des ersten christlichen Landes an. Ich sitze lieber mit Ed im Wagen eines Freundes und lasse mir das Bjurakan-Observatorium zeigen. Es beginnt das, was ich an Armenien liebe: Das Entdecken von Orten jenseits der Ströme von Urlaubsgästen in einer Region der Welt, die noch viele unentdeckte Plätze bietet und auf eine Art und Weise, die das Reisen so unkonventionell und spannend macht.
Am Fuß des Aragaz’ steht das bis in die achtziger Jahre hinein größte Spiegelteleskopareal der Welt. Als Geschenk Hitlers an Mussolini gedacht, findet sich auch ein Spiegelteleskop aus Deutschland. Erbeutet von den Sowjets, setzte sich der armenische Astrophysiker Viktor Hambarzumjan nach dem Zweiten Weltkrieg für diesen Standort ein. Verfallene Werkstätten und kaputte Fassaden lassen kaum vermuten, dass noch in die Sterne geschaut wird.
Aber für Ed und mich ist es ein fotografisches Highlight. Der Zutritt zum verlassenen Radioteleskop ist eigentlich untersagt, doch mit etwas Zureden und der Tatsache, dass ein deutscher Fotograf dabei ist, bekommen wir schließlich doch Zutritt. Eine eigenwillige Kulisse eröffnet sich, die unweigerlich an James-Bond-Filme denken lässt.
Yervans Randbezirke sind geprägt von grauen Betonklötzen. Während Ed und ich auf Fotojagd in diesen Vierteln sind, treffen wir auf Valeri. Er erinnert mich mit seinem machohaften Auftreten an einen alternden James Bond. Der 72-Jährige drängt mich in seine kleine Dreizimmerwohnung, vollgestopft mit einer Sammlung Pferde-Figuren. Er preist seinen selbstgebrannten Wodka an und berichtet voller Stolz von seiner jungen Liebe, deren Portrait er mir auf seinem Handy zeigt.
„In meinem Alter, alles rein platonisch“, zwinkert mir der alternde Playboy von Masif No. 1 zu. Auch das Viertel Kvartal am Stadtrand von Yerevan fasziniert durch klobige Hochhausbauten aus der Sowjetära. Der ärmliche, marode, aber auch mich irgendwie faszinierende Brutalismus ist für Ed die normale alltägliche Umgebung. Gebäude mit Tausenden Wohneinheiten und den damit für mich verbundenen einzelnen Lebensschicksalen werden in dem Moment für Ed spannend, als er merkt, wie sich mit einem deutschen Fotografen plötzlich Türen zu den Menschen vor Ort öffnen.
Mein Blick als Außenstehender ist dabei gelegentlich von den typischen Vorurteilen geprägt. Mit Ed an meiner Seite werde auch ich überrascht, als ich erkenne, dass die Hochhausbauten nicht, wie zum Beispiel der Kölnberg, Plätze sozialen Elends sind. Zwar wohnten in den Hochhausschluchten auch ehemalige Bekannte von Ed, die mittlerweile aufgrund von Gewalttaten im Gefängnis sitzen, aber genauso erzählt er mir von dort wohnenden erfolgreichen Armeniern, die mittlerweile in New York Internetfirmen besitzen.
Ed möchte das Alltägliche und Menschliche festhalten und distanziert sich davon, bewusst sozialkritische Themen aufzugreifen. So lädt er mich nach Gyumri ein, um seine Tante zu besuchen, deren Familie seit dem Erdbeben in den Achtzigern in einem Notbehelf wohnt. Er zeigt mir einfühlsame Portraits seiner Tante, mag aber nicht mit einer Zurschaustellung des ärmlichen Lebens spielen. Er möchte nicht reißerisch mit einem sozialkritischen Thema umgehen, sondern den Menschen ihren Stolz und ihre Würde lassen.
Er ist nicht daran interessiert, eine politische Dimension in seine Fotografie zu bringen. Er möchte kein Fotograf von Armut und Elend werden. Eher wirken die Gespräche über Politik mit ihm desillusioniert, aus unterschiedlichen Gründen: Armenien ist ein Land, das nach wie vor mit Korruption kämpft, gebunden an alte christliche Traditionen ist und mit Bergkarabach sowie der Türkei stets an der Schwelle zu neuen Konflikten steht.
In seiner Fotografie fühlt sich Ed ganz der klassischen Reportage sowie dem gut komponierten Bild verpflichtet und fotografiert mit seiner in die Jahre gekommenen Canon fast nur schwarzweiß, ohne große digitale Nachbearbeitung. Gleichzeitig versucht er, als Fotograf bekannt zu werden. Er fotografiert für die Kunstszene in Yerevan Ausstellungseröffnungen, arbeitet als Setfotograf für befreundete Filmschaffende und organisiert eigene Ausstellungen.
Allerdings ist das Fotograf*innenleben in Armenien mit Schwierigkeiten verbunden. Den nächsten einigermaßen guten Druckdienstleister findet man in der Hauptstadt Tiblis im Nachbarland Georgien, die zirka sechs Autostunden entfernt ist. Hochwertige Kamera-Ausrüstung oder Reparaturen bekommt man gar erst in Moskau oder begibt sich direkt nach Europa. Ausstellungen werden oft mit Drucken der eigenen Arbeiten bestückt, die in Paris oder Deutschland gefertigt und von Bekannten mitgebracht werden.
Dies lässt die Szene in Armenien eng zusammenrücken. So schwärmt Ed von der Leidenschaft, die Armen Ter-Mkrtchyan der Fotografie entgegenbringt. Der 1963 geborene Filmwissenschaftler lebt wie Eds Tante in Armeniens zweitgrößter Stadt Gyumri. Ed und ich begleiten Armen zu einigen verfallenen Gebäuden in einem Vorort.
Kurz nach dem Erdbeben 1988, als neue Unterkünfte errichtet wurden, plünderte man installierte Metallleitungen und hatte nicht das Geld, die Bauruinen fertig zu stellen. Hier folge ich dem leicht hinkenden Armen und beobachte ihn dabei, wie er mit einer alten Plattenkamera sich einer knapp hundert Jahre alten Fototechnik widmet.
In seiner kleinen Wohnung in Gyumri erklärt mir Armen anschließend unter einer alten Kristalllampe und zwischen feuchten Wänden das Verfahren, das Rudolf Namias in den Zwanzigern entwickelt hat: die Technik des Resinotyps. Armen macht deutlich, dass für ihn Fotografie zuerst eine Auseinandersetzung mit Licht und Zeit ist. Während Ed und ich unsere Bilder in Millisekunden auf den Chip speichern, versucht Armen, das Licht in seiner Entwicklung und Veränderung einzufangen.
Er legt selbstbeschichtetes Papier in seine Kameraeigenbauten (Formate: 27×35 und 9×12). Dabei beträgt die Belichtungszeit zwischen 15 Minuten und zu mehrere Stunden. Im anschließenden Entwicklungsprozess des Pigmentdrucks können auch Stunden oder Tage vergehen, bis das Blatt mit all seiner Zeichnung ausentwickelt ist. Die auf diese Weise aufgenommenen Fotos wirken atmosphärisch und sind auf ihre Art einzigartig.
Die Technik erhält auch eine tiefere Dimension in Armens Anthropologieprojekt. „Verschwindende“ Portraits von Personen an einem konkreten Ort. Während die konkrete Struktur des Hintergrundes bestehen bleibt, verliert durch die lange Belichtungszeit der Portraitierte seine Klarheit. Für Armen ist das ein Zeichen für die Geschichte bzw. für die Vergänglichkeit einer Person, deren geschaffene Werte nur in der materiellen Form von etwa Gebäuden bestehen bleiben.
Überraschend für mich an dieser Begegnung ist der intellektuelle und formale Ansatz Armens, der mich an mein eigenes Kunststudium erinnerte und mir gleichzeitig vor Augen führte, wie vielfältig und kraftvoll die Fotoszene in Armenien ist.