Zufälligkeit in der Fotografie
Kennst Du das auch? Du guckst die Fotos von der letzten Session durch, es sind ein paar coole Bilder dabei und dann ist da noch so eine Fehlbelichtung. Du überlegst kurz, ob das Bild aussortiert wird, aber irgendwie hast Du Gefallen daran gefunden. Es ist irgendwie zufällig entstanden. Und jetzt ist es irgendwie magisch. Eines kann ich schon einmal vorweg nehmen: Damit bist Du nicht allein.
Der Zufall als Lehrer*in
Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Versuche im Studio einer befreundeten Fotografin. Dieses befand sich in der verlassenen Lagerhalle eines Textilhauses. Zuerst musste man an Hunderten Kleiderständern vorbei, eine schummerige Treppe hoch, an einer alten Dunkelkammer vorbei und dann tat sich eine Spielwiese auf. Im ersten Flackern der Leuchtstoffröhren erschien eine riesige weiße Hohlkehle. Freude machte sich in mir breit. Erst dann realisierte ich langsam all die Möglichkeiten, die das herumstehende Equipment bot.
Blitzköpfe, verschiedene Softboxen, Beautydish, Styropor-Aufheller und -Abdunkler, ein sehr geduldiges Modell und dazwischen ich. Noch keinen blassen Schimmer vom Blitzen, aber (zu) viel Selbstbewusstsein und den Mut, auszuprobieren.
Von den Tausenden Bildern, die ich von diesem aufregenden Tag mitbrachte, war keines dabei, für das ich ganz bewusst einen Lichtformer, eine Blende oder eine Brennweite eingesetzt habe, weil ich wusste, welchen Einfluss sie auf das Bild haben. Ich habe einfach alles benutzt, was da war. Am Ende waren aber doch ein paar Bilder dabei, die ich gut fand. Zufällig.
So läuft es wohl bei fast allen Anfänger*innen. Sofern man nicht direkt einen Kurs belegt, lernt man das Fotografieren über Fehler. Ab und zu entstehen dabei zufällig gute Bilder. Je länger man fotografiert, desto seltener werden die Zufälle und man macht immer bewusster seine Bilder. Man wird von Knipser*in zu Fotograf*in.
Mit den aktuellen spiegellosen Kameras hat man das Endergebnis nun sogar schon vor dem Drücken des Auslösers vor sich im Sucher. Das minimiert die Zufälle weiter und die Fotografie wird kontrollierter und kontrollierter. Und vor lauter Perfektion irgendwann immer langweiliger und langweiliger.
Der Zufall als Kreativtechnik
Spätestens an diesem Punkt ist der Zufall wieder herzlich willkommen. Um aus dem kreativen Tief auszubrechen. Um sich der Fotografie wieder aus einer anderen Richtung zu nähern. Als Gegenpol zur absoluten Kontrolle. Und vor allem, um das inzwischen so gut bekannte Medium wieder für sich interessant zu machen. Weg vom technisch Perfekten, hin zum Emotionalen und Spontanen.
Klar, bei Auftragsarbeiten gibt es meist nicht allzu viel Spielraum für Zufälligkeit. Wer für Geld eine*n Fotograf*in beauftragt, möchte das genaue Gegenteil – Berechenbarkeit. Dennoch lassen sich bei vielen Aufträgen, nachdem die Pflichtbilder sicher im Kasten sind, noch einmal fünf Minuten für ein wenig ausgefallenere Fotos finden.
Dafür gibt es einige Möglichkeiten: abgelaufene oder verrückte (Lomo-)Filme , Spielzeugkameras, Prismen und andere Glasstücke oder Materialien vor dem Objektiv, Doppelbelichtungen, die Sofortbild- oder sogar die Wet-Plate-Fotografie. Sie alle besitzen ein zufälliges Element. Sei es durch Farbverschiebungen, Lichtlecks oder Ungenauigkeiten im Filmmaterial.
Aber nicht nur auf der Seite der Fotograf*innen, auch beim Motiv lässt sich ein wenig Zufälligkeit leicht einbauen. Bei Portraits kann man zum Beispiel die Anweisungen an das Modell bewusst vage formulieren, statt jede kleinste Bewegung zu posieren. Bei der Landschafts- und Architekturfotografie ist man sowieso vom Wetter und damit auch ein wenig vom Zufall abhängig. Aber ist so ein bewusst eingesetzter, gelenkter Zufall noch ein Zufall? Ehrlicherweise habe ich darauf keine Antwort. Vielleicht passt der Begriff „zufälliges Element“ in diesem Zusammenhang besser. Vielleicht nennt man das auch einfach nur Kreativität.
Hab den Mut, den Zufall zuzulassen
Für mich sind Zufälle bzw. Fehler ein fester Bestandteil des Lernens: So lange ausprobieren, bis etwas dabei herauskommt, das einem gefällt und dabei stets reflektieren. Vielleicht ist das nicht die schnellste Methode, aber sie hilft dabei, immer weiterzumachen. Frei nach dem viel zitierten Thomas Edison, der Tausende Wege gefunden hat, wie man eine Glühbirne nicht baut. Dabei hat er bestimmt vieles gelernt, was ihm an anderer Stelle weitergeholfen hat.
Der entscheidende Punkt ist aber, dass er nicht aufgehört hat, neue Prototypen zu entwickeln. Er hat sich zuerst auf den Weg gemacht, um dann auf halber Strecke festzustellen, dass es der falsche war. Ohne loszulaufen hätte er aber die Kreuzung mit dem neuen, anderen und viel schöneren Weg gar nicht entdeckt, der ihn dann ans Ziel gebracht hat.
Die digitale Fotografie lädt geradezu dazu ein, auszuprobieren: Ein Bild kostet kaum etwas, macht man einen Fehler, löscht man das Bild später einfach wieder. Deshalb mein Appell: Lasse Fehler zu! Fehlbarkeit ist menschlich und Menschlichkeit tut den meisten Fotos gut. Bist Du schon ein alter Hase und steckst gerade in einem Winterloch? Geh einfach mal mit Deiner Kamera los und fotografiere drauf los.
Vielleicht suchst Du Dir ein 30- oder ein 365-Tage-Projekt, fängst eine neue Serie an oder holst ein altes Schätzchen aus dem Keller. Leg einfach los. Bist Du noch ganz frisch dabei: Youtube-Tutorials sind nicht alles. Fotografieren lernt man beim Fotografieren. Geh raus in die Welt und fotografiere alles, was Dir vor die Linse kommt. Du wirst bei jedem Foto etwas lernen, sofern Du aufmerksam reflektierst.